Geschwisterliebe (1839)
Theodor Fontane: Geschwisterliebe. In: T. F.: Frühe Erzählungen. Hrsg. von Tobias Witt. Berlin: Aufbau 2002 (Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk. Bd. 18), S. 5-40.
Erzählt wird die Geschichte eines Geschwisterpaares, dessen innige Verbindung drei Leben zerstört: Der von Geburt an blinde, seit dem Tod der Eltern von seiner Schwester liebevoll umsorgte Bruder erträgt die Liebe der Schwester zu einem Pfarrer nicht, weil seine Bruderliebe eine uneingestandene inzestuöse Färbung hat. Als sie den Pfarrer heiratet, sagt er sich von ihr los. Sie kann seine Abkehr nicht verwinden und stirbt nach einem Jahr. An ihrem Sterbebett kommt es zur Versöhnung. Die beiden Männer leben zwar, nun in freundschaftlicher Verbundenheit, weiter, aber der Schmerz verzehrt sie mehr und mehr, so dass sie nach Jahren freudlosen Daseins sterben, noch dazu an demselben Tag. In ihrer exaltierten Theatralik, Sentimentalität und Epigonalität trägt die Geschichte alle Merkmale eines Jugendwerks.
Clara (Clärchen)
Ein »liebes, gutes« und »anspruchsloses« Mädchen (6), das nach dem frühen Tod der Eltern mit seinem blinden Bruder Rudolph in der »strengsten, fast klösterlichen Abgeschiedenheit von der übrigen Welt« lebt (7). Sie umsorgt ihren unglücklichen Bruder liebevoll und weiß ihn jedesmal zu trösten, wenn er über seinem Schicksal zu verzweifeln droht. Als sie sich in Pfarrer Eisenhardt verliebt, kämpft sie lange mit sich, ob sie »den Geliebten um des Bruders willen zu opfern« verpflichtet ist (21). Durch einen Zufall erfährt Rudolph von ihrer Liebe. Die Bitte des Paares, mit ihm im Pfarrhaus zu leben, weist er schroff zurück und verlangt, dass die Schwester nach der Hochzeit jede Verbindung zu ihm aufgibt, andernfalls werde er sich umbringen (vgl. 29). Clara heiratet und unterwirft sich notgedrungen der Forderung des Bruders, leidet daran aber so sehr, dass sie schon ein Jahr später, nachdem sie ein Kind tot zur Welt gebracht hat, stirbt. Auf dem Sterbebett bittet sie ihren Bruder um Verzeihung und versöhnt sich und ihren Mann mit ihm (vgl. 36).
Eisenhardt
Der Pfarrer, ein schöner Mann »von dreißig und einigen Jahren« (9 f.) und »hohe[r], ehrfurchtgebietende[r] Gestalt« (24), freundet sich mit Clara und Rudolph an und verliebt sich in Clara, die seine Gefühle erwidert. Rudolphs heftige Reaktion auf beider Heiratspläne vermag auch er nicht zu besänftigen, und alle Versuche, ihn seiner innigsten »Bruderliebe« zu versichern, schlagen fehl (26). Seine Ehe mit Clara, »die sonst eine namenlos glückliche gewesen wäre«, ist von Claras Leiden an der Trennung vom Bruder überschattet (34). Als sie nach einem Jahr stirbt, ist auch seine Lebenskraft unwiederbringlich geschwächt, und er wünscht sich den Tod. Dennoch lebt er – dem Wunsch seiner Frau gemäß in enger Freundschaft mit dem Schwager – noch viele unglückliche Jahre. Er und Rudolph »glichen wurmstichigen Bäumen, die der Forstmann zu fällen verschmäht« und die kein »wild daherbrausender Sturm, keine äußere Gewalt« fällt: »nein, sie selbst sollten sich langsam von innen heraus vernichten«. (40) Er stirbt an demselben Tag wie sein Leidensgefährte Rudolph.
Rudolph
Der Bruder Claras ist von Geburt an blind, ein Schicksal, mit dem er oft hadert. In seinem Harfenspiel gibt er seinem Leiden Ausdruck. Seine Schwester, die ihn seit dem frühen Tod der Eltern umsorgt, liebt er über alles und mehr wie ein Liebhaber denn ein Bruder. Nicht nur der uneingestandene inzestuöse Aspekt dieser Liebe, sondern auch deren Ichbezogenheit wird vollends erkennbar an seiner exaltierten Reaktion auf die Entdeckung, dass sie Pfarrer Eisenhardt liebt. Mit der Androhung seines Selbstmords zwingt er sie, vom Tage ihrer Heirat an jeglichen Kontakt zu ihm abzubrechen (vgl. 29). Fortan lässt er sich von einer Magd versorgen und vertieft sich Harfe spielend in sein Selbstmitleid. Selbst als der Schwager ihn ein Jahr später aufsucht, um ihn an das Sterbebett seiner Schwester zu rufen, wird er zunächst wieder ein »Opfer seiner wilden leidenschaftlichen Gefühle« (39), beschuldigt seinen »Nebenbuhler« (37) des Mordes und will ihm an die Gurgel gehen (vgl. 33), bevor er sich fasst und bereit findet, zur Schwester zu gehen. Er sinkt vor der Sterbenden in die Knie, bittet sie um Vergebung (vgl. 35) und entspricht ihrem Wunsch nach Versöhnung mit dem Pfarrer (vgl. 36 f.). Als sie gleich darauf stirbt, verliert er erneut jede Fassung und wirft sich laut schreiend auf den leblosen Körper (vgl. 37). Er und Eisenhardt leben, verbunden im gemeinsamen Leid, noch »viele Jahre« freudlos dahin, bis der »Schmerz wie ein nimmersatter Wurm ihr Leben aufgezehrt« hat und »der Tod, der jahrelang ihre Bitten verhöhnte, […] den Gesetzen der Natur Gehorsam leisten« muss (40). Beide sterben an demselben Tag.