Emilia Galotti (1772)

Verfasserinnen: Karolina Kubista, Anke-Marie Lohmeier

Galotti, Emilia

Die Tochter Odoardos und Claudias lebt mit der Mutter in der Residenzstadt, der geliebte Vater hält sich überwiegend auf seinem Landgut nahe Sabionetta auf. Emilia steht unmittelbar vor der Hochzeit mit dem Grafen Appiani, die Trauung soll am Nachmittag auf Odoardos Landgut stattfinden, wohin sie mit Appiani und ihrer Mutter gegen Mittag aufbrechen wird.

Am Morgen geht das tugendhafte Mädchen noch zur Morgenmesse, wo der in sie verliebte Prinz Hettore Gonzaga, der erst kurz zuvor von ihrer Hochzeit erfahren hat (I, 6), sie mit seinen Liebeswerbungen bedrängt. Von diesem Vorgang ist im Stück dreimal die Rede: Zuerst berichtet die zutiefst verstörte Emilia ihrer Mutter davon, die darin belanglose höfische Galanterien sieht und ihr rät, kein Wort darüber gegenüber Appiani verlauten zu lassen (II, 6). Dann spricht der Prinz zu Marinelli über die Begegnung und beschreibt Emilias Reaktion: »Stumm und niedergeschlagen und zitternd stand sie da; wie eine Verbrecherinn die ihr Todesurtheil höret. Ihre Angst steckte mich an, ich zitterte mit, und schloß mit einer Bitte um Vergebung« (III, 3; LM II, 414 f.). Letztere hat Emilia offenkundig überhört; sie hatte ihren »guten Engel« gebeten, sie »mit Taubheit zu schlagen« (II, 6; LM II, 399); auch die Wiederholung dieser Bitte (in III, 5) scheint sie nicht wahrzunehmen. Zum dritten schließlich gibt die Geliebte des Prinzen, Orsina, deren Kundschafter den Prinzen in der Kirche beobachtet haben (IV, 5; LM II, 432), dem entsetzten Odoardo Kenntnis von dieser Begegnung und stößt ihn auf den Zusammenhang mit der Entführung: »Des Morgens, sprach der Prinz Ihre Tochter in der Messe; des Nachmittags hat er sie auf seinem Lust – Lustschlosse« (IV, 6; LM II, 435).

Die Begegnung in der Kirche ist nicht die erste: Schon einige Wochen zuvor hatte Emilia den Prinzen bei einer Abendgesellschaft im Haus des Kanzlers Grimaldi kennengelernt (II, 4), und die Komplimente des Fürsten wie der reiche Glanz des Hauses hatten in ihr, wie sie am Ende des Stücks bekennt, einen inneren »Tumult« ausgelöst, den die »strengsten Uebungen der Religion kaum in Wochen besänftigen konnten« (V, 7; LM II, 449).

Nach der Entführung zeigt sich eine ganz andere Emilia: Zwar ist sie anfänglich erneut ängstlich und unruhig (III, 4-5), dann aber zeigt sie eine erstaunliche Fassung und weiß den Prinzen auf Abstand zu halten. Ihre Mutter, die sie genau kennt, überrascht das nicht: »Sie ist die Furchtsamste und Entschlossenste unsers Geschlechts. Ihrer ersten Eindrücke nie mächtig; aber nach der geringsten Ueberlegung, in alles sich findend, auf alles gefaßt. Sie hält den Prinzen in einer Entfernung, sie spricht mit ihm in einem Tone –« (IV, 8; LM II, 437 f.). Von der »unumschränktesten Gewalt«, die der Prinz ihr über sich einräumt (III, 5; LM II, 417), macht sie freilich keinen Gebrauch.

Als sie schließlich erfährt, dass sie – vorgeblich bis zur Aufklärung des Überfalls – von ihren Eltern getrennt und in das Haus des Kanzlers Grimaldi gebracht werden soll, und dass auch ihr Vater keine Handhabe gegen diesen von Marinelli ausgeheckten Plan weiß, will sie sterben. Sie befürchtet, den Verführungen, die sie in dem glanzvollen »Haus der Freude« erwarten, nicht widerstehen zu können. Zwar weiß sie ihre Unschuld »über alle Gewalt erhaben«, nicht aber »über alle Verführung«, wie sie ihrem Vater mit den vielinterpretierten Worten bekennt: »Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. – Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut, als eine. Auch meine Sinne, sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut« (V, 7; LM II, 448 f.).

In der Überzeugung, nur mehr zwischen einem Tod in Unschuld und einem Leben in Schande wählen zu können, wählt sie den Tod, und da Odoardo ihr den Dolch, den er von Orsina erhalten hatte, wieder entwindet, reizt sie seine leicht entflammbare Vaterehre, die es schließlich über ihn vermag, sein Kind zu erstechen.

Galotti, Odoardo

Der Vater Emilias vertritt Prinzipien der Tugend, Redlichkeit und Ehre mit äußerster Rigorosität. Den Grafen Appiani ausgenommen, den er vorbehaltlos schätzt (II, 4; LM II, 396), hegt er ein tiefes Misstrauen in die Moralfähigkeit seiner Umgebung, seiner Frau und seiner Tochter zumal, die er argwöhnisch überwacht (vgl. II, 2; LM II, 393 f.). Insbesondere gegen seine Frau Claudia hegt er einen »alten Argwohn«, seit sie sich mit ihrem Wunsch gegen ihn durchgesetzt hat, mit Emilia in der Residenzstadt zu leben, um ihr eine standesgemäße Erziehung zu ermöglichen (II, 4; LM II, 396 f.).

Er selbst lebt überwiegend auf seinem Landgut bei Sabionetta und meidet die höfische Gesellschaft, die er generalisierend, ohne Ansehen der Person, als Sündenpfuhl und Sammelpunkt von Schmeichlern und Kriechern betrachtet (ebd.). Den Prinzen von Guastalla hält er für einen »Wollüstling« und gerät sofort aus der Fassung, als er hört, dass der Prinz bei einer Abendgesellschaft mit Emilia gesprochen hat (II, 4; LM II, 398 f.).

Überhaupt gerät Odoardo schnell aus der Fassung: Seiner Einsicht zum Trotz, dass nichts »verächtlicher« sei »als ein brausender Jünglingskopf mit grauen Haaren« (V, 2; LM II, 439), läuft ihm doch des öfteren, zumal am Ende des Stücks, »der Zorn mit dem Verstande davon« (V, 4; LM II, 441).

Claudia erkennt in Odoardos Tugendrigorismus und stets wachem Misstrauen ein bedenkliches Maß an Menschenfeindlichkeit, wenn sie, ihrem ungestüm forteilenden Gatten nachblickend, seufzt: »Welch ein Mann! – o, der rauhen Tugend! – wenn anders sie diesen Namen verdienet. – Alles scheint ihr verdächtig, alles strafbar! – Oder, wenn das die Menschen kennen heißt: – wer sollte sich wünschen, sie zu kennen?« (II, 5; LM II, 398).

Auch wenn Odoardos Befürchtungen am Ende eintreffen, so erweisen sich doch die Annahmen, auf die er seine Befürchtungen stützt, sämtlich als falsch. Er ist überzeugt, dass der Prinz ihn hasst (II, 4; LM II, 397) und ein Auge auf seine Tochter zu dem einzigen Zweck geworfen hat, »um ihn zu beschimpfen« (II, 5; LM II, 398), ihn nämlich an dem Punkt zu treffen, »wo ich am tödlichsten zu verwunden bin«, in seiner Vaterehre: »Ein Wollüstling, der bewundert, begehrt. – Claudia! Claudia! Der bloße Gedanke setzt mich in Wut« (II, 4; LM II, 398). Tatsächlich aber schätzt ihn der Prinz: »Ein alter Degen; stolz und rau; sonst bieder und gut!« (I, 4; LM II, 383). Und tatsächlich hat die Zuneigung des Prinzen zu Emilia weniger mit Wollust als mit einer Bezauberung durch eben jene Tugendwerte zu tun, die Odoardo vertritt (vgl. Gonzaga).

Odoardos egozentrische Fehleinschätzung hat Folgen für sein Verhalten nach der Entführung: Er glaubt sich im Kampf mit einem persönlichen Feind, in dem es nicht vorrangig um Emilia, sondern um seine Ehre geht. Deshalb kann er weder die Zeichen der Wertschätzung, die der Prinz ihm gibt, wahrnehmen (V, 5) noch überhaupt dessen Perspektive und Absichten adäquat einschätzen. Dies und sein aufbrausendes Temperament, das einer nüchternen Beurteilung der Lage immer wieder im Wege steht (V, 2; V, 4), nehmen ihm jede Möglichkeit zu klugem Taktieren, ja, sie versperren ihm schon den Blick für die nächstliegende und einfachste Lösung.

Denn sein »Feind« will von ihm zunächst nur, dass er Emilia nach Guastalla zurückbringt: Er wird sich, so Marinellis Erwartung und Plan, »mit samt seiner Tochter, zu fernerer Gnade empfehlen, wird sie ruhig nach der Stadt bringen, und es in tiefster Unterwerfung erwarten, welchen weitern Antheil Euer Durchlaucht an seinem unglücklichen, lieben Mädchen zu nehmen geruhen wollen« (V, 5; LM II, 439). Odoardo aber will auf der Stelle mit dem Kopf durch die Wand und besteht darauf, sie in ein Kloster zu bringen (V, 5; LM II, 442). Damit provoziert er den letzten Schachzug der Gegenseite, dessen Marinelli eigentlich gar nicht zu bedürfen meinte, den er aber auf Drängen des Prinzen für genau diesen (vom Prinzen vorausgesehenen) Fall in Reserve hält (V, 1; LM II, 439): Die mit fadenscheinigen juristischen Argumenten begründete Trennung Emilias von den Eltern und ihre Verwahrung im Haus Grimaldi (V, 5; LM II, 443-445).

Dieser Schachzug setzt Odoardo vollends matt. Den letzten Ausweg, der sich nicht sagen, »nur denken läßt«, den Tochtermord, hat er schon im Kopf, als er sich ein Wiedersehen mit Emilia ausbittet. Was ihn dazu bringt, die Tochter tatsächlich zu töten, ist nicht eigentlich deren Eingeständnis, verführbar zu sein, auch nicht ihr eigener Todeswunsch. Es ist vielmehr abermals der Punkt, an dem er »am tödlichsten zu verwunden« ist, seine Vaterehre: Erst als Emilia ihn an diesem Punkt packt, indem sie das Beispiel eines Vaters (des Römers Virginius) beschwört, »der seine Tochter von der Schande zu retten, ihr den ersten den besten Stahl in das Herz senkte – ihr zum zweyten das Leben gab«, und beklagt, dass es solche Väter nicht mehr gebe, ersticht er sie, um sogleich entsetzt zurückzufahren: »Gott, was hab‘ ich gethan!« (V, 7; LM II, 449).

Mit diesem Satz (an dessen Ende kaum zufällig ein Ausrufezeichen, kein Fragezeichen steht) hat sein Verstand den auch hier wieder davongerannten Zorn eingeholt: Odoardo bekennt sich vor Gott, dessen bloßes Werkzeug zu sein er sich kurz zuvor eingeredet hatte (V, 6; LM II, 447), zu seiner Selbstverantwortung.

Galotti, Claudia

Emilias Mutter wohnt mit der Tochter in der Residenzstadt, während Odoardo überwiegend auf seinem Landgut bei Sabionetta lebt. Diese Konstellation hatte sie gegen ihren Mann durchgesetzt, um Emilia eine standesgemäße Erziehung zuteil werden zu lassen (II, 4; LM II, S. 396 f.). Odoardos maßlosem Misstrauen gegen fast jedermann, seinem stets wachen Argwohn auch gegen Frau und Tochter und seiner Vorstellung, jeden Schritt der beiden Frauen überwachen zu müssen, begegnet sie gelassen und nachgiebig (II, 4; LM II, 397), erkennt aber sehr genau, dass sein Tugendrigorismus auf ein bedenkliches Maß an Misanthropie hindeutet: »wenn das die Menschen kennen heißt: – wer sollte sich wünschen, sie zu kennen?« (II, 5; LM II, 398)

Bei der Einschätzung der Gefahr, die von der Verliebtheit des Prinzen ausgeht, irrt sie sich allerdings. Sie hält sie für unverbindliche höfische Galanterien und rät ihrer Tochter, Appiani nichts davon zu erzählen, um sie vor der leidvollen Erfahrung mit dem ›gefährlichen Gift‹ männlichen Argwohns zu bewahren (II, 6; LM II, 401 f.). Claudia spricht hier ganz ohne Frage von eigenen Erfahrungen. Dennoch erweist sich, was aus dieser Erfahrung und Perspektive heraus zunächst angemessen erscheint, später als einer der Irrtümer, die dem Unglück den Weg bahnen: Hätte Appiani von den Nachstellungen des Prinzen erfahren, hätte er dessen Gesandtschaftsauftrag (II, 10) besser zu deuten gewusst. Dass er dann seinerseits Claudia nichts von diesem Auftrag sagt (II, 11), hindert wiederum Claudia daran, die Zusammenhänge frühzeitig zu erkennen.

Nach dem Überfall aber ist sie es, die, kaum dass sie Marinellis ansichtig wird, sofort erkennt, was gespielt wird (III, 8), und so beweist, dass sie keineswegs die »eitle, thörichte Mutter« ist, als die Odoardo sie bezeichnet (II, 4; LM II, 398).

Sie ist auch die einzige, die furchtlos genug ist, um Marinelli ohne Umschweife zu sagen, wer er ist: »Ha, Mörder! feiger, elender Mörder! Nicht tapfer genug, mit eigner Hand zu morden: aber nichtswürdig genug, zu Befriedigung eines fremden Kitzels zu morden! – morden zu lassen! – Abschaum aller Mörder!« (III, 8; LM II, 421)

Dass sie auch vor dem Prinzen keine Furcht hat, erkennt dieser besser als Marinelli: »Die Tochter stürzte der Mutter ohnmächtig in die Arme. Darüber vergaß die Mutter ihre Wuth: nicht über mir. Ihre Tochter schonte sie, nicht mich; wenn sie es nicht lauter, nicht deutlicher sagte« (IV, 1; LM II, 422). Kurz darauf tritt Odoardo auf den Plan und schickt sie vom Schauplatz (IV, 8; LM II, 438).

Gonzaga, Hettore

Der Prinz von Guastalla hat sich in Emilia verliebt und findet sich durch diese Liebe eigentümlich verändert: Statt »leicht«, »fröhlich« und »ausgelassen« wie sonst sei er nun »von allem das Gegentheil« und fühle sich moralisch gehoben: »Behäglicher oder nicht behäglicher: ich bin so besser« (I, 3; LM II, 381). Es ist sichtlich nicht nur die Schönheit, sondern auch die Tugend Emilias, nicht nur ihr »Liebreiz«, sondern auch ihre »Bescheidenheit« (I, 5; LM II, 385), die ihm Eindruck machen. Dieser Eindruck scheint ihn sogar seiner höfischen Lebenswelt ein Stück weit zu entfremden und der Denkwelt der Galottis anzunähern, denn er spricht von den Normen der höfischen Gesellschaft mit Worten, die aus Odoardos Mund kommen könnten (I, 6; LM II, 387 f.).

Die Veränderungen, die die neue Liebe in ihm bewirkt, hindern ihn freilich nicht an mancherlei Rücksichtslosigkeiten, die er um eben dieser neuen Liebe willen begeht: Seine Geliebte Orsina, deren er seit der Begegnung mit Emilia überdrüssig geworden ist, behandelt er nicht eben mit Zartgefühl. Seine Staatsgeschäfte versieht er zerstreut und mit einiger Willkür, gibt etwa einer anspruchsvollen Bittschrift statt, nur weil die Bittstellerin Emilia heißt (I, 1), oder will »recht gern« zwischen Tür und Angel ein Todesurteil unterzeichnen, nur weil er es eilig hat, dem Ziel seiner Wünsche näherzukommen (I, 8).

Als er erfährt, dass Emilia am Nachmittag mit dem Grafen Appiani verheiratet werden soll, gerät er in Verzweiflung und gibt seinem Kammerherrn Marinelli völlig freie Hand, um die Hochzeit zu verhindern. Mit diesem Schritt, zu dem ihn die heftige Erschütterung über die unliebsame Neuigkeit verleitet (I, 6; LM II, 390), macht er sich zum Gefangenen und, wenn auch wider Willen, zum Komplizen seines skrupellosen Kammerherrn.

Zwar hat er nur von Marinellis erstem, noch vergleichsweise harmlosem Schachzug Kenntnis, dem Gesandtschaftsauftrag für Appiani (I, 6; LM II, 391), und erfährt weder von dessen Misslingen noch von Marinellis neuem Plan, Appiani und Emilia auf dem Weg nach Sabionetta, in der Nähe des fürstlichen Lustschlosses Dosalo, überfallen zu lassen, geschweige denn von dem Mordplan gegen Appiani. Aber als Marinelli ihm post factum von dem inszenierten Überfall berichtet, ist sein Widerstand nur schwach und verwirrt (III, 1; LM II, 412), und nach der Nachricht von Appianis Tod (den Marinelli ihm zunächst verschweigt und dann als Folge unglücklicher Zufälle darstellt, vgl. IV, 1; LM II, 422), sieht er sich vollends in den Händen seines Kammerherrn.

Denn der macht ihm nun kühl klar, dass er vor Emilia, ihrer Mutter und vor der ganzen »Welt« im Verdacht steht, mit Appianis Tod zu tun zu haben (IV, 1; LM II, 423), und dass er dies nicht Marinelli, sondern allein sich selbst zu verdanken hat, weil er nämlich Emilia am Morgen in der Messe seine Liebe gestanden hat: »Da ich die Sache übernahm«, so Marinelli, »nicht wahr, da wußte Emilia von der Liebe des Prinzen noch nichts? Emiliens Mutter noch weniger. Wenn ich nun auf diesen Umstand baute? und der Prinz indeß den Grund meines Gebäudes untergrub?« (IV, 1; LM II, 424). Dass der Prinz seinerseits nichts von Marinellis skrupellosen Plänen ahnte, hilft ihm dabei nichts: Durch sein Liebesgeständnis ist Marinellis Kalkül, wonach der Überfall auf die Rechnung unbekannter Straßenräuber gehen sollte, in der Tat ruiniert.

Um so mehr Anlass hätte der Prinz, seine Absichten auf Emilia aufzugeben. Das aber ist nicht der Fall. Schon bei seinem nächsten Auftritt lässt er erkennen, dass sein anfängliches Entsetzen über Appianis Tod (IV, 1; LM II, 422) und die Sorge um seinen Ruf schon längst wieder seinem Liebesbegehren gewichen sind: Man sieht ihn hier ganz mit der Befürchtung beschäftigt, Odoardo könnte seine Tochter in ein Kloster stecken, statt sie, wie Marinelli erwartet, nach Guastalla zurückzubringen (V, 1; LM II, 439). Um das zu verhindern, bedient er sich erneut des intriganten Talents seines Kammerherrn und spielt dessen Spiel nun mit vollem Wissen mit (V, 5; LM II, 442-446), auch wenn Odoardos aufrechter Sinn ihn beeindruckt. Sein vielzitierter Wunsch – »O Galotti, wenn Sie mein Freund, mein Führer, mein Vater seyn wollten« (V, 5; LM II, 446) – durchbricht die Logik des intriganten Spiels.

Das tödliche Ende dieses Spiels bereitet dem Prinzen »Entsetzen!« (V, 8; LM II, 449). Ob es ihm den vollen Umfang seiner Schuld bewusst macht, steht dahin: Wenn er seinen Anteil an dem »Unglücke« der Galottis darin erblickt, dass auch »Fürsten Menschen sind«, d. h. fehlbar sind, deren (und damit sein eigenes) Unglück aber darin, dass »sich auch noch Teufel in ihren Freund verstellen« (ebd.), so spricht das dafür, dass er mit sich selbst eher Nachsicht übt. Die Frage, ob die Zuschauer ihm darin folgen (sollen), ist Gegenstand wiederkehrender Debatten.

Marinelli

Kammerherr und Vertrauter des Prinzen. Marinelli ist das eigentliche Agens des Stückes und tritt als einzige Person in jedem Akt auf. Er ist der Inbegriff des intriganten, gewissenlosen Höflings, der zu jeder Schurkerei bereit ist, um die Gunst seines Fürsten, den Motor höfischer Karrieren, zu gewinnen. So auch hier: Marinelli bietet ein hohes Maß an krimineller Energie auf, um Emilias Hochzeit mit Appiani, dem Wunsch des Prinzen entsprechend, zu verhindern. Den Mut zu seinen Schurkenstücken bezieht er aus der Rückendeckung durch den Fürsten, deren er sich wiederholt vergewissert und die er, wo der Prinz sie ihm zu entziehen droht, durch Überredungskunst und geschickte Instrumentalisierung der Wünsche seines Herrn zu erhalten weiß (vgl. v.a. IV, 1; V, 1).

Wo es gilt, auf eigenes Risiko zu handeln, erweist er sich als feige: Dem Duell mit Appiani entzieht er sich (II, 10; LM II, 408), um den Kontrahenten (und potentiellen Konkurrenten um die Gunst des Fürsten, vgl. I, 6; LM II, 387) hinterrücks ermorden zu lassen und seinen Tod als ›Kollateralschaden‹ seines fürstlichen Auftrags zu verbuchen (IV, 1; LM II, 422).

Dass er mithin auf Kosten des Prinzen seine eigene Rechnung begleicht und damit nicht nur dessen Ziele gefährdet, sondern auch dessen Person in eine höchst prekäre Lage bringt (IV, 1; LM II, 423), macht deutlich, was von seiner oft beschworenen Treue zu halten ist. Marinelli handelt jederzeit aus egoistischen Motiven. Das erkennt der Prinz erst am Ende des Stückes, und da ist es zu spät: »Geh, dich auf ewig zu verbergen! – Geh! sag' ich. – Gott! Gott! – Ist es, zum Unglücke so mancher, nicht genug, daß Fürsten Menschen sind: müssen sich auch noch Teufel in ihren Freund verstellen?« (V, 8; LM II, 450).

Rota, Camillo

Der Rat des Prinzen spricht wegen eines Todesurteils bei seinem Dienstherrn vor. Als der mit seiner Liebe beschäftigte Prinz das Todesurteil eilig und »recht gern« zwischen Tür und Angel unterzeichnen will, vertagt der besonnene Mann die Angelegenheit unter einem Vorwand auf später und geht betroffen und fassungslos ab: »Recht gern? – Ein Todesurtheil recht gern? – Ich hätt’es ihn in diesem Augenblicke nicht mögen unterschreiben lassen, und wenn es den Mörder meines einzigen Sohnes betroffen hätte. – Recht gern! Recht gern! – Es geht mir durch die Seele dieses gräßliche Recht gern!« (I, 8; LM II, 392)

Conti

Der Maler bringt dem Prinzen ein Gemälde der Gräfin Orsina, das der Prinz in Auftrag gegeben hatte, das ihn aber inzwischen nicht mehr interessiert. Zugleich zeigt Conti ihm ein Bildnis Emilias und schwärmt von ihrer Schönheit, ohne zu ahnen, dass der Prinz in sie verliebt ist. Kein Wunder, dass der Fürst am Bildnis Orsinas nur den Künstler loben kann (I, 4; LM II, 381), während er beim Bildnis Emilias »über sein Werk sein Lob vergißt« (I, 4; LM II, 383).

Seinem Einwurf, das Bild Orsinas sei geschmeichelt, begegnet Conti mit der höfisch-höflichen Floskel, die Kunst müsse idealisieren, um das Wesen der Sache zu treffen: »Die Kunst muß malen, wie sich die plastische Natur, – wenn es eine giebt – das Bild dachte: ohne den Abfall, welchen der widerstrebende Stoff unvermeidlich macht; ohne das Verderb, mit welchem die Zeit dagegen an kämpfet« (I, 4; LM II, 381).

Mit Blick auf Emilias Bild dagegen, mit dem er unzufrieden ist, weil es sein Vorbild nicht erreicht, bedauert er die die Unzulänglichkeit der Kunst gegenüber der Natur: »Ha! daß wir nicht unmittelbar mit den Augen malen! Auf dem langen Wege, aus dem Auge durch den Arm in den Pinsel, wieviel geht da verloren!« (I, 4; LM II, 383)

Der Prinz beauftragt Conti, Orsinas Bild mit einem üppigen Rahmen zu versehen, Emilias Bildnis aber will er ungerahmt sogleich bei sich behalten und weist den Maler an, sich bei seinem Schatzmeister dafür bezahlen zu lassen: »Soviel Sie wollen, Conti« (I, 4; LM II, 385).

Appiani, Graf

Der Graf liebt Emilia und will sie heiraten, obwohl die Ehe mit ihr in der höfischen Gesellschaft als ein »Mißbündniß« gilt (I, 6; LM II, 388), denn Emilia ist ein »Mädchen ohne Vermögen und ohne Rang« (I, 6; LM II, 387); die Galottis gehören (vermutlich) dem niederen Landadel an.

Auch sonst gibt der Graf auf die Forderungen der höfischen Gesellschaft wenig: Er hat kein Interesse an einer höfischen Karriere, sondern will mit Emilia zurückgezogen auf seinem Landgut im Piemont leben (II, 4; LM II, 396), um, wie Marinelli spöttisch bemerkt, »Gemsen zu jagen« und »Murmeltiere abzurichten« (I, 6; LM II, 387).

Marinelli ist der einzige, der, wohl aufgrund einer alten Feindschaft (ebd.), negativ über Appiani urteilt. Der Fürst und Odoardi Galotti dagegen sind des Lobes voll: In den Augen des Fürsten ist Appiani »ein sehr würdiger junger Mann, ein schöner Mann, ein reicher Mann, ein Mann voller Ehre« (ebd.). Und Odoardo kann es kaum erwarten, »diesen würdigen jungen Mann« seinen Sohn zu nennen, denn an ihm entzücke ihn alles (II, 4; LM II, 396), wie umgekehrt auch Appiani seinen künftigen Schwiegervater als ein »Muster aller männlichen Tugenden« über alle Maßen schätzt (II, 7).

Unmittelbar vor der Heirat ist er ernst und schwermütig gestimmt, scheint von dunklen Ahnungen befallen zu sein (II, 7-8). Mit Marinelli, der ihn am Tag seiner Hochzeit als Gesandten des Prinzen in das entfernte Massa schicken will, gerät er in einen hitzigen Streit und will das von Marinelli geforderte Duell sogleich ausfechten, doch Marinelli entzieht sich ihm (II, 10).

Nach dem Überfall auf seine Kutsche ist ihm sogleich klar, wer hinter dem Überfall steckt: Tödlich verwundet, haucht er Marinellis Namen (III, 8; LM II, 419 f.).

Orsina, Gräfin

Die Geliebte des Prinzen tritt erst im 4. Akt, kurz nach Emilias Entführung, auf den Plan. Sie ahnt, dass sie den Prinzen verloren hat, weiß nur noch nicht, warum und an wen (vgl. I, 6; LM II, 386 f.). Sie kommt nach Dosalo, weil sie sich hier mit dem Geliebten verabredet glaubt, muss dann aber von Marinelli erfahren, dass der Prinz ihren Brief, in dem sie ihn um ein Treffen in dem Lustschloss gebeten hatte, gar nicht gelesen hat (IV, 3; LM II, 426 f.).

Dass er sich gleichwohl auf Dosalo aufhält, möchte sie nicht für einen Zufall halten: »das Wort Zufall ist Gotteslästerung«. Vielmehr glaubt sie darin ein Werk, sogar ein »unmittelbares« Werk der »allgütige[n] Vorsicht« (d. h. Vorsehung) zu erkennen (IV, 3; LM II, 428). Was sie damit meint, wird erst später, in ihrem Gespräch mit Odoardo (IV, 7), erkennbar: Sie hat sich für das Stelldichein mit einem Dolch versehen, den sie gegen den abtrünnigen Geliebten zu gebrauchen »fest entschlossen« ist (IV, 7; LM II, 436), und versteht sich dabei als ein Werkzeug der »allgütige[n]« Vorsehung. Da sie indes keine Gelegenheit zur Ausführung bekommt, überlässt sie Odoardo den Dolch, der sich – wie sie – durch alles andere als numinose Vorgänge in dem Wahn bestätigt sieht, mit seinem tödlichen Vorhaben den Willen der göttlichen Vorsehung zu erfüllen (V, 6; LM II, 447).

Als Orsina erfährt, dass sich die Braut Appianis, von dessen Tod sie unterwegs schon gehört hat, im Schloss aufhält, und dass es sich bei dieser Braut um jene Emilia Galotti handelt, von deren Zusammentreffen mit dem Prinzen in der Morgenmesse sie durch ihre Kundschafter weiß (IV, 5; LM II, 432), durchschaut sie das üble Spiel sofort und nennt den Prinzen einen Mörder (ebd.).

Nachdem Marinelli vergebens versucht hat, sie von dem unverhofft hinzukommenden Odoardo zu trennen, und, als ihm dies nicht gelingt, ihm andeutet, dass Orsina den Verstand verloren habe (IV, 7), offenbart Orsina dem ›guten, lieben Vater‹ voller Mitleid alles, was, wie sie weiß, diesem den Verstand rauben wird: »Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren.« (IV, 7; LM II, 434). Sie lässt ihn wissen, dass Appiani tot ist und dass der Prinz am Morgen in der Messe mit Emilia gesprochen hat: »Nun da, buchstabieren Sie es zusammen!« (IV, 7; LM II, 435). Odoardos ersten Impuls sogleich erratend, übergibt sie ihm ihren Dolch.

Seiner Bitte, Claudia, die ihre Aussagen bestätigt, in ihrer Kutsche mit in die Stadt zu nehmen, kommt sie freundlich nach und verlässt mit Claudia den Schauplatz (IV, 8).

Angelo

Ein für vogelfrei erklärter Mörder, der in Marinellis Auftrag den Überfall auf Appiani und Emilia durchführt. Dass er Appiani dabei ermordet, ist kein Zufall, sondern geschieht ebenfalls in Marinellis Auftrag, wie dessen Äußerungen in III,2 zeigen (LM II, 413 f.). Bei der Planung der Tat ist Pirro behilflich, Diener im Hause Galotti, der Angelo Abfahrtszeit und Begleitpersonal der Kutsche verrät, mit der Appiani und Emilia zur Trauung nach Sabionetta fahren (II,3). Angelo entlohnt ihn mit Geld.

Pirro

Der Bediente der Galottis verrät Angelo Abfahrtszeit und Begleitpersonal der Kutsche, mit der Appiani und Emilia zu ihrer Trauung nach Sabionetta fahren. Er ist über Angelos Plan (den er nur vage errät) zwar entsetzt, aber Angelo hat ihn wegen früherer Delikte in der Hand und droht ihm. Außerdem entlohnt er ihn gut (II, 3).

Battista

Der Bedienstete Marinellis führt Emilia nach dem Überfall auf Appianis Kutsche auf das Lustschloss des Prinzen unter dem Vorwand, sie retten zu wollen.