Huij und Tuij
Die »hohen Geschwister« Huij und Tuij sind Peteprês greise Eltern. Sie wohnen im »Oberstock« seines Hauses; die Mahlzeiten nehmen sie mit Sohn und Schwiegertochter im Speisegemach ein. Der erste Auftrag, den Joseph im Hause Peteprês bekommt, besteht darin, den beiden Alten an einem Nachmittag im Lusthäuschen des Gartens als ›Stummer Diener‹ aufzuwarten. Aus den Gesprächen des Paares erfährt er des »Segenshauses peinliche Hinterbewandtnisse« (IV, 873): Huij und Tuij sind Geschwister, sogar Zwillinge, und sie haben ihren Sohn kurz nach der Geburt entmannt. Sie taten es in dem undeutlichen Gefühl, dass die Zeugung in der »Dunkelkammer der Geschwisterschaft«, auch wenn sie in den Göttern, zumal in Isis und Osiris, heilige Vorbilder hatte, in dem neuen, vom Sonnenkult bestimmten »Äon« nicht mehr recht an der religiösen »Tagesordnung« gewesen sein könnte und deshalb ein »Opfer« verlangte (IV, 864). Denn die »Umarmung von Bruder und Schwester« sei vielleicht doch »noch eine Selbstumarmung der Tiefe und nahe noch dem Zeugewerk brodelnden Mutterstoffes, verhaßt dem Lichte und den Mächten neuerer Tagesordnung« (ebd.). Die »Gedankensorge um die Tagesordnung und um den Äon«, so Huij, sei nämlich das »Allerwichtigste«, es gebe »nichts Erregenderes in der Welt«, und »höchstens daß der Mensch esse, das steht noch voran« (IV, 863). Beide sind aber unsicher, ob es mit ihrer »Abschlagszahlung ans heilig Neue« (IV, 861) seine Richtigkeit hatte oder ob es nicht doch ein »Schnitzer«, wenn auch »ein gutgemeinter«, war (IV, 867), für den sie sich bald vor dem Totengericht werden verantworten müssen. Zwar stehe auch nicht fest, ob das Totengericht noch an der »Tagesordnung« sei, aber man müsse damit rechnen, meint die lebenspraktische Tuij und verspricht ihrem »Fledermäuserich«, ihm, falls er vor ihr sterbe, sofort nachzusterben, um für ihn, der »schon etwas dämmrig im Kopf« sei, vor Osiris und den »gräßlich Benannten« zu sprechen (IV, 860 f.). Im Laufe des Gesprächs fallen die Sorgen um Tagesordnung und Totengericht aber mehr und mehr von ihnen ab, und zuletzt überkommt sie zu Josephs Entsetzen gar ein Kichern beim Gedanken daran, dass sie den »Kinderlein«, dem Sohn und der »Schnur« Mut-em-enet, »ein Schnippchen schlugen zu unserer Versöhnung« und durch den Anspruch auf »zärtliche Ehrerweisung« vor ihrem Groll sicher sind (IV, 872).
Joseph ist »bestürzt und bewegt von dem dienstlich Erlauschten«, bestürzt von der »Gottesdummheit« der Alten und bewegt von Mitgefühl für ihren Sohn (IV, 873), dem »ebenfalls ›behilflich‹ zu sein, nach dem Muster Mont-kaws« er sich hier vornimmt (IV, 876). Gleichzeitig zieht er aus dem Gehörten aber auch die Lehre, dass die »Gottesmühe« nicht nur bei den Seinen zu Hause ist: »Das geschah überall unter den Menschen, und überall gab es den Gram, ob man sich denn auch noch auf den Herrn verstehe und auf die Zeiten, – mochte er auch zu den linkischsten Auskünften führen da und dort« (IV, 874).
Anders als Joseph, der einen »Widerwillen gegen die heiligen Elterlein« empfindet (IV, 873), scheint der Erzähler ihnen einiges abzugewinnen, zumindest einiges Komische, dem er mit der Schilderung ihrer äußeren Erscheinung und ihrer Redeweise Geltung verschafft. Tuijs »großes Gesicht« mit den zu »Blindritzen« verengten »Faltaugen« ist von einem »unbewegliche[n] Lächeln« in Bann gehalten, das zu verändern offenbar nicht ihrem Willen unterliegt; Huijs greiser Kopf wackelt stark, und zwar »sowohl vor- und rückwärts wie manchmal auch seitlich« (IV, 855), und sein ununterbrochenes Mummeln mit den zahnlosen Kiefern hält sein Kinnbärtchen in gleichmäßiger Auf-und-ab-Bewegung (IV, 857); zwei kleine Mädchen sind zu ihrem Dienst bestellt und stützen sie »mit dünnen Stengelärmchen und töricht offenen Mündern« auf ihrem Weg zum Lusthäuschen (IV, 854). Die Unterhaltung der »Ehegeschwister« schließlich ist begleitet von zahlreichen der Fauna und Flora entnommenen Kosenamen, wobei Tuij, die ohnehin noch besser beisammen ist als ihr Ehebruder, sich erfindungsreicher zeigt: Ihre Anreden reichen von »Fröschchen«, »Rohrdommel«, »Dotterblümchen« über »Sumpfbiber«, »guter Löffelreiher« und »Steinkauz« bis zu »Fledermäuserich«, »durchtriebener Wachtelkönig« und »Pinguin«, während Huijs Repertoire mit »Blindmaus«, »liebe Erdmaus« und »liebe Unke« deutlich sparsamer ausfällt.
Zehn Jahre später leben die Beiden immer noch, und als Peteprê über Joseph zu Gericht sitzen muss und die Alten dazu rufen lässt, geraten sie in Angst und Schrecken, weil sie sich von der Untersuchung des Falles »einen Vorschmack versprachen des Gerichtes vorm Unteren König und sich beide zu schwach im Kopfe wußten, um die Argumente ihrer Rechtfertigung noch zusammenzubringen, so daß sie es über ein ›Wir haben es gut gemeint‹ nicht hinausbringen würden«, das sie denn auch »anfangs in großer Aufregung beständig lallten«, bevor sie sich schließlich beruhigen (V, 1269).
Abb.: Huij und Tuij, aus: Das Randfigurenkabinett des Doktor Thomas Mann, vorgestellt von Barbara Hoffmeister und dargestellt von Robert Gernhardt. Frankfurt: S. Fischer 2005, S. 195. Mit freundlicher Genehmigung von Robert Gernhardt.