Ruben (Re'uben)
Ruben ist der erstgeborene Sohn Jaakobs und Leas (Genesis 29,32), gezeugt in der Hochzeitsnacht, in der Jaakob um seine wahre Braut, Rahel, mit Lea betrogen wird (IV, 310), weshalb Rahel beim Streit mit ihrer Schwester um die Dudaim auch geneigt ist, Ruben als ihren Sohn zu bezeichnen: »So wäre er mein Sohn, jetzt, wenn es recht zugegangen wäre, und hätte mir gebracht Kraut und Rübe« (IV, 332).
»Re'uben schoß gleich daher wie ein Wasser« (IV, 317), und so, wie er zur Welt kam, ist er auch: »wie ein dahinschießendes Wasser« (IV, 316 u.ö.), zu raschen Zornesausbrüchen und ebenso rascher Reue neigend, »ehrbar, aber plötzlichen Antrieben unterworfen« (IV, 158).
Dieser Gemütsart verdankt er den Verlust des Erstgeburtsrechts. Als der Vater nach Rahels Tod sein Bett nicht bei Lea, sondern bei Bilha, Rahels Magd, aufschlägt, reißt Ruben »das väterliche Lager von der neuen Stätte« (IV 84), eine aus »beleidigtem Sohnesstolz« begangene Tat, die »der Anfang war vom Ende seiner Erstgeburt« (IV, 336). Und als der Einundzwanzigjährige dann den Reizen »derselben Bilha, der er doch um der zurückgesetzten Lea willen so bitter gram war« (IV, 85), erliegt und mit ihr, wie Joseph dem Vater meldet, ›scherzt‹ (IV, 85), ist es so weit: In »wahrster Zerknirschung« empfängt Ruben das »feierliche Gewitter des väterlichen Zornes«, an dessen Ende Jaakob ihm »mit ausgestreckten Armen« die Erstgeburt entzieht (IV, 86; vgl. auch IV, 94, 389, 415).
In seinem Umgang mit Joseph wird eine andere Seite seines Charakters sichtbar. Er verhält sich »unter allen Brüdern am duldsamsten« gegen den Bruder (IV, 86), trägt dem Vaterliebling und »Hätschelhans« (IV, 624) die ›Angebereien‹, die die übrigen Brüder in »unnennbare Wut« versetzen (IV, 514), nicht nach. »Im Bewußtsein seiner Fehlbarkeit war Re'uben gutmütig und gerecht« (IV, 86).
Es ist nicht nur dieses Bewusstsein eigener Fehlbarkeit, denn Ruben, auch wenn er oft die Empörung der Brüder über Josephs Hochmut und Bevorzugung teilt, liebt den Bruder (IV, 614). Und er hat eine unbestimmte, beunruhigende Ahnung von seiner Auserwähltheit, die er noch in seinen »unschuldig-tückischen« Angebereien erkennt: »Tückisch in Unschuld und unschuldig in der Tücke, so daß die Unschuld gefährlich ist und heilig die Tücke, das sind die untrüglichen Zeichen des Segens, und ist dagegen nicht aufzukommen« (IV, 496). Eine »unnennbare Rührung über die plappernde Unschuld« und »staunende Schicksalsverehrung« prägen sein Verhältnis zum Bruder (IV, 514).
Nachdem Joseph dem Vater die Ketônet passîm, das mütterliche Brautkleid, abgeschwatzt hat, stellt Ruben ihn zur Rede. Josephs Rechtfertigung der Schenkung, in der er sich und die Mutter in anmaßungsvoller Anspielung auf den Mythos von Tammuz und Ischtar als mythische Einheit beschreibt (»Ich und die Mutter sind eins«), macht den »Herdenturm« (IV, 496) wanken: »Dem großen Ruben graute es« (IV, 500). Er hält Joseph in diesem Moment zwar »nicht geradezu für eine verschleierte Doppelgottheit«, aber »dennoch war seine Liebe nicht weit vom Glauben«. Und der lässt ihn um den Bruder fürchten, er kennt die mörderische Aggressivität seiner Brüder (IV, 501).
Während dieser Unterredung hält er den jüngeren Bruder an der Schulter gepackt, schüttelt ihn hin und her und hindert ihn gleichzeitig daran, umzufallen, so dass Joseph sich ihm neckisch dankbar zeigt dafür, »daß du mich hältst, indem du mich umwirfst, beides zugleich« (IV, 499). Dies ist die Rolle, die Ruben in Josephs Geschichte spielt. Er (er)hält ihn, indem er ihn umwirft.
Das gilt nicht nur für das rohe Geschehen auf den Weideplätzen bei Dotan, das Joseph in die Grube und schließlich nach Ägypten bringt (s.u.), sondern auch schon vorher: Indem Ruben sich mit seinen Brüdern, halb ehrlich, halb zum Schein, solidarisch zeigt, kann er seine schützende Hand über den Vaterliebling halten (vgl. IV, 512 f. u.ö.).
Auch die Selbstverbannung der zehn Brüder vom väterlichen Lager bei Hebron nach Josephs zweiter Traumerzählung (IV, 519) geschieht auf Rubens Vorschlag. Vordergründig und im Bewusstsein der Brüder ein Akt »stolz strafenden Protestes«, sinnt Ruben damit auf Schonung des Bruders: »Hinweg von Josef, dachte er, damit kein Unglück geschähe« (IV, 522).
Doch das Unglück geschieht, Joseph wird den Brüdern vom Vater nachgesandt, und abermals spielt Ruben die ihm zugewiesene Rolle. Nicht nur widerspricht er als einziger der Vorstellung der Brüder, in der alten Geschichte von Lamech Rechtfertigung für ihre Rachewünsche zu finden, und verweist sie auf das Recht (den Codex Hammurapi) als Grundlage des Handelns. Auch bei dem mörderischen Angriff der Brüder auf Joseph selbst tut er sein Möglichstes, Joseph vor dem Äußersten zu schützen (IV, 555-558), weist Schimeon, Levi und Gad, die den Gefesselten zu töten sich erbieten (IV, 562), zurecht und sorgt dafür, dass der Geschundene immerhin lebend in den Brunnen geworfen wird (IV, 564 f.).
So gewinnt er Zeit, »die Hoffnung zu fristen, daß er Joseph errette aus ihrer Hand und ihn so oder so dem Vater zurückbringe« (IV, 563 f.). Der Erzähler mutmaßt, dass er damit »die Geschichte von damals« (Bilha) wettzumachen und zu erreichen hofft, dass »der Fluch von ihm genommen und seine Erstgeburt wiederhergestellt sein« würde. Wir »wünschen nicht«, beteuert er, »die Motive seines Betreibens zu verkleinern. Aber verkleinern wir sie denn, wenn wir als möglich anheimstellen, er habe im stillen gehofft, das Rahelskind zugleich zu erretten und zu besiegen?« (IV, 564).
Ruben reitet nach Dotan, vorgeblich in Geschäften und um Würzwein zu holen, tatsächlich um das nötige Gerät für Josephs Rettung und Proviant für den anschließenden Weg nach Hebron zum Vater zu besorgen (IV, 597 f.). Währenddessen verkaufen die Brüder Joseph für zwanzig Silberlinge an die Ismaeliter (IV, 598-614).
Bei seiner Rückkehr findet er die »Höhle«, wie der Brunnen hier nun beziehungsreich heißt, leer (Genesis 37,29; vgl. Johannes 20,5). Seine Ankunft am Brunnen wird als Präfiguration des Ostermorgens erzählt: Der steinerne Deckel, den die Brüder auf die Öffnung gewälzt hatten (IV, 566), ist beiseite geräumt (vgl. Markus 16,4). Anstelle Josephs findet Ruben einen geheimnisvollen fremden Jüngling auf den Steinen sitzend vor (vgl. Markus 16,5), der sich als Wächter des Brunnens bezeichnet (IV, 617). Es ist der Mann auf dem Felde, den Joseph auf dem Weg zu den Brüdern getroffen hatte. Seiner präfigurativen Funktion gemäß, lässt er Ruben wissen, dass der Knabe nun einmal »nicht mehr da« ist, spielt mit Bezug auf den Tammuz/Adonis-Mythos auf die Auferstehung an (IV, 621), belehrt den Fassungslosen über die Vorläufigkeit des Geschehens wie seiner eigenen Rolle darin (»auch ich sitze hier sozusagen nur versuchsweise und vorläufig« – IV, 619) und spricht ihm Trost zu. Der verwirrte Ruben wendet sich schließlich zögernd und den »benommenen Kopf« schüttelnd zum Gehen (IV, 623).
Die Brüder verschweigen ihm den Verkauf des Bruders an die Ismaeliter (IV, 624), Ruben erfährt davon erst Jahre später, beim Wiedersehen in Ägypten (V, 1688). Von der Begegnung mit dem Fremden am Brunnen aber ist, wie dieser erhofft hat (IV, 622), ein »Keim« in ihm zurückgeblieben. »Es war der Keim der Erwartung, den Ruben hegte, und nährte ihn heimlich mit seinem Leben im Schlafen und Wachen, bis er zum grauen Manne geworden« (IV, 629; vgl. auch V, 1668).
»Ruben-Menschen« nennt der Erzähler (mit Bezug auf Mont-kaw) Menschen, »die das Glück und die Würde ihrer Seele darin finden, ›gerecht und billig‹ zu sein, anders gesagt: darin, daß sie ihre Pläne, selbst im Sinne der eigenen Abdankung, freudig mit denen höherer Mächte vereinigen« (IV, 900).
Ruben ist ein schwerer Mann, ein »Herdenturm, übergroß und ungeschlacht« (IV, 496), mit in der Jugend »fleischig-muskelstarkem, gerötetem, bärbeißigem Gesicht von stumpfem Profil und verlegen-würdevollem Ausdruck, die niedere Stirn vom lockig hineindringenden schwarzen Haar verdüstert« (IV, 492). Er ist »ziemlich häßlich« und hat, wie alle Lea-Söhne, die »blöden Augen« und stets geröteten, entzündeten Augenlider der Mutter (IV, 87). Er spricht mit überraschend »hoher und zarter Stimme« (IV, 495), »unerwartet, so oft man's hört« (IV, 551).
Der ähnlich schwergewichtige Peteprê (Potiphar) mit seinen »Säulenbeinen« erinnert Joseph an seinen ältesten Bruder (IV, 807), wird deshalb öfter »Rubenturm« genannt (IV, 843, 876 u.ö.).
Ruben gehört neben Juda, Naphtali, Gad und Benjamin zu den fünf Brüdern, die Echnaton auf Josephs Vorschlag zu Hirten über seine königlichen Herden in Gosen beruft (V, 175).
Jaakobs letzte Worte für Ruben fallen deutlich schärfer aus als in Genesis 49,3 f. Unbarmherzig erinnert Jaakob seinen Ersten daran, dass er ihn »aus Versehen«, mit der »Unrechten« gezeugt hat, und wiederholt alle seine Fehler und Verfehlungen, ohne seiner Verdienste um Josephs Erhaltung zu gedenken. Der Vatersegen ist ein Fluch: »Sei verflucht, mein Sohn, verflucht unterm Segen! Dir ist genommen das Vorrecht, entzogen das Priestertum und aufgekündigt die Königsherrschaft. Denn du taugst nicht zur Führung, und verworfen ist deine Erstlingsschaft. Überm Laugenmeer wohnst du und grenzest an Moab. Deine Taten sind schwächlich und deine Früchte unbedeutend. Dank dir, mein Größester, daß du mutig zuhauf kamst und dich tapfer dem Spruche stelltest. [...] Väterlich sei verflucht und leb wohl!« (V, 1793 f.)
So abgefertigt, tritt Ruben zurück, »alle Muskeln seines Gesichts in grimmer Würde angezogen, mit niedergeschlagenen Augen nach Art seiner Mutter, wenn sie mit den Lidern ihr Schielen verhüllte« (V, 1794).
Band IV: 77, 84-87, 92, 94, 157 f., 310, 316 f., 327-331, 336, 389, 398, 412, 415, 480, 491-493, 495-501, 505 f., 508, 510, 512-515, 521 f., 550-553, 554, 556-565, 568 f., 571 f., 573, 582 f., 596-598, 614-627, 629, 658, 707, 807, 842 f., 876 f., 900.
Band V: 918, 983, 1144 f., 1204, 1266, 1545 f., 1555, 1590, 1596, 1600, 1603, 1607, 1615, 1619, 1621, 1625, 1629 f., 1636, 1641, 1647, 1655, 1666-1669, 1672, 1684, 1688, 1747, 1751, 1782, 1789, 1793 f., 1795 f., 1797.
Vgl. Übersicht zur Genealogie und Karte der Stammesgebiete Israels.