Usir (Usiri, Osiris)
Der Fruchtbarkeitsgott und Gott der Unterwelt ist die ägyptische Entsprechung des Tammuz oder Adonis, »des blühenden Jünglings, den der Eber verstümmelte« (IV, 71). Den Part des ›Ebers‹ übernimmt hier Set, Usirs »tückische[r] Bruder«, der »rote Typhon« (IV, 192), der seinen Bruder Usir »erstens in eine Sarglade gelockt und in den Fluß geworfen, dann ihn aber auch noch wie ein wildes Tier in Stücke gerissen und völlig gemordet hatte, so daß Usir, das Opfer, nun als Herr der Toten und König der Ewigkeit in der Unterwelt waltete« (IV, 21). Den Part der Ischtar, die Tammuz aus der Unterwelt erlöst, spielt hier (mit weniger Erfolg) Usirs Schwester und Frau Eset (Isis).
Die Legende von Usir, Set und Eset wird im Roman in einem Traum Jaakobs von Anup erzählt (IV, 288-293). Danach sind Usir und Eset, Set (Seth) und Nebthot (Nephthys) Geschwister, Kinder der Götter Geb und Nut, und zugleich ehelich verbundene Paare (IV, 290). Eines Nachts zeugt Usir, im Glauben, seine Gattin Eset zu umarmen, mit seiner Schwester Nebthot den Anubis, erst am Morgen bemerken beide ihr »Versehen« und fliehen entsetzt voneinander (IV, 291 f.). Set entdeckt den Ehebruch und verfolgt seinen Bruder, lockt ihn in eine »Lade«, wirft ihn in den Nil und wird so »König aller Länder auf dem Throne Gebs« (IV, 292). Später zerreißt er den toten Bruder in vierzehn Stücke, und Eset, Nebthot und Anup suchen klagend nach den Teilen des Toten, die sie auch finden bis auf eines, »sein heilig Geschlecht, das ganz verloren scheint«. Sie setzen den Körper wieder zusammen, ersetzen das fehlende Teil durch eine »Nachbildung aus Sykomorenholz« und wickeln den Toten. Schließlich empfängt Eset, in der Gestalt eines Geierweibchens über dem Gewickelten schwebend, von dem toten Gatten den Horus, denn, so Anubis, »im Geschlecht ist der Tod und im Tod das Geschlecht, das ist das Geheimnis der Grabkammer, und das Geschlecht zerreißt die Wickelbinden des Todes und steht auf gegen den Tod«. Der träumende Jaakob findet die Geschichte »unflätig«: »Da tut man am besten, zu erwachen« (IV, 293).
Aus dem Geheimnis der ›rollenden Sphäre‹ (vgl. IV, 188-194) und ihrer »Wahrheit, daß Götter Menschen, Menschen dagegen wieder Götter werden können«, geht nach Überzeugung des Erzählers unzweifelhaft hervor, dass Osiris »einst ein Mensch war«, ein ägyptischer König, der dann »ein Gott wurde – mit der beständigen Neigung freilich, wieder zum Menschen zu werden«. Was er zuerst war, Gott oder Mensch, lasse sich nicht sagen, »denn einen Anfang gibt es nicht in der rollenden Sphäre« (IV, 190). Deshalb spreche auch vieles dafür, dass eine erste Einigung des ägyptischen Reiches nicht erst durch den legendären Pharao Menes, sondern schon weit früher durch Set und Usir bewerkstelligt worden sei, was dann auch die Annahme bestätige, dass die Geschichte des Brudermords weniger mit einem Ehebruch zu tun hatte als vielmehr mit Thronstreitigkeiten (IV, 22 f.).
Weiter sei aus den Regeln des »sphärischen Geheimnisses« zu folgern, »daß Usir selbst bereits seine Herrschaft einer Mordtat verdankte und daß ihm als König geschah, was er als Typhon getan« (IV, 191). Denn »vermöge der Drehung« der Sphäre ist »die Ein- und Einerleiheit der Person« durchaus vereinbar mit dem »Wechsel der Charakterrolle«: »Man ist Typhon, solange man in mordbrütender Anwärterschaft verharrt; nach der Tat aber ist man König, in der klaren Majestät des Erfolges, und Gepräge und Rolle des Typhon fallen einem anderen zu« (IV, 191 f.).
Set und Usir sind eine Erscheinungsform des »›großen‹ Mythus« von den ungleichen Brüdern, in dessen Spuren auch die Brüderpaare Kain und Habel, Cham und Sem, Ismael und Isaak, Esau und Jaakob gehen, in denen sich die Geschichte vom ›Roten‹ und ›Glatten‹, vom ›Jäger‹ und ›Hirten‹, vom unrechten und ›wahrhaften Sohn‹ immer neu wiederholt (IV, 200).
Die Ägypter sehen in Usir »den Wohltäter, der sie zuerst im Ackerbau unterrichtet und ihnen Gesetze gegeben hatte, worin er eben nur durch den tückischen Anschlag des Set unterbrochen worden war« (IV, 26). Usir ist »groß in der Liebe des Volkes«, und alle hängen ihm an »in Innigkeit und in der Zuversicht, gleich wie er zu werden zu ihrer Stunde und ewig zu leben« (IV, 690).
Die ›Meinung‹, dass jedermann nach seinem Tod wie Usir und Gott wird, hat sich das ägyptische Volk »erringen müssen in langem Ringen«, denn ursprünglich habe dies nur für den Pharao selbst gegolten, erklärt der alte Midianiter seinem Jungsklaven Joseph auf dem Weg nach Ägypten. »Aber alle die Hustenden, die Statuenschlepper, die Ziegelstreicher, die Töpfebohrer, die hinter dem Pfluge und die in den Bergwerken, sie haben nicht geruht und haben gerungen, bis sie's durchgesetzt hatten und gültig gemacht, daß sie nun alle zu ihrer Stunde Usiri werden« (IV, 691). Joseph sieht darin ein Zeichen für fortgeschrittene Individuation (ebd.). Aufgrund dieser Lehre tragen alle Toten den Beinamen ›Usir‹.
Usir ist der »Erste des Westens« und Herrscher über »das Untere« (IV, 690). Als Herr der Unterwelt, des »unterirdischen Schafstalls« (V, 1761), ist er in der Vorstellung des ägyptischen Volkes »König und Richter der Toten« (IV, 690) und führt den Vorsitz bei dem Totengericht, vor dem sich die Toten verantworten müssen (IV, 860 f.; V, 1448-1450).
Als Vegetationsgott ist Osiris eng mit Chapi, dem Nil, verbunden. Tod und Wiederkehr der Gottheit wiederholen sich »im Gleichmaß der Gezeiten«, weiß der alte Midianiter zu berichten. »Zählst du die Tage der Winterzeit, da der Strom klein ist und das Land trocken liegt, so sind's zweiundsiebzig, und die Zweiundsiebzig sind's, die mit Set, dem tückischen Esel, verschworen waren und in die Lade brachten den König. Aber aus dem Unteren geht er hervor zu seiner Stunde, der Wachsende, Schwellende, Schwemmende, der Sichvermehrende, der Herr des Brotes, der alle guten Dinge zeugt und alles leben läßt, mit Namen ›Ernährer des Landes‹« (IV, 692). Am Ende dieses Gesprächs mit seinem ›Herrn und Käufer‹ (IV, 689) gibt Joseph sich seinen neuen Namen: »Usarsiph« (IV, 693).
Das große Fest des Usir wird »um die Zeit des kürzesten Tages« gefeiert. Joseph betrachtet die dabei geübten Volksbräuche »um Jaakobs willen sehr abgerückt«, auch wenn er sie – ähnlich wie früher die Tammuz-Kulte in Kanaan – »mit neigungsvoller Aufmerksamkeit« verfolgt (V, 967). Seine Distanz ist der obszönen Vorstellung des »wickelzerreißenden Zeugungsstandes« des toten Usir und einer halb bewussten »Gewissensfurcht« vor Untreue geschuldet, vor »Untreue gegen den ›Herrn‹«, die sich für ihn mit dieser Vorstellung verknüpft (V, 968 f.), – es ist die Zeit, in der Mut-em-enet ein Auge auf den schönen Sklaven zu werfen beginnt.
Wie bei seiner ersten Fahrt in die ›Grube‹ dem ›zerrissenen Schäfer‹ Tammuz-Adonis, vergleicht er sich bei der zweiten Fahrt dem Osiris: Das Ochsenboot, das ihn den Nil hinab ins Gefängnis Zawi-Rê bringt, kommt ihm vor »wie Usirs Barke, wenn er niederfährt, den Unteren Schafstall zu erleuchten und die Bewohner der Höhlen zu grüßen auf seiner nächtlichen Fahrt« (V, 1301). Seinem Wächter Cha'ma't kommt die Galle hoch über soviel Anmaßung (V, 1301 f.).
Bei den Priestern im ›lehrhaften On‹ (Heliopolis) begegnet Joseph einer Form monotheistischer Theologie, die Usir – als Herrn der Nacht – mit dem Sonnengott vereinigt, indem sie ihn als dessen nächtliche Erscheinungsform deutet. Die Sonnenpriester pflegen eine »Zusammenschau« der vielen Götter Ägyptens, die das ägyptische Pantheon auf zwei Götter reduziert, »einen der Lebenden, das war Hor im Lichtberge, Atum-Rê; und einen Totenherrn, Usir, das thronende Auge. Das Auge aber war auch Atum-Rê, nämlich das Sonnenrund, und so ergab sich bei zugespitztem Denken, daß Usir der Herr der Nachtbarke war, in welche, wie jedermann wußte, Rê nach Untergang umstieg, um von Westen nach Osten zu fahren und den Unteren zu leuchten. Mit anderen Worten: auch diese beiden großen Götter waren genaugenommen ein und derselbe« (IV, 735).
Echnatôn, der den Sonnengott Atôn absolut setzt, glaubt weder an das Totengericht noch an Osiris selbst, den »Fürchterlichen«, der zwar gerecht, aber »gnadenlos« sei. Der ganze Osirisglaube sei nur ein Instrument der Einschüchterung: »Es ist alles nur Verängstigung mit diesem alten Glauben, der selber tot ist, ein Osar-Glaube, und meines Vaters Sohn glaubt nicht daran!« Deshalb äußert er auch Missfallen über den Namen, den Joseph sich gegeben hat: »Osarsiph, das ist ja ein Totenname« (V, 1448).
Potiphars Eltern Huij und Tuij, die ehelich verbundenen Geschwister, vergleichen sich Usir und Eset, und ihren Sohn nennen sie »unseren Hor« (IV, 867).
Jaakobs Leichnam wird auf Geheiß seines Lieblingssohnes nach ägyptischem Brauch behandelt, »prunkvoll ausgestopft und verschnurrt zur Osiris-Mumie« (V, 1807). Für die Ägypter heißt Jaakob nun »Osiris Jaakob ben Jizchak« (V, 1815).
Band IV: 21 f., 26, 32, 54, 71, 93, 111, 131, 190 f., 193 f., 200, 289-293, 420, 434, 457, 690-693, 710, 721, 735, 758-760, 764, 772, 789 f., 840, 859, 865, 867. – Band V: 967-969, 998, 1003, 1129, 1244, 1295, 1301 f., 1343, 1351, 1360, 1362, 1375, 1448-1451, 1466, 1598, 1626, 1761, 1807, 1809, 1812, 1815.
Vorbilder für die enge Verbindung zwischen Osiris und Tammuz-Adonis fand TM in seinen Quellen reichlich, u.a. bei Mereschkowskij: »Tammuz und Osiris sind keine zwei Götter, sondern ein Gott der [...] vorbabylonischen und vorägyptischen Urzeit« (208). Weiteres fand er bei Erman/Ranke (S. 305-309 u. pass.). – Die Verbindung zwischen Joseph und Osiris (und Tammuz) stellt bereits Jeremias I (332 u.ö.) her.
Abb.: (1) Hölzerne Osiris-Figur (um 1275 v. Chr.). – (2) Papyrus (Ausschnitt) aus dem Totenbuch des Schreibers Hunefer (um 1275 v. Chr.). – (3) Osiris als Fruchtbarkeitsgott.