Settembrini, Lodovico
Italienischer Intellektueller, Patient des »Berghof«, der im dritten Stock ein kleines Zimmer »nach hinten hinaus« bewohnt und später aus Kostengründen als Untermieter des Damenschneiders Lukacek ins Dorf umzieht. Der sympathische Mann mit der angenehmen Stimme spricht Ziemßen und Castorp auf deren erstem gemeinsamem Spaziergang an – der Abschnitt ist »Satana« überschrieben (III, 88 ff.). Er ist Mitte 30, hat schwarze Augen, einen schwarzen Schnurrbart und zeichnet sich durch eine freie, schöne Haltung aus, die seine ärmliche, immer gleiche Kleidung fast vergessen lässt. Zugleich erinnert er Castorp an einen Drehorgelmann (III, 131 ff.; V, 304). Settembrini ist Humanist und Literat und spricht gern, rhetorisch gepflegt und immer, wie Castorp findet, kritisch und pädagogisch (IV, 146 ff., 228 ff., V, 307, 366). Später erzählt er seine Familien-Geschichte, eine Geschichte der politischen Opposition (IV, 233 ff.). Er ist gern boshaft und mahnt Castorp, über Menschen zu urteilen, statt sie einfach hinzunehmen.
Er nimmt ein erzieherisches Interesse an Castorp. In zahlreichen Gesprächen verteidigt er Vernunft, Aufklärung, Arbeit und Gesundheit – aber die einfache Frage des umgekehrten Parzival nach seiner Krankheit bringt ihn in Verlegenheit (V, 299, 377). Oft redet er Castorp mit »Ingenieur« an, um das Fortschrittliche dieses Berufs zu betonen. Von vornherein und wiederholt rät er ihm abzureisen (V, 375) und warnt ihn vor der Entfremdung vom wirklichen Leben durch die Hingabe an die Krankheit und vor allem vor der lasterhaften Anziehungskraft des Todes (V, 294 ff.).
Ausführlich erläutert Settembrini seinem ›Schüler‹ die Arbeit der »Liga für die Organisierung des Fortschritts«, die ein Handbuch zur »Soziologie des Leidens« herausgibt. Ziel ist, das Leiden, die Krankheit »auszumerzen«, und Settembrini wird zu diesem Zweck die Weltliteratur sichten (V, 368 ff.). – Für ihn zählt nur der Geist, der den Körper beherrschen soll. Castorp fragt intelligent: »Was haben Sie gegen den Körper? Sie sind doch Humanist?« (V, 378).
Während des Fastnachtsfestes in der Mitte des Romans hält Castorp, illuminiert, seinem Lehrer eine Dankes- und beinahe Abschiedsrede, wobei er ihn – wegen der Narrenfreiheit – zu dessen Entsetzen duzt. Aber Castorp ist jetzt ganz frei, Clawdia Chauchat, vor der Settembrini ihn auch warnte, übernimmt (V, 497 ff.). Clawdia findet, er sei nicht »menschlich« gesinnt, sondern hochmütig (VII, 843).
Castorp nimmt als Schüler-Publikum an den »Operationes spirituales« der Kontrahenten Settembrini und Naphta teil. Auf seiner todesnahen Schneewanderung (VI) denkt er immer wieder an Settembrini als den Warner mit dem Hörnchen, wie der Strandwächter am Meer. »Du bist zwar ein Windbeutel und Drehorgelmann, aber du meinst es gut, meinst es besser und bist mir lieber als der scharfe kleine Jesuit [...], obgleich er fast immer recht hat.« (VI, 719). Er sehnt sich nach Rettung durch den vernünftigen Mahner (VI, 729), dann wieder nennt er ihn einen Schwätzer, der »immer nur auf dem Vernunfthörnchen« bläst, das sei »irreligiös« (VI, 747). Doch zu ihm kehrt er auf dem Rückweg heim (VI, 750).
Von Naphta erfährt Castorp, dass Settembrini Freimaurer ist, also auch einer Art von Orden angehört (VI, 766). Die philosophisch-historischen Streitgespräche zwischen Settembrini und Naphta steigern sich schließlich zum Pistolenduell im Februar 1913. Settembrini sagt: »Ich werde nicht töten«. Er schießt in die Luft, und Naphta erschießt sich aus Wut (VII, 1056 ff.).
Bevor in Castorps siebtem Jahr »hier oben«, 1914, der Weltkrieg beginnt, wird Settembrini immer leidender. Seine Arbeit am Lexikon muss er aufgeben. Als Castorp zur Front abreist, verabschiedet er sich am Bahnhof von ihm und nennt ihn Du und »Giovanni mio«, was Hans fast die Fassung verlieren lässt.
Daniel Jütte hat als ein Vorbild für Settembrini Bernardino Zendrini gefunden, den TM 1909 im Bircher-Benner-Sanatorium in Zürich kennengelernt hatte (vgl. Jütte).