Semael

Semael war, bevor er gestürzt wurde, ein ›sehr großer Fürst unter den Engeln‹, »da er zwölf Paar Flügel besaß, die heiligen Tiere und die Seraphim aber nur je sechs« (IV, 47). Er wurde gestürzt, weil er sich der göttlichen Forderung widersetzt hatte, sich vor Adam »seiner Vernunft wegen und weil er alle Dinge bei Namen zu nennen wußte« zu verbeugen. Er hielt es für Unsinn (und sagte es auch mit »wilder Offenheit«), dass »die aus dem Glanz der Herrlichkeit Erschaffenen vor dem aus Staub und Erde Gemachten niedersänken«. Sein Sturz hatte nach Eliezers Beschreibung von weitem ausgesehen, »wie wenn ein Stern fällt« (IV, 47).

Semael war der erste, der das Böse dachte und in die Welt setzte (V, 1281). In den »Oberen Rängen« will man sogar wissen, dass die Idee, den Menschen zu erschaffen, von Semael stammte. Dabei sei es ihm darauf angekommen, »das Böse, seinen eigensten Gedanken, den sonst niemand hegte noch kannte, zu verwirklichen und in die Welt zu setzen«. Dazu »war genau das Geschöpf nötig gewesen, das Semael aller Vermutung nach dort in Vorschlag gebracht hatte: ein Gottesgleichnis, das zugleich fruchtbar war, also der Mensch« (V, 1281).

Weiter wird gemunkelt, dass Semael keineswegs verhehlt habe, dass mit diesem Geschöpf auch das Böse in die Welt kommen würde. Vielmehr habe er Gott vermutlich »in gewohnter Großartigkeit« reinen Wein eingeschenkt und ihm die Erschaffung des Menschen schmackhaft gemacht mit dem »Hinweis auf den Zuwachs an Lebendigkeit, den das Wesen des Schöpfers dadurch erfahren werde« (V, 1281). Der Erzähler hält das alles für ziemlich ausgemacht, zumal in »hebräischen Kommentaren zur Urgeschichte« zu lesen steht, dass und warum Gott gewusst haben muss, dass mit dem neuen Geschöpf auch das Böse entstehen werde: Genau dieses Detail seines schöpferischen Vorhabens habe er nämlich den Engeln »aus Besorgnis, es möchten ihm von dieser Seite Schwierigkeiten gemacht werden«, verschwiegen (IV, 46).

Was das Strafen und Belohnen angeht, das mit der Erschaffung des Bösen und damit auch Guten zu Gottes Aufgabe geworden war, so ist man in den ›oberen Rängen‹ (angesichts von Geschichten wie der des Henoch besonders) der Meinung, dass »die auf Semaels Rat gestiftete moralische Welt nicht mit dem nötigen Ernst gehandhabt« wird, ja, es »fehlte nicht viel, es fehlte zuweilen überhaupt nichts, daß man in den Kreisen geurteilt hätte, Semael meine es mit der moralischen Welt viel ernster als Er« (V, 1284).

Auch nach Semaels Sturz kommt die englische Gerüchteküche nicht zur Ruhe. Man munkelt, dass Semaels »Anregung«, den Menschen zu schaffen, »nicht die letzte gewesen war, die er dem Throne hatte zukommen lassen«, was zugleich bedeuten würde, dass Gott mit dem Gestürzten weiterhin Umgang pflegt und entweder »hinter dem Rücken der Umgebung« Fahrten in den »Pfuhl« (d.h. in die Hölle) unternimmt oder Semael heimlich vor den Thron treten lässt (V, 1286). Es geht nämlich das Gerücht, dass Gott vorhabe, sich »in einem noch nicht vorhandenen, aber heranzubildenden Wahlvolk« zu verleiblichen, um es den »anderen magisch-mächtigen und fleischlich-lebensvollen Volks- und Stammesgottheiten dieser Erde« gleichzutun, ein Vorhaben, das ihm niemand anderes als der »große Semael« eingeflüstert haben könne (V, 1288).

Semaels Motive bei diesem Ratschlag sind »Bosheit und der brennende Wunsch, Verlegenheiten zu bereiten«, denn er weiß, dass es mit dem Versuch, wie andere Götter zu sein, »nie und nimmer ein gutes Ende nehmen« und selbst noch die vorauszusehende reuige »Umkehr und Selbstbesinnung« Gottes von einer »der Urbosheit erfreulichen Beschämung« begleitet sein würde (V, 1289 f.). Dass zudem das als »Wahlvolk« ins Auge gefasste Volk Israel es »keimweise, von Anfang an sozusagen besser wußte als sein Volksgott, und alle Kräfte seiner reifenden Vernunft daransetzte, Ihm aus seiner unangemessenen Lage wieder ins Jenseitig-Allgültig-Geistige zurückzuhelfen«, darin liegt für Semael der »Witzpunkt des Vorganges« (V, 1291).

Die »nicht geheueren Fußstapfen«, in denen der ›böse Bruder‹ und ›Rote‹ Ismael wandelt, sind die Fußstapfen Semaels: »Die leichteste Abänderung der ersten Silbe seines Namens genügt, um diesen in seinem ganzen Hochmut herzustellen« (IV, 193).

Die Erzählung von Semaels (Satans) Höllensturz stützt sich auf Gorion I (254-256). – Zum Einfluss von Oskar Goldberg (Die Wirklichkeit der Hebräer, Berlin 1925) auf das »Vorspiel in Oberen Rängen« (V, 1279-1291) vgl. Fischer (691-693) und die dort genannte Literatur.

Letzte Änderung: 21.03.2010  |  Seitenanfang / Lexikon   |  pfeil Zurück