Eliezer
Jaakobs ›Ältester Knecht‹ und ›Hauslehrer‹ des jungen Joseph, ein »gelehrter Greis« (IV, 121), Vater von Damasek und Elinos. Gleich zu Beginn des Romans wird dem Leser eingeschärft, dass dieser Eliezer keineswegs zu verwechseln sei mit Abrahams gleichnamigem Ältestem Knecht (IV, 121), »der einst die Tochter Bethuels am Brunnen für Isaak gefreit hatte« (IV, 19). Denn zwischen Jaakob und Abraham und also auch zwischen beider Eliezer liege eine »Geschlechterfolge, die die Jahrhunderte gefüllt haben muß« (IV, 128). In diesen Jahrhunderten hatte »so mancher Abraham, Isaak und Jaakob die Geburt des Tages aus der Nacht geschaut« (IV, 129), und ebenso hatte es seither »auf den Höfen der Häupter ihn, den freigelassenen Eliezer, gar oft gegeben, und oft hatte er Söhne mit Namen Damasek und Elinos gehabt« (IV, 122; vgl. auch IV, 421 f.).
Das ist soweit »sonnenklar«. Im Licht des Mondes allerdings »nehmen die Dinge sich anders aus« (IV, 121), verschwimmen die Grenzen zwischen Abrahams und Jaakobs Hausvogt, und weder Jaakob noch Joseph noch auch Eliezer selbst nehmen es »mit der Zeit und dem Fleische übertrieben genau« (IV, 129), in denen die beiden Eliezers gewandelt sind. Das liegt an ihrer »Lebensauffassung«, die die »Aufgabe des individuellen Daseins darin erblickt, gegebene Formen, ein mythisches Schema, das von den Vätern gegründet wurde, mit Gegenwart auszufüllen und wieder Fleisch werden zu lassen« (IV, 127). Der »Gedanke der Individualität« besaß »bei weitem nicht immer solche Gewalt über die Gemüter wie in dem Heute, das wir verlassen haben, um von einem anderen zu erzählen« (IV, 123).
Eliezers Ich ist also nicht »ganz fest umzirkt«, es steht »gleichsam nach hinten offen«, so dass er, »wenn er von ›sich‹ sprach, zu einem guten Teil Eliezer, den Knecht Abrahams meinte« (IV, 123). Oft identifiziert er sich auch ganz mit ihm und erzählt seinem Zögling Joseph die Geschichten von ›Ur-Eliezer‹ in der ersten statt in der dritten Person, was »bei Sonnenlicht betrachtet« eigentlich nicht angeht (IV, 123), nach den Regeln der »Mondgrammatik« (IV, 121) aber ganz in der Ordnung ist (vgl. auch IV, 421 f.).
Besonders oft und gern erzählt er seinem Schüler die Geschichte ›seiner‹ Brautwerbung für Isaak (IV, 421), davon, wie ›er‹ Rebekka zuerst am Brunnen vor Charran angetroffen habe (IV, 122) und wie ›er‹ die weite Reise von Beerscheba nach Charran, die mindestens siebzehn Tage erfordert hätte, in nur drei Tagen zurückgelegt habe, weil »die Erde ihm entgegengesprungen« sei (IV, 423). Die Geschichte ist nach Überzeugung des Erzählers nicht nur ein Beispielfall der ›mondgrammatischen‹ Redeweise von Leuten, »die nicht recht wissen, wer sie sind« (IV, 128), sondern auch Exempel für eine nach dem Gesetz der ›rollenden Sphäre‹ (IV, 422) »heruntergekommene« Göttergeschichte (IV, 424). Denn Eliezers Behauptung, dass »die Erde ihm entgegengesprungen« sei, lasse sich nur dann vernünftig erklären, wenn man sich nicht nur seine Füße, sondern auch sein »Hütchen beflügelt« vorstelle, also annehme, dass seine »irdisch-fleischliche Reise« auf einer »überirdischen« Geschichte (d. h. auf den Geschichten des Hermes) fuße, und Eliezer eben »nicht nur die grammatischen Formen, sondern auch die Formen der Geschichte selbst ein wenig durcheinanderbrachte« (IV, 424).
Abrahams Eliezer ist dem ›schönen Gespräch‹ zufolge ein »natürlicher Sohn« (IV, 128) Abrahams, den dieser mit einer Magd gezeugt und freigelassen hatte (IV, 116, 121, 420) und dessen ältesten Sohn Damasek er sogar, solange Isaak noch nicht geboren war, als seinen Erben hatte betrachten müssen (IV, 121, 420 f.). Dass er ein Geschenk des Nimrod von Babel (d.i. Chammuragasch) gewesen sei, wie manche behaupten (IV, 419), hält der Erzähler für eine Fabel (IV, 420).
Auch Jaakobs Eliezer ist der Sohn einer Sklavin, »wahrscheinlich sogar ein Halbbruder Jaakobs«, also ein ›natürlicher Sohn‹ Isaaks (IV, 121, 421). Er ist »von Jaakobs Jahren, etwas älter als dieser« (IV, 399).
Die Leute behaupten, Eliezer sehe Abraham ähnlich (IV, 399, 419). Das könne, meint der Erzähler, da von Abraham kein Bild überliefert sei, nur so zu verstehen sein, dass Eliezers Erscheinung bei dem Versuch, sich den ›Urwanderer‹ vorzustellen, eine geeignete Hilfestellung biete. Seine Gesichtszüge, seine Körpergestalt und Haltung seien »groß und würdig« und hätten »etwas ruhig Allgemeines und göttlich Nichtssagendes«, das es leicht mache, sein Bild auf ein »ehrwürdig Unbekanntes aus der Vorzeit zu übertragen«. Von seinem Gesicht, das minutiös beschrieben wird (IV, 399 f), heißt es, es erwecke »die Vorstellung, es sei abnehmbar, und darunter möchte erst Eliezers eigentliches Gesicht sich befinden« (IV, 400).
Eliezer unterrichtet Joseph unter dem Unterweisungsbaum im Hain Mamre »in vielen nützlichen und übernützlichen Kenntnissen« (IV, 121), unterzieht ihn zahlreichen »Übungen des Scharfsinns und des Gedächtnisses« und überliefert ihm die Mythen, »Schnurren und Histörchen«, mit deren Wiedergabe Joseph dann »huldreichen Mundes die Leute bezauberte« (IV, 400). Er besitzt zahlreiche Schrifttafeln und »Bruchstücke großer Versfabeln der Urzeit«, darunter vor allem babylonische Epen, die Joseph »mit dem Finger« liest und abschreibt (IV, 408). Eliezers Unterricht ist ein langer Abschnitt gewidmet (IV, 399-409).
Bei der Vermittlung der mythischen Überlieferung an Joseph folgt Eliezer dem Gesetz der ›rollenden Sphäre‹. So spricht er etwa von Abraham mit ›gespaltener Zunge‹ (IV, 435), beschreibt ihn einerseits als den ›Erdenkloß‹, der Gott entdeckt hatte, und macht ihn andererseits »durchscheinend« für eine andere, ältere, göttliche Figur, die »tief« hinter ihm sichtbar wird, so dass »die Augen des Jungen sich ebenso schwimmend in dieser Persönlichkeitsdurchsicht brachen wie in der ›Eliezer‹ genannten«. Gemeint ist die ›Projektion‹ der Legende von Abrahams »Höhlenkindheit« auf die des Zeus (IV, 436).
Eliezer, »diese Einrichtung von einem Greise, der auf so besondere Weise ›Ich‹ zu sagen wußte« (IV, 634), versorgt den um Joseph trauernden Jaakob, bringt ihm Speise, wischt ihm den Schweiß von der Stirn, baut ihm ein Sonnendach und klagt mit ihm oder ermahnt den mit Gott Hadernden zu Mäßigung (IV, 634-654).
Nach seinem Tod, von dem Joseph bei der ersten Wiederbegegnung mit den Brüdern in Ägypten erfährt, rückt Eliezers ältester Sohn Damasek an seine Stelle und heißt fortan Eliezer (V, 1610). Aber für Jaakob ist er »nicht, was sein Vater, der Brautwerber, war, dem die Erde entgegensprang, und wäre mir nicht gewesen, was jener mir war in der Zeit der blutigen Tränen« (V, 1775).
Den Bezug zwischen Eliezer und Hermes stellt Braun her (I, 278 f.; vgl. auch 122, 283 u.ö.), dort findet sich auch die Parallelisierung von Abrahams und Zeus' Kindheit (I, 279 f.). – Die Geschichte von Eliezers Express-Reise nach Charran mag TM bei Gorion (II, 328) gefunden haben, der davon spricht, »daß die Straße ihm entgegenhüpfte« (hier beträgt die Reisezeit gar nur drei Stunden).