Totengericht
Echnatôn, der dem Unterwelts- und Osirisglauben ablehnend gegenübersteht, mokiert sich über die ägyptische Vorstellung vom Totengericht, derzufolge der Tote sein Herz wiegen lassen muss und, wenn es »zu leicht befunden wird auf der Waage«, der Totenfresserin, dem »Hund von Amente«, überliefert wird (V, 1449). Ähnlich kritisch äußert er sich über die Vorstellung, dass die Seele des Toten, bevor sie vor das Totengericht des Usir gelangt, die »Angstgefilde« durchschreiten muss, »sieben mal sieben Gefilde des Schreckens«, in denen Dämonen hausen, »die sie auf Schritt und Tritt nach dreihundertsechzig schwer zu behaltenden Zaubersprüchen verhören«, die sie alle »am Schnürchen haben und aufsagen« muß (ebd.). Da sei das ›Nicht-Glauben‹ doch »beinah glückseliger noch als das Glauben«, so Echnatôn, das habe seine Majestät entdeckt und erfahren, »und an die Angstgefilde und die Dämonen und an Usiri mit seinen gräßlich Benannten und an die Fresserin dort unten glaube ich nicht, ich glaub' nicht dran! Glaub' nicht dran! Glaub' nicht dran!« (V, 1450). Seine Mutter Teje ermahnt ihn, den Glauben des Volkes zu respektieren (V, 1448 f.).
Potiphars greise Eltern, Huij und Tuij, sind unsicher, ob es das Totengericht wirklich gibt. Zwar sei es die Lehre, aber ungewiss, »ob ihr noch volle Gültigkeit zukommt«. Deshalb hat Tuij den »Großen Propheten des Amun« Beknechons »befragt, wie es sei mit der Halle der Rechtsgöttinnen, mit der Waage des Herzens und mit dem Verhör vor dem Angesichte des Westlichen, zu dessen Seiten die zweiunddreißig gräßlich Benannten sitzen.« Aber Beknechons habe nicht »deutlich geredet«, nur gesagt, dass die Lehre »aufrecht« sei, weil alles »ewig aufrecht« sei in Ägyptenland. Also, schließt Tuij, sei es sicherer, sich für alle Fälle darauf einzurichten. »Man muss damit rechnen« (IV, 860). Deshalb versichert sie ihrem »Fledermäuserich«, dass sie, sollte er vor ihr »verseufzen«, sofort eine »Gabe Labkraut« zu sich nehmen würde, um ihm nachzusterben. Denn sie müsse befürchten, dass er seinen Auftritt vor dem Totengericht verpatzen könnte, weil er ab und an »schon etwas dämmrig im Kopf« sei (IV, 860 f.).
Nach ägyptischer Vorstellung müssen sich die Toten, um ins Jenseits zu gelangen, vor dem Totengericht rechtfertigen und ihr Herz wiegen lassen, das (anders als Echnatôn meint) leichter sein muss als die Feder der Ma'at. Näheres bei Assmann I, S. 100-115; vgl. auch die Erläuterungen bei Abb. 1. – TMs Quelle für die Beschreibung des Totengerichts war wohl Erman/Ranke (347 f.). Neben der Darstellung des Totengerichts im Totenbuch des Ani (vgl. Abb. 2) lag ihm auch eine Fotografie des entsprechenden Blattes aus dem Totenbuch der Sängerin Nany vor.
Abb.: (1) Blatt aus dem Totenbuch des Schreibers Hunefer (um 1275 v.Chr.). – (2) Blatt aus dem Totenbuch des Schreibers Ani (um 1250 v.Chr.).