Castorp, Hans
Der unheldische Held des »Zauberberg« reist 22jährig im Juli 1907 »für drei Wochen« nach Davos, um seinen tuberkulosekranken Vetter Joachim Ziemßen zu besuchen (I, 11).
Er ist in Hamburg geboren und nach dem Tod seiner Eltern und seines Großvaters bei seinem Großonkel Tienappel und dessen Söhnen aufgewachsen. – Hans, der Erbe einer langen, soliden Tradition, sieht blond und korrekt aus (II, 50), hat blaue Augen und einen kleinen rotblonden Schnurrbart (58). Er ist etwas schläfrig und blutarm und liebt vor allem Zigarren der Marke ›Maria Mancini‹. Die Zeit, in der er lebt, gibt ihm keinen ›Sinn‹ (54). Das Ingenieurstudium absolvierte er und will nun als Volontär in eine Schiffsbau-Firma eintreten. Später äußert er sich kritisch über das heimische Gelddenken; er hat keine engen Beziehungen zu seinen Verwandten (V, 301 ff.).
Im Lungensanatorium ›Berghof‹ reagiert er anfangs verwirrt und mit fiebriger Erregung auf den lockeren Umgang, den man dort oben mit Krankheit und Tod pflegt (III, 88). Schon bald hat auch er erhöhte Temperatur, dann einen Katarrh, eine ›feuchte Stelle‹ in der Lunge findet sich, und nun ordnet er sich gern der Disziplin des Hauses ein, die fünf üppige Mahlzeiten täglich, lange Liegekuren und gelegentliches Gehen zu bestimmten Zeiten vorsieht.
Die merkwürdigen Menschen, die ihm hier begegnen, betrachtet er »mit all der bescheiden duldsamen und vertrauensvollen Menschenfreundlichkeit, die ihm angeboren war.« (IV, 254). Der Rationalist Settembrini rät ihm vergeblich, schleunigst abzureisen (III, V, 375 – wie es der Autor 1912 tatsächlich tat, als er seine Frau in Davos besuchte).
Hans Castorp genießt den verantwortungslosen Status als Patient; an der sinnstiftenden Krankheit im ›Zauberberg‹ hat nun auch er teil, und er lernt viel – über Körper und Seele, Physiologie und Psychologie und über den Tod. Zum Tod hat er, seit er schon als Kind an den Totenbetten seiner nächsten Verwandten stand, ein sehr interessiertes Verhältnis (V, 444). Die Zeit, »die in ihrer still strömenden Art rastlos fortschreitet« (V, 450), als Zeit des Erzählers und Zeit seines Helden ist ein Thema dieses »Zeitromans« ( III, 102f., IV, 157 – siehe auch die Kapitelanfänge V, VI, VII). Das Thema regt den darin ungeübten Hans Castorp zum »Philosophieren« an, schon am ersten Abend. Später wird ihm seine Lebenszeit ebenso gleichgültig wie die Kalender- und Uhrzeit (V, 489).
Zu Castorps willigem Sich-Gehen-Lassen in der Atmosphäre des »Schattenreichs« hier oben (III, 90) gehört die Hingabe an seine Schwärmerei für die lässige Russin Madame Chauchat. Seit einem Traum weiß er, an wen sie ihn erinnert: an Pribislaw Hippe, den von fern geliebten Mitschüler, von dem er einmal einen Bleistift lieh. Er beobachtet Clawdia Chauchat und arrangiert ›zufällige‹ Begegnungen (IV, 215 ff.). »Aber um wen es steht, wie es um ihn stand oder zu stehen begann, der will, dass man drüben von seinem Zustande Kenntnis habe, auch wenn kein Sinn und Verstand bei der Sache ist. So ist der Mensch.« (217). So äußert sich der Erzähler, der mit seinem Helden vertraut umgeht, beobachtend, aber auch wissend und urteilend (II, 53, V, 349).
Erst nach mehr als einem halben Jahr, zur Fastnacht 1908, kommt es zu einer unmittelbaren Begegnung mit Clawdia Chauchat. Aus Hans Castorps »sittlicher Scheu« (V, 490) wird »Unternehmungsgeist«. »Hast du nicht vielleicht einen Bleistift?« fragt er sie, bleich vor Erregung, mit dem Narren-Du, das sie erwidert. Sie reden halb deutsch, halb französisch (V, 504 ff). Es wird ein langes, spannungsvolles Gespräch, in dem sie ihr Wissen voneinander austauschen. Für sie ist er ein kleiner tugendhafter deutscher Träumer, dem sie schließlich seinen Traum erfüllt – am nächsten Tag wird sie abreisen. Der Bleistift wird zurückgegeben und Hans Castorp bekommt dafür ihr Röntgenbild. Dabei bleibt der Erzähler »wortlos« (VI, 525). Nun ist unser Held noch fiebriger und »vergifteter« als vorher. Liebe außerhalb der bürgerlichen Ordnung ist verboten, Hans ist bewusst »aus der Schule gelaufen«.
Sein wirklich kranker Vetter Joachim Ziemßen »desertiert« im zweiten Herbst ins Flachland, zum militärischen Dienst. Hans Castorp, den Dr. Behrens in einem Jähzorns-Anfall für ausreichend gesund erklärt, bleibt (VI, 631). Das Leben im Flachland hat ihm nichts mehr zu bieten. Sein heimisches Vermögen von 400.000 Mark, von dessen Zinsen er bequem leben kann, macht es möglich.
Doch er bildet sich weiter: studiert Pflanzen und die Gestirne (VI, 556 ff.) oder lauscht als »lichtsuchende Jugend« aufmerksam und geschmeichelt, den heftigen Wortgefechten von Settembrini und Leo Naphta, der als jesuitischer Widerpart des Humanisten auftritt.
Im zweiten Winter bricht er mutwillig auf Skiern zu einer Wanderung in den Tiefschnee auf, angelockt vom tödlichen Nichts. Auch als er die Orientierung verliert und bei minus 20 Grad ein Schneesturm einsetzt, denkt er noch ein trotziges »Ach was!« (VI, 713 ff). Er beginnt zu halluzinieren und sieht, was er nie gesehen hat, glückliche Menschen unter südlicher Sonne, apollinische Szenen. Dann der Schrecken: kannibalische alte Weiber im Tempel. Doch er wacht auf und fühlt sich gerettet: aus dem Gesehenen schließt er für sich: »Ich will gut sein. Ich will dem Tode keine Herrschaft einräumen über meine Gedanken!« – das wird noch einmal, hervorgehoben, wiederholt: »Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.« (VI, 748).
Doch alsbald »tändelt« Hans wieder mit der Ewigkeit und verliert den Überblick über den Zeitverlauf (Kommentar S. 349). Seine Geliebte kommt zwar zurück, aber als Begleiterin des imposanten Mynheer Peeperkorn (VII, 826 ff). Die Lösung, die Hans, der Mann der »phlegmatischen Leidenschaften« (VII, 903), für sich findet, ist Verehrung für die »Persönlichkeit« Peeperkorns. Daraus wird ein doppeltes Zweierbündnis: mit Clawdia für ihren Freund und mit Peeperkorn für Clawdia, nachdem dieser Castorps Liebe zu ihr durchschaut hat (VII, 906f., 926f.) und sie »unsere Geliebte« nennt. Nach Peeperkorns Selbstmord reist Clawdia ab.
Hans Castorp bleibt, nach nun drei Jahren, mit dem Gefühl von Langeweile und »Stumpfsinn« zurück (VII, 947 ff.). Wie die anderen sucht er Zerstreuung, zuerst durch Patiencelegen, dann durch eine neue Passion: Musik auf Schallplatten (VII, 963 ff.). Nun lauscht er von morgens bis nachts Opern und Liedern, am liebsten Verdi, Bizet und Schuberts »Der Lindenbaum« (VII, 985 ff.). Sein Liebe besonders zu diesem Lied hat mit dem Tod zu tun, und er versteht sie als Regression (»Rückneigung«).
»Deutsches Hänschen«, nannte Clawdia ihn im Gespräch, berührt und amüsiert von seiner Liebe und seinem Philosophieren (VII, 904). Clawdia wirft ihm bzw. den Deutschen vor, es gehe ihnen um das Erlebnis, um Selbstbereicherung. Ein solches, sehr unheimliches hat Hans Castorp dann gegen Ende der Geschichte, als er einer spiritistischen Sitzung des Dr. Krokowski beiwohnt, bei der auf seinen Wunsch der tote Joachim Ziemßen herbeizitiert wird. Was daran Täuschung ist, wird nicht gesagt. Castorp bricht die Sitzung danach erschüttert ab (VII, 990 ff.).
Mit der »Neugier des Bildungsreisenden« beschäftigt er sich auch mit dem »Dämon«, der sich des Zauberbergs bemächtigt, der Zanksucht, die von der Langeweile abstamme (VII, 1034 ff.). Sie eskaliert von der grimmigen Balgerei eines antisemitischen mit einem jüdischen Kranken zum Pistolenduell zwischen Naphta und Settembrini, bei dem Naphta sich selbst erschießt. Inzwischen ist Februar 1913, und immer deutlicher werden diese unsinnigen Zuspitzungen auf die allgemeine Zeitstimmung der Kriegsvorbereitung bezogen.
»Sieben Jahre blieb Hans Castorp bei Denen hier oben« (VII, 1070), eine sagenhafte Zahl, die Zeit und Raum im Roman ordnet. Die ärztliche »Obrigkeit« kümmert sich nicht mehr viel um ihn. Castorp versinkt in der formlosen Zeit. Er kommt ohne Uhr und Kalender aus, Stillstand herrscht, »hermetischer Zauber« (1074).
Dann kommt der »Donnerschlag, der den Zauberberg sprengt« (1075), der Krieg. Der »Siebenschläfer« steht auf und blickt um sich. »Er sah sich entzaubert, erlöst, befreit, – nicht aus eigener Kraft« (1079). Er reist ab, an die Front, und es folgt eine eindringliche Schilderung der furchtbaren Schlacht, bei der die jungen Freiwilligen über die Leichen ihrer Kameraden vorwärts stürmen, auch Hans Castorp, der sonst so Zivile. Wird er, nach dem Mephisto-Zitat, das Joachim zugeordnet war, »als Soldat und brav« sterben? – »Fahr wohl – du lebest nun oder bleibest!« ruft ihm der Erzähler nach (1085).