Joseph (Jaschup, Jehosiph, Osarsiph, Usarsiph, Damu, Dumuzi, Nezer)
Joseph ist der elfte Sohn Jaakobs und erste Sohn Rahels, Bruder Benjamins und Halbbruder der zehn älteren Jakobssöhne sowie Dinas, Jaakobs einziger Tochter, später Ehemann Asnaths und Vater von Menasse und Ephraim. In Ägypten nennt er sich Usarsiph oder Osarsiph (vgl. IV, 693).
Gleich zu Beginn des Romans, im ersten Kapitel des (ansonsten den »Geschichten Jaakobs« gewidmeten) ersten Bandes, arrangiert der Erzähler eine erste Begegnung seiner Leser mit der Hauptfigur (vgl. IV, 61-120), deren Anblick er zugleich als das Erste inszeniert, dessen auch er selbst ansichtig wird, nachdem er seine »Höllenfahrt« durch den »Brunnen der Vergangenheit« (IV, 9) in die versunkene Welt seiner Geschichte absolviert hat (vgl. IV, 54 f.). Joseph ist hier 17 Jahre alt. Er sitzt in einer vom Mondlicht erhellten Frühlingsnacht am Brunnen des väterlichen Lagers im Hain Mamre bei Hebron, noch halb entblößt vom Bade und mit einem Myrtenkranz im Haar. Seine äußere Erscheinung, besonders sein Gesicht betreffend, mokiert der Erzähler sich ausgiebig über die »in Lied und Legende« überlieferte Mär von Josephs überirdischer Schönheit (IV, 63), verspricht wohl auch seinen Lesern eine »nüchterne Anschauung der Tatsachen« (IV, 64), muss dann aber sogleich kapitulieren und einräumen, dass »der Junge tatsächlich dermaßen hübsch und schön erschien, daß er auf den ersten Blick mehrmals halb und halb für einen Gott gehalten wurde« (IV, 65).
Joseph lebt von früh an in dem Bewusstsein der Auserwähltheit und des ›Aufgespartseins‹; der Myrtenkranz, den er in seiner Jugend fast immer trägt, ist sein Zeichen (vgl. IV, 445), und die hochfliegenden Träume des Jungen geben diesem Bewusstsein Gestalt, besonders sein Himmelstraum (vgl. IV, 459-468). Jaakobs abgöttische Liebe für den langersehnten Erstgeborenen Rahels, »der Rechten und Liebsten« (IV, 114), den er schon im Mutterleib »Dumuzi, echter Sohn« nennt (IV, 335), befördert dieses Bewusstsein der »Prädilektion« (V, 1279) und – nach Rahels frühem Tod – ein androgynes Selbstverständnis: Joseph sieht sich als die dem Vater in Jünglingsgestalt wiedererstattete Rahel, als ›bräutlicher Jüngling‹, dem der Vater denn auch nicht zufällig die Ketônet passîm, Rahels Brautschleier, schenkt (vgl. IV, 483): »Ich und die Mutter sind eins.« (IV, 458) Dieses Selbstbild hat sein mythisches Muster in der Doppelgeschlechtlichkeit Ischtars und Tammuz‘ (vgl. IV, 457 f.) und geht weit über die bloß familiären Bezüge hinaus, betrifft nicht nur Josephs Verhältnis zum Vater, sondern auch zum »Höchsten«, den er sich als »höhere Wiederholung« des Vaters denkt (IV, 50). Ihm weiß er sich aufgespart wie eine Braut, und die Myrte ist sein Schmuck, den er seinem kleinen Bruder Benjamin deshalb verwehrt. Denn die Myrte, ›bitter und herb‹, ist der »Schmuck des Ganzopfers und ist aufgespart den Aufgesparten und vorbehalten den Vorbehaltenen« (IV, 445). Auch der Gedanke des »Ganzopfers« wurzelt bei Joseph nicht nur in der Familiengeschichte, in Isaak, dem »verwehrten Opfer« (IV, 185), sondern ebenfalls im Tammuz-Adonis-Mythos.
Die Liebe des Vaters ist der Keim für den Hass der Brüder. Für das Überhandnehmen dieses Hasses sorgt die ausgeprägte Egozentrik, die den jungen Joseph auszeichnet und zum »Angeben« verleitet (IV, 83), das selbst dem Erzähler – wenn auch nur für einen Moment – das Zugeständnis abringt, dass er, vom »Standpunkt der Brüder« aus gesehen, tatsächlich »ein unausstehlicher Bengel« ist (IV, 393). Dieses Zugeständnis wird allerdings sogleich zurückgenommen, »denn Joseph war mehr« (ebd.).
Die erste Fahrt in die »Grube«, in den Brunnen, in den die Brüder den »Hätschelhans« (IV, 624) werfen, leitet einen Reflexions- und Reifeprozess ein. Der Siebzehnjährige erkennt, dass die »Voraussetzung«, unter der er bis dahin gelebt hat, dass nämlich »jedermann ihn mehr liebe als sich selbst« (IV, 574), eine »über Menschenkraft gehende Voraussetzung gewesen war, mit der er ihre [der Brüder] Seelen durch lange Zeit überanstrengt und ihnen großes Leid zugefügt hatte« (ebd.). Die Einsicht, dass die Welt »viele Mitten« hat, »eine für jedes Wesen«, wie er wenig später Kedma, dem Sohn des alten Midianiters, altklug erklärt (IV, 665), ist das Remedium gegen die egozentrische Perspektive. Mitten im Elend, am Grund des Brunnens, erfassen ihn Reue und Mitleid mit den Brüdern.
Sein Bewusstsein der Auserwähltheit leidet darunter nicht, denn er erkennt auch, dass er es halb bewusst, halb unbewusst darauf angelegt hat, in die »Grube« zu kommen (vgl. IV, 575), und ist »im Untersten« weiterhin davon überzeugt, dass Gott es »weittragend vorhatte« mit ihm, dass er »einen zukünftig-fernen Zweck verfolgte, in dessen Diensten er, Joseph, die Brüder hatte zum Äußersten treiben müssen«, so dass sie notgedrungen »Opfer der Zukunft« hatten werden müssen (IV, 575). Getreu der Idee der »rollenden Sphäre«, der »Wechselentsprechung« zwischen Götter- und Menschengeschichten (IV, 190), die er bei Eliezer gelernt hat, ist er überzeugt, dass das Geschehen »auf Heilig-Bekanntem fußt« (IV, 581), dass nämlich seine Fahrt in die »Grube« dem »Urvorbild des Gestirntodes« folgt, des »toten Mondes« (d.i. der Neumond), »den man nicht sieht drei Tage lang vor seinem zarten Wiedererstehen, des Sterbens der Lichtgötter zumal, die der Unterwelt verfallen für einige Zeit« (IV, 583). Dass er nach drei Tagen aus dem Brunnen befreit wird, bestätigt ihm seine mythische Sicht der Dinge. Der Brunnen (wie später auch das Gefängnis von Zawi-Rê, in das er sich durch seine Geschichte mit Mut-em-enet ähnlich mutwillig bringen wird) gilt ihm als die Unterwelt, ist der »Abgrund, in den der wahrhafte Sohn steigt, er, der eins mit der Mutter ist und mit ihr das Gewand trägt im Austausch« (ebd.). Auch hier stehen Tammuz und seine griechischen bzw. ägyptischen Entsprechungen, Adonis und Usir (Osiris), Pate. Letzterem ist der »Totenname« Usarsiph geschuldet, den Joseph wenig später annimmt (IV, 693). Der Erzähler hält sich aus den mythologischen Spekulationen seiner Figur fein heraus, indem er sie psychologisierend als »Maßnahme der Natur« zu verstehen nahelegt, die dem offenkundig Todgeweihten über »das Unerträgliche« hinweghilft: »Denn die natürliche Hoffnung, an der das Leben festhält bis zum äußersten, braucht eine vernünftige Rechtfertigung, und diese fand sie in solcher Verwechslung.« (IV, 584)
Auch Joseph wandelt also – wie seine Vorfahren und Brüder – »in Spuren«, in vorgeprägten Mustern, denn, so der Erzähler, »alles Leben ist Ausfüllung mythischer Formen mit Gegenwart« (IV, 819). Bei Joseph hat diese Bindung an mythische Schemata aber eine stark spielerische Note, wie schon der Umstand zeigt, dass er, anders als der Vater, geringe Berührungsängste mit den Göttern und Kulten der benachbarten (kanaanitischen, babylonischen, ägyptischen) Kulturen hat, die Jaakob größtenteils perhorresziert. Josephs Bindung an überlieferte Muster ist das Ergebnis einer freien Wahl, der Wahl eines Subjekts, das in anderer Weise »Ich« zu sagen weiß als seine Vorfahren und Brüder. Denn anders als sie (anders zumal als Eliezer) versteht er sich als »Einzig-Besonderes« (IV, 1422), als unverwechselbares und unwiederholbares Individuum, wie er gern mit der »stets erschreckenden Formel ›Ich bin’s‹« kundtut (1328, vgl. auch 1308 f., 1370, 1421, 1685 u.ö.). Das Besondere an seinem Verhältnis zur überlieferten mythischen Form ist, wie der Dreißigjährige seinem künftigen Herrn, Echnatôn, erklärt, »daß es ein Ich ist und ein Einzig-Besonderes, durch das die Form und das Überlieferte sich erfüllen« (IV, 1422). Deshalb ist dieses Ich auch nicht an ein bestimmtes mythisches Schema gebunden, sondern kann wechseln, etwa von Tammuz (Adonis, Osiris) in der Jugend zu Hermes (Nabu, Thot), dem Leitmodell der reiferen Jahre.
Die Verbindung von freier Subjektivität und mythischer Gebundenheit, die der gereifte Joseph, der künftige »Ernährer«, praktiziert, trägt das »Siegel der Gottesvernunft« (ebd.), wie er in dem großen Gespräch mit Echnatôn feststellt. Gemeint ist damit eine Vernunft, die (anders als Echnatôns Atôn-Religion) der sinnlich-sittlichen Doppelnatur des Menschen Rechnung trägt: »Denn das musterhaft Überlieferte kommt aus der Tiefe, die unten liegt, und ist, was uns bindet. Aber das Ich ist von Gott und ist des Geistes, der ist frei. Dies aber ist gesittetes Leben, daß sich das Bindend-Musterhafte des Grundes mit der Gottesfreiheit des Ich erfülle, und ist keine Menschengesittung ohne das eine und ohne das andere.« (V, 1422)
Was Joseph hier als ethische Maxime formuliert, formulieren der Erzähler und später auch Jaakob mythisch: mit der Formel vom doppelten Segen, der auf Joseph ruhe, dem Segen »von oben herab und von der Tiefe, die unten liegt« (V, 1508 u.ö.), der die Vermittlung von Oben und Unten, Himmel und Erde, Geistigkeit und Sinnlichkeit, freiem Ich und bindendem Kollektiv befördert. Es ist ein »weltlicher Segen«, wie Jaakob spät einsieht (V, 1745), weshalb er sich seinen lange gehegten Wunsch versagt, dem geliebten elften Sohn gegen alles Herkommen den Erstgeburtssegen zuzuspielen: Joseph, so lässt er diesen beim Wiedersehen in Ägypten wissen, sei »der Erstgeborene […] in irdischen Dingen und ein Wohltäter, wie den Fremden, so auch Vater und Brüdern«, aber das geistliche Heil werde ein anderer bringen (ebd.), der, so darf man ergänzen, aus dem Stamm des Trägers des Erstgeburtssegens, aus Juda, entspringen wird (vgl. dazu auch Schilo). Joseph ist also nicht Teil der Heilsgeschichte, er ist kein religiöser Führer und seine Ethik keine geistliche, sondern eine diesseitige, weltliche. Gleichwohl mutmaßt der Erzähler, dass die »stille Hoffnung Gottes« vielleicht gerade in dieser weltlichen Ethik liegen könnte, in der Herausbildung »eines Menschentums, das gesegnet wäre mit Segen oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe, die unten liegt« (IV, 48 f.).
Mythisches Modell dieser Ethik der Vermittlung ist Hermes, der Mittler und schelmische Unterhändler »zwischen entgegengesetzten Sphären und Einflüssen« (V, 1758), der nicht zuletzt Josephs Handeln als Wirtschaftsminister sein Gepräge gibt und ihn als »schelmischen Diener« (V, 1757) ausweist. Denn Josephs »Wirtschaftssystem« ist »eine überraschende Verbindung von Vergesellschaftung und Inhaberfreiheit des einzelnen« (d.h., modern gesprochen, von Sozialismus und Kapitalismus), »eine Mischung, die durchaus als schelmisch und als Manifestation einer verschlagenen Mittlergottheit empfunden wurde« (V, 1766).
Die »Gottesfreiheit des Ich« erfüllt sich auch (moralisch gesprochen) in der Selbstverantwortung für die eigene Lebensgeschichte oder (ästhetisch-poetologisch gesprochen) in deren bewusster, künstlerischer Inszenierung, die zumal bei der Gestaltung des Wiedersehens mit den Brüdern thematisch wird. Das Vertrauen in die göttliche Fügung bleibt davon unberührt, im Gegenteil, es geht vielmehr darum, so setzt Joseph seinem Freund und Hausverwalter Mai-Sachme vor der Ankunft der Brüder in Ägypten auseinander, Gott bei deren Aus- und Durchführung behilflich zu sein: »Was für eine Geschichte, Mai, in der wir sind! Es ist eine der besten! Und nun kommt's darauf an und liegt uns ob, daß wir sie ausgestalten recht und fein und das Ergötzlichste daraus machen und Gott all unseren Witz zur Verfügung stellen.« (V, 1590) Im Konzept des freien Ich nicht als Autor, aber als Erzähler seiner Geschichte werden Ethik und Poetik des Romans zusammengeführt.
In der Charakterisierung der Figur modelliert TM seine Idee des modernen (nachaufklärerischen) Subjekts, das, wie er 1942 in einem Vortrag mit deutlichen Anspielungen auf den zeitgeschichtlichen Kontext ausführte, aus »sträflicher Egozentrizität« und »übermütiger Absolutheit« den Weg zurück »ins Kollektive, Gemeinsame« findet. Josephs Geschichte sei ein »Märchen«, in dem sich der Gegensatz von »Vereinzelung und Gemeinschaft, Individuum und Kollektiv« aufhebe, »wie er sich nach unserer Hoffnung, unserem Willen aufheben soll in der Demokratie der Zukunft, dem Zusammenwirken freier und unterschiedener Nationen unter dem Gleichheitszepter des Rechts« (Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag. In: T.M., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. 2., durchgesehene Aufl. Frankfurt a. M.: Fischer 1974. Bd. 11, S. 654-669, hier S. 666 f.). – Die Beschreibung von Josephs Wirtschaftspolitik spielt auf Franklin D. Roosevelts Politik des »New Deal« an, worauf der Autor 1948 im Vorwort zur einbändigen amerikanischen Ausgabe des Romans selbst hinweist (vgl. Sechzehn Jahre. Zur amerikanischen Ausgabe von ›Joseph und seine Brüder‹ in einem Bande. In: T.M., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. 2., durchgesehene Aufl. Frankfurt a. M.: Fischer 1974. Bd. 11, S.669-681, hier S. 680).