Noah

Die Geschichten Noahs, den »die Babylonier Utnapischtim und dazu Atrachasis, den Hochgescheiten, nannten« (IV, 24) und dessen chinesische Entsprechung Yau hieß (vgl. IV, 31), gehören im Roman zu dem Kernbestand jener mythischen Muster, in deren Spuren die Jaakobsleute gehen und die, durch die Zeiten immer neu sich wiederholend, jederzeit Gegenwart werden können.

Die Geschichte der Sintflut, die zumal Joseph in allen Einzelheiten kennt und die sich in seiner Jugendzeit »in einer von der östlichen abweichenden Sondergestalt zu befestigen« beginnt (vgl. IV, 29), ist das »Ur-Muster aller Weisheit, das ist: aller wissenden Vorsorge«, denn: »Noah-Utnapischtim, hieß er nicht darum der Erzgescheite, weil er die Flut hatte kommen sehen und ihr vorgebeugt, nämlich den Kasten gebaut hatte?« (V, 1297) Diese Vorsorge und Vorsicht, die Joseph bei seinem riskanten Spiel mit Mut-em-enet sträflich vermissen lässt (ebd.), wird er als Echnatôns Wirtschaftsminister vorbildlich erfüllen und »sich als Utnapischtim-Atrachasis, als Noah, der Hochgescheite« erweisen, »als Mann der Voraussicht und der Vorsorge, dessen Arche sich auf der Flut schaukelt« (V, 1485; vgl. auch V, 1713).

Noahs Verhöhnung (Entmannung) durch seinen Sohn Cham (Genesis 9, 22-25) wird Gegenwart bei Rubens Fehltritt mit Bilha: Der ergrimmte Jaakob schleudert ihm den »anrüchigen Namen des Cham« entgegen und wird selbst zu einem neuen Noah: Ein »furchtbares Aufgehen der Gegenwart im Vergangenen« hat statt, »das völlige Wiederinkrafttreten des einst Geschehenen, seine, des Jaakob, persönliche Einerleiheit mit Noah, dem belauschten, verhöhnten, von Sohneshand entehrten Vater« (IV, 94).

Josephs Brüder benutzen den Namen Noahs als Schimpfwort für Joseph: Bevor sie den Spitznamen erfinden, »unter dem sie ihn am bittersten haßten: ›der Träumer von Träumen‹«, nennen sie ihn in Anspielung auf seine Lesekunst »spottend Noah-Utnapischtim, den Erzgescheiten, den Leser von Steinen von vor der Flut« (IV, 413). Die »Gutmütigkeit dieser als Ekelnamen gedachten Bezeichnungen« erklären sich nach Überzeugung des Erzählers »durch den Mangel der jungen Leute an Erfindungsgabe und Einbildungskraft«, denn sie hätten ihm »wahrhaftig gern schärfere gegeben, nur fielen ihnen keine ein« (IV, 459).

Dass Noah, der »Gerechte«, nach der Sintflut als Erster Wein anbaute (vgl. Genesis, 9, 20), hält der Erzähler für »eine Tat sondergleichen, als menschliche Leistung genommen«, Joseph dagegen findet es »nicht sehr gerecht«: »Denn konnte er nicht pflanzen, was von Nutzen wäre? Feigenbäume oder Olbäume? Nein, sondern Wein stellte er erstmals her, ward trunken davon und in der Trunkenheit verhöhnt und verschnitten.« (IV, 24)

Die ›östliche‹ Version der Sintflutgeschichte, von der IV, 29 die Rede ist, ist die Fluterzählung des Gilgamesch-Epos. Der Beiname »Atrachasis« referiert auf die Sintfluterzählung des altbabylonischen Atrachasis-Epos. Diese beiden wie die übrigen damals bekannten Versionen kannte TM aus Ungnad, 66-127 und Jeremias I, 117-127.

Einzelheiten der Geschichten Noahs, die in Genesis 6-9 nicht vorkommen, hat TM den »Sagen der Juden« entnommen: Die Behauptung, dass der Mensch »vor dem Erscheinen Noah-Utnapischtims« ein Wesen mit noch nicht ausgebildeten, »verwachsenen Fingern« gewesen sei (IV, 28) folgt Gorion I, 177; dass vor der Sintflut »selbst die Erde Hurerei trieb und Schwindelhafer hervorbrachte, wenn man Weizen säte« (IV, 29), folgt Gorion I, 193; dass Gott den Menschen vor der Sintflut noch eine letzte »Geduldsfrist von hundertzwanzig Jahren« gegeben habe, in der Noah sie vergeblich zu Umkehr und Buße aufgerufen habe (IV, 29), folgt Gorion I, 179; dass Noah von seinem Sohn (oder Enkel) nicht nur seiner Blöße wegen verhöhnt, sondern vielmehr entmannt wurde (IV, 24; IV, 215), folgt Gorion I, 228 f., 230. Auch Josephs Einwände gegen Noahs Weinanbau (IV, 24) folgen nahezu wortgleich den in den »Sagen der Juden« (I, 227) formulierten Vorbehalten.

Letzte Änderung: 26.03.2015  |  Seitenanfang / Lexikon   |  pfeil Zurück