Bolkonski, Fürst Andrej Nikolajewitsch (André, Andrjuscha)

Sohn des alten Fürsten Bolkonski, Bruder von Prinzessin Marja, Ehemann der ›kleinen Fürstin‹ Lisa, Freund von Pierre. Er zieht 1805 als Adjutant Kutusows in den Krieg und wird bei Austerlitz verwundet. Danach und nach dem Tod seiner Frau lebt er mehrere Jahre auf dem Land, geht 1809 nach Petersburg und nach seiner Verlobung mit Natascha Rostowa im Frühjahr 1810 für ein Jahr ins Ausland. Nach dem Bruch mit Natascha tritt er wieder in die Armee ein und wird in der Schlacht bei Borodino schwer verwundet. Er wird zunächst nach Moskau und von dort im Wagenzug der Rostows nach Jaroslawl gebracht, wo er, nachdem er sich mit Natascha versöhnt hat, stirbt.

Andrej Bolkonski ist ein »nicht sehr großer, recht gutaussehender junger Mann« mit einem »müden, gelangweilten Blick« und »scharfen und abweisenden Gesichtszügen« (1/I,III,26), die sich allerdings in bestimmten Momenten – etwa bei der Begegnung mit Freund Pierre – in »ein überraschend gütiges und angenehmes Lächeln« verwandeln können (1/I,III,27).

Zu Beginn des Romans ist er ungefähr 27 Jahre alt (2/III,III,742) und steht im Begriff, als Adjutant Kutusows zur Armee zu gehen. Seine schwangere Frau bringt er zuvor in die Obhut seines Vaters und seiner Schwester Marja nach Lyssyje Gory. Er ist ihrer schon nach einem halben Ehejahr überdrüssig und begegnet ihr kühl und distanziert. Wie er Pierre gesteht, bereut er die Eheschließung, sieht sich aller Entfaltungsmöglichkeiten beraubt, weil alles, was »gut und edel« in ihm sei, »an Nichtigkeiten vergeudet« werde (1/I,VI,50): »Salons, Klatsch, Bälle, Eitelkeit und Trivialität – das ist der Teufelskreis, aus dem ich nicht herauskann.« (1/I,VI,51)

Der Dienst in der Armee verändert seine Gemütsverfassung, von seiner »früheren Blasiertheit, Mattigkeit und Schlaffheit« ist nichts mehr zu bemerken (1/II,III,215). Er ist ehrgeizig, hofft auf Ruhm und einen glänzenden Aufstieg. Am Vorabend der Schlacht bei Austerlitz malt er sich sein persönliches »Toulon« aus und gesteht sich ein, dass er dem Ruhm alles opfern würde (1/III,XII,462f.). In der Schlacht hält er die fliehenden Soldaten eines Bataillons auf, indem er eine sinkende Fahne ergreift und mit Hurrageschrei voranmarschiert (1/III,XVI,490f.). Von einem feindlichen Geschoss getroffen, sinkt er rücklings zu Boden. Der Blick in den »hohen, unendlichen Himmel« verändert schlagartig sein Denken (1/III,XVI,492). Nach der Schlacht findet Napoleon höchstpersönlich den Schwerverletzten und lässt ihn in ärztliche Obhut bringen (1/III,XIX,511). Bolkonski erscheint sein einstiger Held Napoleon nun – unter dem Eindruck der »strengen und erhabenen« Gedanken, zu denen er beim Anblick des »hohen, gerechten und gütigen Himmel[s]« gelangt ist – klein und unbedeutend (1/III,XIX,513).

Nach langer Genesungszeit kehrt er erst unmittelbar vor der Geburt seines Sohnes Nikolai heim (2/I,VIII,570) und erlebt den Tod seiner Frau (2/I,IX,573), der ihn tief verstört (2/I,IX,573f.; 2/II,XII,682f.). Entschlossen, nicht wieder in der Armee zu dienen, übernimmt er das Gut Bogutscharowo, vierzig Werst von Lyssyje Gory entfernt (2/,VIII,646), und bei Beginn des Vierten Koalitionskrieges 1806/07 nimmt er eine Stelle zur Aushebung der Landwehr unter dem Befehl seines Vaters an, der zum Oberkommandierenden der Landwehr für drei Gouvernements ernannt worden ist (2/II,VIII,647). Bei einem Besuch Pierres in Bogutscharowo disputieren die Freunde ausgiebig über Sinn- und moralische Fragen (2/II,XI,673ff.), darunter auch über das Leben nach dem Tode, ein Gespräch, das Bolkonski tief berührt (2/II,XII,680-683).

In den folgenden zwei Jahren arbeitet er auf seinem Gut an der Verbesserung der sozialen Lage der Bauern und realisiert als einer der ersten adeligen Grundbesitzer in Russland die Bauernbefreiung (2/III,I,734). Daneben arbeitet er an einem Entwurf zur Veränderung militärischer Statuten und Reglements (2/III,I,735). Bei alledem hat er die Hoffnung auf persönliches Glück aufgegeben, hält »Frühling und Liebe und Glück« für Illusionen und ist überzeugt, dass sein Leben vorbei und zu nichts mehr nutze sei (2/III,I,736f.). Das ändert sich nach einem Besuch bei den Rostows auf Gut Otradnoje im Frühjahr 1809, bei dem er die 16-jährige Natascha kennenlernt und unfreiwillig ihr nächtliches Gespräch mit Sonja hört (2/III,II,739f.). Schon auf der Rückreise empfindet er plötzlich neue Lebenslust und wünscht sich, wieder Anteil am Leben anderer Menschen zu haben und für sie eine Rolle zu spielen (2/III,III,741f.).

Er gibt sein Landleben auf, reist im August 1809 nach Petersburg (2/III,IV,744), tritt seinen Dienst als Kammerherr wieder an, reicht sein Memorandum zum Militärstatut ein und wird in das »Komitee für das Militärstatut« berufen (2/III,IV,748). Er lernt Speranski kennen, der ihn stark beeindruckt (2/III,V,751f.) und in dem er eine Zeit lang sein Ideal »eines vollkommen vernünftigen und untadeligen Menschen« gefunden zu haben glaubt (2/III,VI,756). Speranski macht ihn zum Abteilungsleiter in der Gesetzgebungskommission (2/III,VI,759).

Nach einer zweiten Begegnung mit Natascha auf dem Silvesterball 1809, bei dem beide sich ineinander verlieben, verändert sich sein Blick erneut: Speranski erscheint ihm nun befremdlich und unangenehm (2/III,XVIII,813f.) und seine Arbeit im Staatsdienst nutzlos (2/III,XVIII,816). Er möchte Natascha heiraten, stößt aber auf die heftige Gegenwehr seines Vaters, der ein Jahr Wartezeit verlangt, das er auf Reisen im Auslang verbringen soll (2/III,XXIII,833f.). Mit Rücksicht auf Natascha, die seinen Antrag gleichwohl annimmt, möchte er das Verlöbnis bis zu seiner Rückkehr geheimhalten, damit sie während der Wartezeit die Freiheit behält, ihr Wort zurückzunehmen (2/III,XXIV,841).

Er kehrt am Tag nach Nataschas Selbstmordversuch nach Moskau zurück (2/V,XXI,1042). Die Nachricht von ihrer Affäre mit Anatole Kuragin trifft ihn tief. Er überspielt seine Gefühle mit kalter Ruhe, auch vor Freund Pierre (2/V,XXI,1045), unternimmt aber in der Folgezeit alles, um Kuragin zu stellen. Er reist ihm nach Petersburg nach, trifft ihn dort aber nicht mehr an, wird Stabsoffizier bei Kutusow in der Moldau-Armee, der auch Kuragin beigetreten ist, verfehlt ihn aber auch dort (3/I,VIII,50f.). Schließlich verdrängt er den Schmerz, stürzt sich in die Arbeit in Kutusows Stab, um zu vergessen (3/I,VIII,51).

1812 lässt er sich in die Westarmee versetzen, um am Vaterländischen Krieg teilzunehmen. Auf dem Weg dorthin sieht er seinen Vater bei einem Besuch in Lyssyje Gory zum letzten Mal (3/I,VIII,52), gerät mit ihm aneinander und reist unversöhnt ab (3/I,VIII,58). Im Juni 1812 trifft er im Hauptquartier an der Drissa ein, wo er nun Barclay de Tolly untersteht (3/I,IX,59). Er wird Kommandeur eines Jägerregiments (3/I,XIX,119). Mit seiner kritischen Sicht auf die Planungen des Kriegsrats fungiert er als Sprachrohr des Erzählers (vgl. (3/I,XI,79f.; 3/II,XXV,306-308). Eine Rückkehr in den Stab, die Kutusow, nun Oberkommandierender, wünscht, lehnt er ab (3/II,XVI,255).

Am Vorabend der Schlacht bei Borodino lässt er sein Leben Revue passieren (3/II,XXIV,300-303), wobei ihn der unverhoffte Besuch Pierres (3/II,XXIV-XXV) eher stört als erfreut. In der Schlacht wird er schwer verwundet (3/II,XXXVI,372). Im Feldlazarett liegt er neben Anatole Kuragin, dem ein Bein abgenommen wird; sein Hass auf den Nebenbuhler ist geschwunden, er empfindet Mitleid mit ihm und Liebe zu Natascha (3/II,XXXVII,378f.).

Er wird nach Moskau gebracht, verbringt die Nacht, ohne es zu wissen, im Haus der Rostows, die im Begriff stehen, Moskau wegen der anrückenden französischen Truppen zu verlassen; am nächsten Tag schließt sich seine Kalesche dem Wagenzug der Rostows an, wovon zunächst weder er noch Natascha Kenntnis haben. In seinen nächtlichen Gedanken und Fieberphantasien entwickelt sich die versöhnliche Grundstimmung, die ihn beim Anblick des leidenden Kuragin überkam, weiter zu einer religiös grundierten, von Liebe, auch Feindesliebe bestimmten Haltung, die er als ein »neues Glück« empfindet (3/III,XXXII,562) und die ihn befähigt, die »Grausamkeit« zu erkennen, die sein Bruch mit Natascha bedeutet (3/III,XXXII,564). Als Natascha seine Gegenwart schließlich entdeckt und ihn aufsucht, ist er zutiefst beglückt (3/III,XXXII,565f.).

Fortan weicht Natascha nicht mehr von seiner Seite, sie übernimmt seine Pflege, zuletzt, in Jaroslawl, gemeinsam mit Prinzessin Marja. Nataschas Gegenwart weckt noch einmal den Lebenswillen des Leidenden, doch ein Todestraum (4/I,XVI,675f.) entfernt ihn endgültig vom Leben und nimmt ihm die Angst vorm Tod, der einige Tage später eintritt (4/I,XVI,677).