Judejahn, Gottlieb
Ehemaliger SS-General, Ehemann von Eva Judejahn, Vater von Adolf Judejahn. Er hasst seinen Vornamen, denn »er wollte nicht Gott lieb sein und ließ sich in der Familie und unter Freunden Götz rufen, während er dienstlich und amtlich G. Judejahn zeichnete« (II, 416). Wuchtige Erscheinung, »breit die Schultern, gehoben der Brustkorb, gerundet und elastisch wie ein praller Boxball der Bauch und stämmig die Schenkel« (II, 401).
Er ist Sohn eines Volksschullehrers, der ihn als Kind oft prügelte, was er nicht vergessen kann. Der Erzähler deutet wiederholt einen psychischen Zusammenhang zwischen Judejahns Brutalität und Machtbesessenheit und der Angst des gedemütigten ›kleinen Gottfried‹ an. 1915 wollte Judejahn in den Krieg ziehen, wurde aber nicht angenommen. 1917 bekam er sein Notabitur und wurde zu einem Offizierskurs geschickt (II, 411). »In Hitlers Dienst wurde Judejahn bürgerlich, arrivierte, setzte Speck an, trug hohe Titel, heiratete und verschwägerte sich mit dem Märzveilchen« Friedrich Wilhelm Pfaffrath (II, 412). Im Krieg war er SS-General, nach dem Krieg flüchtete er und wurde Truppenausbilder und Waffenkäufer in einem arabischen Staat. Bei den Nürnberger Prozessen wurde er in Abwesenheit zum Tode verurteilt (II, 413). Seine Familie hielt ihn lange für tot, bis er »in einer schwachen Stunde« (II, 412) seinem Schwager ein Lebenszeichen schickte, worauf Pfaffrath das Treffen in Rom arrangierte.
Judejahn wohnt in Rom in der Via Veneto »in einem Botschafter- und Ministerhotel« (II, 407). Als es Zeit ist, zum Hotel der Pfaffraths zu gehen, in dem das Wiedersehen stattfinden soll, überkommt ihn Angst – trotz seines Mottos »Ich weiß nicht, was Furcht ist« (II, 406). Auf dem Weg zu dem Hotel macht er viele Umwege und kehrt in mehreren Gasthäusern ein, darunter auch in der Bar, in der Laura an der Kasse sitzt, auf die er sogleich ein Auge hat. Schließlich erreicht er das Hotel, ein von Deutschen bevorzugtes Haus, sieht auf dem Parkplatz die »Symbole des deutschen Wiederaufstiegs, das Stromlinienblech des deutschen Wirtschaftswunders«, das ihm imponiert (II, 430), und beobachtet in der Hotelhalle durch eine Glastür seinen Schwager mit Frau und Sohn inmitten von Landsleuten (II, 430). Dabei fühlt er sich seinerseits beobachtet, sieht aber nur einen Priester, der ebenfalls durch die Glastür starrt (II, 441, 442). Es ist Adolf (II, 467), aber Vater und Sohn erkennen sich nicht. Judejahn verlässt das Hotel, ohne die auf ihn wartenden Verwandten gesprochen zu haben: »Er floh den Anblick der Bürger«, ist sich sicher, dass sie ihm nach anfänglichem Jubel »das Netz ihrer Bürgerlichkeit übergeworfen« hätten (II, 443). Später trifft er telefonisch eine neue Verabredung mit seinem Schwager für den nächsten Tag in seinem Hotel, wo sie ihn »in all seinem Glanz sehen« sollen (II, 444).
Er geht durch das nächtliche Rom, kommt am ehemaligen Palast Mussolinis vorbei (II, 446), kehrt erneut in eine Gaststätte ein, wo er zwei Deutsche trifft, »Galgenvögel, verlorene Haufen«, die, wie er feststellt, im Krieg in einem ihm unterstellten Bataillon gedient haben (II, 455). Später stößt er an der Fontana di Trevi auf einen deutschen Frauenchor, der »Am Brunnen vor dem Tore« singt (II, 468; vgl. auch 467). Zuletzt geht er noch einmal zu der Bar, in der Laura arbeitet. Die Bar wird gerade geschlossen, aber Judejahn traut sich nicht, Laura anzusprechen, und redet sich ein, sie sei eine Jüdin (II, 473 f.). Zurück im Hotel, fühlt er sich klein und machtlos und steigert sich in Hass gegen Laura, die er sich nun nicht nur als Jüdin, sondern als Hure denkt, eine »magere geile jüdische Hure«. Er »brauchte eine Frau, um sie zu hassen, er brauchte für seine Hände, für seinen Leib einen anderen Leib, ein anderes Leben, das zu hassen und zu vernichten war, nur wenn man tötete, lebte man« (II, 475).
Am Morgen empfängt Judejahn die Pfaffraths im Schlafrock und lässt sie »wie Bittsteller« dastehen (II, 488). Als er erfährt, dass sein Sohn Adolf Priester wird, gerät er in Wut, hat sich aber rasch wieder in der Gewalt und revanchiert sich für die ›Schmach‹ mit einem Zeitungsartikel über Siegfried und seine »unmännliche Beschäftigung« mit Musik (II, 490 f.). Aber Pfaffraths zeigen sich stolz auf den Sohn, und so »blieb Judejahn mit dem frommen Sprößling blamiert« (II, 491). Er lehnt das Angebot ab, mit den Verwandten nach Monte Cassino zu fahren, denn »Schlachtfelder, höhnte er, die still und kampflos lagen«, interessierten ihn nicht (II, 491). Um Größe zu demonstrieren, inszeniert er einen Anruf bei der Botschaft des arabischen Landes, für das er arbeitet, und tut so, »als ob er tyrannische Befehle erteile und über Krieg und Frieden vorerst im Nahen Osten entscheide«, was ihm bis auf Dietrich Pfaffrath alle glauben (II, 492).
Am nächsten Tag besucht er die Engelsburg, wo sein Sohn Adolf ihn unerkannt beobachtet (II, 509), und hat dann ein Treffen mit dem Waffenhändler Austerlitz, den er für einen »Wohltäter der Menschheit« hält, weil er für den Fortbestand von Kriegen sorgt (II, 513). Austerlitz überlässt ihm eine schallgedämpfte Pistole als Muster (II, 515). Nach einer Spazierfahrt mit der zufällig aufgelesenen Laura, mit der er sich für den Abend verabredet (II, 522), besucht Judejahn seine Frau Eva in ihrem Hotelzimmer, wo er auf seinen Sohn trifft, den er mit Nichtachtung straft. Er verspricht seiner Frau, demnächst nach Deutschland zu kommen und weiter für den Faschismus zu kämpfen, und befiehlt ihr abzureisen. Er gibt ihr Geld für die Reise, packt ihre Sachen zusammen und bringt sie zum Bahnhof. Beim Verlassen des Hotelzimmers steckt er Adolf Geld zu und rät ihm verächtlich, sich damit zu betrinken oder mit einem Mädchen auszugehen (II, 526).
Am Abend besucht er kurzentschlossen das Konzert, er will »Zeuge der Familienentartung« werden (II, 533). Siegfrieds Musik irritiert ihn, sie blockiert sein Denken (II, 536). Aber am Ende applaudiert er am lautesten und empfindet das Pfeifen aus der Galerie als »ungehöriges Benehmen« gegen die reichen und von ihm verachteten »Herrschaften im Parkett« (II, 540). Er geht mit den Pfaffraths zum Dirigentenzimmer, wo er Ilse Kürenberg »mit entkleidenden Blicken« mustert (II, 543). Er spricht mit seinen Verwandten darüber, wie er sich seine Rückkehr nach Deutschland vorstellt, und prahlt von »neuer Kampfzeit und neuer Bewegung« (II, 550).
Anschließend trifft sich die ganze Familie, teils unfreiwillig, in der Schwulen-Bar, wo Laura ihre Verabredung zurücknimmt und Judejahn auf den nächsten Morgen vertröstet (II, 555). Als er erkennt, dass Adolf der Grund für ihre Absage ist, erfasst ihn ohnmächtige Wut, sein Sohn hat »ihn bei einer Hure ausgestochen« (563). In der Nacht in seinem Hotelzimmer erfüllt ihn »dumpfes Brausen« und ein »roter Nebel« verdeckt seinen Blick (II, 567 f.); hier kommt ihm der Gedanke, Ilse Kürenberg zu töten (II, 568; vgl. II, 576).
Am nächsten Morgen trifft er Laura und geht mir ihr in ein Hotel in der Nähe des Bahnhofs (II, 573). Er schläft mit ihr und phantasiert sich dabei erneut in die Vorstellung hinein, dass sie eine Jüdin sei, die man »liquidieren« müsse. »Man hatte den Führer verraten. Man hatte nicht genug liquidiert« (II, 575). An Lauras Stelle tötet er dann aber Ilse Kürenberg, die er zufällig an einem Fenster des gegenüberliegenden Hotels stehen sieht. Er schießt das das ganze Magazin der schallgedämpften Pistole leer, die er von Austerlitz erhalten hat, trifft sie mit dem letzten Schuss, »des Führers Befehl war vollstreckt« (II, 576). Er geht aus dem Hotel und will sich im Thermenmuseum verstecken, durch das er, taumelnd, mit blaurotem Gesicht und »roten Nebel« vor Augen, irrt (II, 577 f.). Im Garten des Museums bricht er schließlich zusammen. Sein Sohn Adolf, der sich zufällig ebenfalls im Museumsgarten aufhält, sorgt dafür, dass ein Priester dem Sterbenden die Letzte Ölung erteilt (II, 579). »Die Zeitungen meldeten noch am Abend Judejahns Tod, der durch die Umstände eine Weltnachricht geworden war, die aber niemand erschütterte.« (II, 580)
Dieser Satz, mit dem der Roman endet, ist eine Anspielung auf den letzten Satz von Thomas Manns »Tod in Venedig«: »Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode.« – »Märzveilchen« (auch ›Märzgefallene‹) nannten frühe Parteimitglieder der NSDAP abschätzig jene Mitglieder, die der Partei nach den Märzwahlen 1933 in großer Zahl beigetreten waren.