Tuch und Locke (1854)

Theodor Fontane: Tuch und Locke. In: T. F.: Frühe Erzählungen. Hrsg. von Tobias Witt. Berlin: Aufbau 2002 (Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk. Bd. 18), S. 60-82.

Die Geschichte spielt sich am Vorabend der Schlacht bei Temesvár (9. August 1849) im  ungarischen Unabhängigkeitskrieg ab: In einem Biwak treten zwei österreichische Offiziere, Hostowiz und Wilson, in einen Erzählerwettstreit. Beide erzählen eine selbst erlebte Liebesgeschichte, Hostowiz die ›Geschichte vom Tuch‹, Wilson die ›Geschichte von der Locke‹. Bei der anschließenden Abstimmung obsiegt Hostowiz, fällt aber am nächsten Tag  in der Schlacht. Wilson dagegen überlebt, weil das Taschenbuch mit der Locke, das er auf dem Herzen trägt, eine tödliche Kugel aufhält.

Freund

Figur aus Wilsons Geschichte von der Locke: Wilsons Studienfreund in Göttingen, »aus einer jener schmucken Handelsstädte gebürtig, wie sie sich an den Ufern der Elbe entlang ziehn« (73), lädt Wilson ein, die Semesterferien in seinem Elternhaus zu verbringen. Beide sind im vorletzten Semester, weshalb sie ihre Koffer mit Büchern füllen und »mit dem Vorsatz unendlichen Fleißes« abreisen (73). Tatsächlich verbringen sie die Ferientage fast ausschließlich in Gesellschaft seiner Schwester Lissy und Cousine Jane.

Graf (Graf L.)

Figur aus Hostowiz‘ Geschichte vom Tuch: Nach einem siegreichen Feldzug gegen Aufständische in Oberitalien quartiert Hostowiz sich im Palast des italienischen Grafen L. am Comer See ein. Er bewirtet den Offizier gastlich und scheint, anders als die Gräfin, eine »loyale Gesinnung« gegen Habsburg zu hegen (66), wird deshalb auch von seinen Landsleuten angefeindet (vgl. 69). Beim Überfall auf die Kutsche, der nach seiner Meinung ihm galt, erweist er sich als Feigling, überlässt es seinem Gast, die Räuber in die Flucht zu schlagen, und kümmert sich nicht um seine verletzte Frau. Unter dem Vorwand, Hilfe holen zu wollen, tatsächlich aber aus Furcht, die Räuber könnten zurückkehren, läuft er davon und kehrt später mit Helfern zurück.

Gräfin (Julia)

Figur aus Hostowiz‘ Geschichte vom Tuch: Frau des Grafen L., deren Namen Hostowiz verschweigt, »wir wollen sie Julia nennen«. Bei ihr und ihrem Mann sei es »wie überall im Lande: der Mann – ein Weib und alles Mannthum zurückgedrängt in das Herz einer Frau« (66). Sie ist, anders als ihr weichlicher Mann, stolze Patriotin, »Lombardin vom Scheitel bis zur Zeh«, die alles, »was deutsch war«, verabscheut, insbesondere die österreichische Soldateska, so auch den in ihrem Palast einquartierten Hostowiz, den sie herablassend behandelt. Hostowiz verliebt sich augenblicklich in sie und glaubt schon am ersten Abend zu erkennen, »daß ihr Stolz am Scheitern sei« (66). Sie spielt Klavier, wie Hostowiz es »nicht wieder gehört« hat, »spielte sich selbst, ihre Geschichte, oder die Geschichte ihres Landes« (68). Er gibt sich kühl, um ihr »Zweifel an ihrem Triumph« über ihn zu bereiten, und ist sich sicher, dass sie ihm eben deshalb mit heißer Leidenschaft an die Brust sinkt, nachdem er einen Überfall auf ihre Kutsche vereitelt und die Wunde an ihrer Schulter versorgt hat (71). Als ihr Mann mit Helfern an den Ort des Geschehens zurückkehrt, steckt sie Hostowiz rasch das blutgetränkte Batisttuch zu, mit dem er ihre Wunde verbunden hatte: »da! trag‘ es! zur Erinnerung!« (71) Am Morgen danach heißt es, sie sei verreist (vgl. 82).

Hostowiz

Lieutenant, ein junger Böhme von einer »graziösen und beinahe liebenswürdigen Eitelkeit« (63), der es kaum erwarten kann, von seiner erotischen Eroberung zu erzählen. Seiner Behauptung, es gebe »nichts Süßeres, als verbotene Liebe und nichts Höheres, als den Sieg über ein Weib«, widerspricht Lieutenant Wilson: Höher sei der Sieg über sich selbst (64). Als Oberst du Plat Wilson anerkennend zuprostet, errötet Hostowiz.

In dem nachfolgenden Wettstreit erzählt er als Erster seine Geschichte, die Geschichte vom Tuch (vgl. 65-72). Sie liegt ein Jahr zurück und ereignete sich nach einem erfolgreichen Feldzug der Österreicher gegen Aufständische in Oberitalien. Hostowiz wird im Palast des Grafen L. einquartiert, dessen schöne Frau Julia, eine Patriotin, ihm feindselig begegnet. Er verliebt sich unsterblich in sie, hält seine Leidenschaft aber über Wochen hin in Zaum, um sie in Ungewissheit über seine Gefühle zu halten. »Ich konnte das Schwerste, weil ich das Höchste wollte.« (68) Auf dem Rückweg von einem Ausflug zu dritt wird die Kutsche überfallen. Hostowiz schlägt die Räuber in die Flucht und kümmert sich um die verletzte Gräfin, während der Graf sich als Memme erweist und unter dem Vorwand, Hilfe holen zu wollen, fortläuft. Als die Gräfin aus der Ohnmacht erwacht, wirft sie sich ihrem Retter mit heißer Leidenschaft an die Brust und steckt ihm, als ihr Mann mit Helfern zurückkehrt, »zur Erinnerung« rasch das blutgetränkte Batisttuch zu, mit dem er ihre Wunde verbunden hatte (71). Am nächsten Morgen heißt es, sie sei verreist. Hostowiz, der sie nie wiedergesehen hat, trägt ihr Tuch unter seiner Schärpe (vgl. 72).

Die Meinungen der Zuhörer sind geteilt. Rittmeister Tauenzien bestreitet, dass es ein Sieg war, eher habe Hostowiz die Figur einer »überrumpelte[n] Feldwacht« abgegeben. Andere loben sein gekonntes Spiel mit dem Feuer. Hostowiz gewinnt den Wettstreit. Am nächsten Tag fällt er in der Schlacht (vgl. 82).

Ich (Lieutenant Malichenski)

Rahmenerzähler, der die Umstände der beiden Binnenerzählungen charakterisiert: Am Vorabend der Schlacht bei Temesvár sitzen einige Offiziere der österreichischen Armee, Tauenzien, Vandembosch, Hostowiz, Wilson und der Erzähler selbst, Lieutenant Malichenski, mit ihrem Kommandeur, Oberst du Plat, in einem Biwak zusammen. Ein Wortwechsel zwischen Hostowiz und Wilson gibt Anlass zu einem erzählerischen Wettstreit, in dem die beiden Kontrahenten eine selbst erlebte Liebesgeschichte erzählen sollen. Bei der anschließenden Abstimmung unterliegt Wilson.

Die Schlacht bei Temesvàr am 9. August 1849, Höhepunkt und Ende des ungarischen Unabhängigkeitskampfes gegen Habsburg (1848/49), endete mit einem Sieg der österreichischen Armee, wenige Tage später, am 13. August 1849, kapitulierte die ungarische Revolutionsarmee.

Jane

Figur aus Wilsons Geschichte von der Locke: Cousine des Studienfreundes, in dessen Elternhaus er die Semesterferien verbringt. Ihre Eltern starben früh, ihr Onkel hat sie adoptiert, in dessen Haus sie schon bald den Ton angibt. Ihre Mutter war Engländerin, und sie ist »eine jener schlanken, schwebenden Gestalten, wie man ihnen nur in ihrer Inselheimat begegnet«, eine blonde Schönheit, »frei, heiter, ungezwungen«, dabei taktvoll und trotz ihrer »Ueberlegenheit« im Hause anspruchslos und bescheiden (76). Wilson wirbt um sie, gewinnt aber keine Gewissheit über ihre Gefühle. Immerhin bleibt sie am letzten Abend vor der Abreise der beiden Freunde weinend auf ihrem Zimmer (vgl. 81).

Lissy

Figur aus Wilsons Geschichte von der Locke: Schwester des Studienfreundes, in dessen Elternhaus er die Semesterferien verbringt. Sie ist »frisch wie der Mohn«, »voll und üppig«, hat dunkle Augen und starke Haare, die sich beim Spiel jedesmal lösen und ihrer »ohnehin sinnlichen Erscheinung einen doppelten Reiz« verleihen (75). Ihre Mutter aber will und sagt, dass sie immer noch Kind sei. Nicht zuletzt deshalb verliebt Wilson sich nicht in sie, sondern in ihre Cousine Jane. Lissy aber verliebt sich in ihn und stellt ihm heimlich jeden Abend einen Strauß Rosen in sein Zimmer; er glaubt, es sei Jane, und lässt die still leidende Lissy links liegen. Am letzten Abend will er Jane bei der Blumengabe überraschen, läuft der auf den Speicher Fliehenden nach und hält nicht Jane, sondern Lissy im Arm, die sich den heißen Küssen des plötzlich Entflammten voller Vertrauen und Hingebung überlässt. Er aber gewinnt zuletzt seine Selbstbeherrschung zurück und schickt sie fort. Am nächsten Morgen schenkt sie ihm zum Abschied heimlich eine Locke ihres Haars (81).

Mutter

Figur aus Wilsons Geschichte von der Locke: Mutter des Studienfreundes, in dessen Elternhaus er die Semesterferien verbringt. Sie hat mit dem Aufstieg ihres Mannes vom einfachen Händler zum reichen Kaufmann nicht Schritt gehalten, »war noch ganz dieselbe wie damals« und »verehrte ihren Mann als ein höheres Wesen« (74). Sie liebt ihre Kinder und ist nur in einem Punkt »tyrannisch«: ihre zur jungen Frau heranreifende Tochter Lissy »sollte eine Kind sein« (74).

Plat, du

Oberst, Kommandeur der Einheit, gebürtiger Franzose, hatte unter Napoleon gedient und war nach der Schlacht bei Aspern in österreichische Dienste getreten. Die Offiziere lieben ihn wie einen Vater, er ist »eine Seele von Mensch« (61). Er setzt den Preis für den Erzählwettstreit zwischen Hostowiz und Wilson aus: »Der Sieger attaquirt morgen zuerst!« (65)

Tauenzien

Rittmeister, ehemals preußischer Husar, nun in österreichischen Diensten, ein »Liebling« des Obersten, von seiner Schwadron »vergöttert«. Wohl aus enttäuschter Liebe ist er »der abgeschworne Feind des schönen Geschlechts« (61). Trotzdem stimmt er am Ende für Hostowiz' Geschichte: »die Geschichte mit der Gräfin klingt militärischer« (82).

Vandembosch

Lieutenant, der jüngste im Kreis der Offiziere, verwöhntes Söhnchen eines reichen Kaufmanns aus der Wiedner Vorstadt, den die Kameraden trotz einer »gewissen Affektation« gernhaben (62). Er ist es, der den Erzählerwettstreit zwischen Hostowiz und Wilson anregt (vgl. 65). Beide Erzählungen quittiert er mit der Bemerkung: »Kapitale Situation« (72, 82).

Vater

Figur aus Wilsons Geschichte von der Locke: Vater des Studienfreundes, in dessen Elternhaus er die Semesterferien verbringt. Er hat sich vom einfachen Händler zu einem reichen und allseits angesehenen Kaufmann hochgearbeitet und lebt nun in gediegenem Wohlstand in einer Handelsstadt an der Elbe. »Der Kaufmann galt ihm als der eigentliche Herr der Welt.« (74)

Wilson

Lieutenant, aus Hannover stammend, »blond, nüchtern und gemessen«, bei seinen Kameraden beliebt wegen seines »kalten Muthes« (62). Er widerspricht Hostowiz‘ Diktum, dass es nichts Höheres gebe als den »Sieg über ein Weib«, mit der Bemerkung, höher sei der »Sieg über sich selbst«, und erntet dafür die Anerkennung seines Oberst (64).

In dem nachfolgenden Wettstreit erzählt er als Zweiter seine Geschichte, die Geschichte von der Locke (vgl. 72-82). Sie liegt sieben Jahre zurück und fällt in seine Studentenzeit. Er verbringt die Semesterferien im Elternhaus eines Freundes und Kommilitonen, einem gediegenen Kaufmannshaus in einer Handelsstadt an der Elbe, und lernt dort zwei junge Mädchen kennen, Lissy, die Schwester seines Freundes, die ihre Mutter immer noch als »Kind« angesehen zu werden wünscht, und Jane, eine im Haus lebende Cousine. Er verliebt sich in Jane und lässt Lissy links liegen. Die Blumen, die er jeden Abend in seinem Zimmer vorfindet, nimmt er als Zeichen, dass Jane seine Zuneigung erwidert. Am letzten Abend will er sie bei der Blumengabe überraschen, sie flieht auf den Speicher, er verfolgt sie, holt sie ein und hält nicht Jane, sondern Lissy im Arm, aus deren Augen ihm »in wunderbarem Wechsel Vertrauen, Liebe, Furcht und Scham […] entgegenstrahlen«. Ihm »schwindelten alle Sinne und jener wüste Trieb kam über mich, der Lust hat am Zerstören« (80). Aber »Reue und Mitgefühl« packen ihn, er muss an die »weinende Gestalt ihrer Mutter« denken und gebietet seinen ›wüsten Trieben‹, mit dem »Fuß fest aufstampfend«, Einhalt (81). Am nächsten Morgen gibt Lissy ihm zum Abschied heimlich ein gefaltetes Papier mit einer Haarlocke, die er seither bei sich trägt »als Erinnerungszeichen, vielleicht als – Talisman« (81). Es habe, so Wilson, Zeiten gegeben, in denen er über die Geschichte so gedacht habe wie Hostowiz, aber inzwischen wisse er: »wir haben nichts Besseres, als den Sieg über uns selbst« (82).

Wilson verliert den Wettstreit. Bei der Schlacht am nächsten Tag bewahrt ihn ein Taschenbuch, in dem er die Locke aufbewahrt, vor einer tödlichen Kugel: »ein letztes Blatt nur hatte ihr Stillstand geboten, – auf ihm lag die Locke« (82).

© Anke-Marie Lohmeier 2014 – Alle Rechte vorbehalten.