Ismael

Der Sohn Abrahams und seiner ägyptischen Magd Hagar war eigentlich Abrahams Erstgeborener, denn Isaak, der Sohn der ›Rechten‹, wurde nach ihm geboren. Deshalb hatte Sara »alle Tage die Austreibung der Ägypterin und ihrer Frucht« betrieben, und Abraham war es nicht unrecht gewesen, denn Ismaels »unterweltliche Anlagen« waren in den Augen des Vaters von Anfang an viel zu deutlich zutage getreten, »als daß an seinen Verbleib im Oberlichte der Gottgefälligkeit auf die Dauer zu denken gewesen wäre« (IV, 192).

Zu diesen ›Anlagen‹ werden auch homoerotische Neigungen gezählt, und als Abraham eines Tages »den Ismael auf unterweltliche Weise mit Isaak, seinem jüngeren Halbbruder, scherzen sah«, war es soweit: Der Ur-Vater »gab der überheblichen Hagar ihren Sohn nebst etwas Wasser und Fladen und hieß sie sich umsehen in der Welt ohne Wiederkehr« (IV, 193). Ismael und Hagar gingen in die Wüste »vor Ägypten« (IV, 130), womit wohl der Sinai gemeint ist, und Ismael, der »unrechte Sohn«, wurde ein arabischer Stammvater und Herr der Wüste, ein ›Bedu-Häuptling‹ und ein ›Unbehauster‹, was ihn, wenn man die Dinge »mit beiden Augen« zu sehen gelernt hat, zugleich als einen ›Sohn und Fürsten der Unterwelt‹ kenntlich macht (IV, 437).

Ismael ist der »Gegenbruder« von Isaak (IV, 135), dem ›wahrhaften Sohn‹ (IV, 121), so wie Kain, Cham und Esau ›Gegenbrüder‹ von Habel, Sem und Jaakob sind (IV, 194). Er ist einer von den ›Roten‹ (vgl. IV, 188-194), der Wüste Zugehörigen, Üblen: »Ja, er ist der Böse, er ist der Rote« (IV, 193). Deshalb nützt es auch wenig, die individuelle Erscheinung des Typus zu vertreiben: Er kehrt in neuer Gestalt zurück. »Abraham mochte ihn immerhin austreiben und sein Segenssöhnchen vor seinen feurig-unrichtigen Nachstellungen schützen: als Isaak zeugte in des Weibes Schoß, da kehrte der Rote wieder, um zu leben in seinen Geschichten neben Jaakob, dem Angenehmen«. Die Rede ist von Esau (IV, 193 f.).

Nach dem Gesetz der ›rollenden Sphäre‹ (vgl. IV, 188-194) kann das mythische Muster von Bruder und ›Gegenbruder‹ auch im Verhältnis von Vater und Sohn erscheinen, »und es entmannt der Sohn den Vater, oder der Vater schlachtet den Sohn« (IV, 194). Schließlich kann einer auch im doppelten ›Gegen‹-Verhältnis stehen und als Sohn wie als Bruder die Rolle des ›Bösen‹ gleichzeitig spielen. Das ist bei Ismael der Fall: Er steht zwischen Abraham und Isaak, »jenem ist er der Sohn mit der Sichel« wie Zeus dem Kronos (vgl. IV, 191 f.) und »diesem der rote Bruder« wie Set dem Usiri. Die Frage, wann denn Ismael versucht haben soll, seinen Vater zu entmannen, ist rasch beantwortet: Er sei ja drauf und dran gewesen, Isaak »zu unterweltlicher Liebe zu verleiten«, und wenn ihm das gelungen wäre und Isaak nicht gezeugt hätte, wäre der Stammvater kein Stammvater und »Vater sehr vieler« geworden (IV, 194).

Die »Fußstapfen«, in denen Ismael geht, sind ›nicht geheuer‹. Es sind zunächst die des Urbilds der ›Roten‹, des ägyptischen Brudermörders Set. Wenn es von Ismael heißt, dass er »sozusagen ›nicht von gestern‹« sei (IV, 193), so will das offenkundig nicht besagen, dass er ›sozusagen von heute‹ ist, also jüngeren Spuren folgt, sondern ganz im Gegenteil: Sein Typus ist noch viel älter, sein mythisches Muster stammt »aus den Tagen des Set« (IV, 21). An Set gemahnen auch Ismaels Künste im Bogenschießen, was die ›Lehrer‹ dazu angeregt haben mag, ihn auch gleich noch mit einem Wald- oder Wildesel zu vergleichen, »dem Tiere Typhon-Sets, des Mörders«. Abraham selbst sieht in seinem Erstgeborenen ebenfalls den »feurigen Typhon«, der sein »Segenssöhnchen« mit seinen ›unterweltlichen‹ Verführungen bedroht (IV, 193).

Aber Sets Spur weist selbst auf noch ältere und noch ungeheurere »Fußstapfen« zurück: Es sind die Semaels, des gestürzten Fürsten der Engel, der als erster das Böse dachte (V, 1281). In seiner Spur geht auch Ismael: »Die leichteste Abänderung der ersten Silbe seines Namens genügt, um diesen in seinem ganzen Hochmut herzustellen« (IV, 193).

Ismael ist »schön wie der Sonnenuntergang in der Wüste« (IV, 192). Der Erzähler versäumt es selten, seine ›wilde‹, ›dunkle‹, ›feurige‹ Schönheit zu erwähnen (IV, 199, 214, 587 u.ö.).

Der »dunkelschöne Ismael« hatte »eine Tochter des Schlammes« (V, 961; IV, 130), eine Ägypterin geheiratet, weshalb Josephs Heirat mit Asnath eine »Ismael-Heirat« genannt wird, »nicht ohne Vorbild also, aber immerhin von bedenklichem Vorbild und all der Nachsicht bedürftig, deren er sich, wie es scheint, zutraulich versichert hielt« (V, 1518). Auch »der genäschige Ascher nahm sich ein braunes Kind vom Stamme Ismael« (V, 1540), und der Erzähler hält es für nicht ausgeschlossen, dass Aschers musikbegabte Tochter Serach »von dem schönen und wilden Habbruder Isaaks etwas ins Blut bekommen (hatte), das sie singen machte« (V, 1698).

Esau, der »so ziemlich (wußte), welche Bewandtnis es mit ihm hatte« (IV, 194), schließt sich seinem Oheim zeitweise eng an, vor allem nach dem Segensbetrug besucht er ihn »auffallend oft in seiner Wüstenunterwelt« (IV, 192). Nichts sei begreiflicher, findet der Erzähler: Ismael und Esau sind »desselben benachteiligten Stammes«, und sie gehen in »denselben Fußstapfen« (IV, 214). Einen Unterschied allerdings gibt es: Ismael »kam auf Neues, während Esau nur Hergebrachtes im Sinne hatte« (IV, 215). Esaus »Blutwünsche«, die nicht nur dem Bruder und Segensbetrüger, sondern auch dem Vater Isaak gelten (IV, 214), sollen nach Ismaels Vorschlag befriedigt werden, indem Esau den Vater, Ismael aber den Neffen Jaakob ermordet. Esau, der es sich andersherum vorgestellt hatte, kann solcher Abweichung vom Hergebrachten nicht folgen: »Vatermord, das kam nicht vor unter den Möglichkeiten seines Denkens, das war nie geschehen, das gab es nicht, der Vorschlag war ohne Hand und Fuß, es war ein in sich absurder Vorschlag.«

Ismael lacht über des Neffen »mundoffene Begriffsstutzigkeit« und sagt und rät ihm »Dinge«, bei denen sich Esaus rote Zotteln sträuben: Er lässt ihn wissen, dass der Vatermord durchaus nicht ohne Wurzeln, vielleicht sogar »der Anfang von allem gewesen« sei, und rät ihm, den Vater zu erschlagen und dann »reichlich von seinem Fleische zu essen, um sich seine Weisheit und Macht, den Abramssegen, den jener trage, einzuverleiben, zu welchem Zwecke er denn Isaaks Leib auch nicht kochen dürfe, sondern ihn roh verzehren müsse mit Blut und Knochen, – worauf also Esau davonlief« (IV, 215).

Der Name »Ismaeliter« wird als zusammenfassende Bezeichnung der in den Wüsten südlich von Kanaan, in Muzri-Land, beheimateten Wüstenstämme verwendet. Die nach Keturas Sohn Midian benannten Midianiter, die Joseph nach Ägypten bringen, haben nichts dagegen, wenn man sie »einfach und allgemein mit dem alles Wüsten- und Steppenhafte umfassenden Namen von Ismaelitern belegte« und also nicht Ketura, sondern »die andere Wüstenfrau, Hagar, die Ägypterin, als ihre Stammutter annahm« (IV, 587). Im Gegenteil: »wozu nennt man uns Ismaeliten, wenn wir nicht sollten bei stiller Gelegenheit uns etwas räuberisch erweisen und die Eifersucht hintergehen?« (IV, 588)

Die Brüder reden sich ein, dass sie mit Josephs Verkauf der mythischen Spur folgen, die Abraham mit der Verstoßung Ismaels und Hagars einst gelegt hatte: »Der Fahrenden Ahnherr – war er nicht von Abraham in die Wüste geschickt worden mit Hagar, weil er unterweltlicherweise gescherzt hatte mit Isaak, dem Sohne der Rechten? Mit Ismaels Söhnen sollte Joseph abgeschoben sein in die Wüste – nicht wurzellos war der Vorgang, es gab ihn, er kehrte wieder. Neu, wenn man will, und eigen-ursprüngliche Zutat war der Verkaufsgedanke« (IV, 600).

Über die Entsprechungen zwischen Ismael und Typhon/Set fand TM Material bei Braun (I, 289 f.); dort auch einen Hinweis auf die Beziehung zu Semael. Der Vergleich Ismaels mit einem Wald- oder Wildesel (IV, 193, 200), der die Verbindungen zu Typhon/Set und dem Muster der ›Roten‹ beglaubigen soll, stützt sich ebenfalls auf Braun (ebd.) sowie auf eine bei Jeremias I (306) zitierte Übersetzung von Genesis 16,12, wonach ein Engel der Hagar prophezeit, dass ihr Sohn Ismael »ein Mensch wie ein Wildesel« (statt »ein wilder Mensch«) sein werde.

An Berger (169-171) anknüpfend, vermutet Fischer (359) in Ismaels Empfehlung an Esau, vom Fleisch des erschlagenen Vaters zu essen, eine Anspielung auf Freuds Theorie der ›Urhorde‹ und des von ihr begangenen ersten Vatermords (»Totem und Tabu«, 1913).

Letzte Änderung: 17.08.2013  |  Seitenanfang / Lexikon   |  pfeil Zurück