Arnheim, Dr. Paul
Er wird als »großer Mann« bezeichnet, als er zum ersten Mal erscheint (23., 96). Man liest aber schon im ersten Kapitel des Romans über ihn, als zwei Personen auf einer Wiener Straße gehen: »Angenommen, sie würden Arnheim und Ermelinda Tuzzi heißen, was aber nicht stimmt [...], so steht man vor dem Rätsel, wer sie seien« (1.,10).
Arnheim macht am gleichen Tag Diotimas Bekanntschaft wie Ulrich. »Er war unermeßlich reich. Sein Vater war der mächtigste Beherrscher des ›eisernen Deutschland‹« (23., 96). Er ist über vierzig Jahre alt. Arnheim wohnt in einem teuren Wiener Hotel und hat einen 16jährigen Mohrenjungen, Soliman, als Diener bei sich. Er ist, sagt man, jüdischer Abstammung (108). Er hat, der Mode entgegen, einen kleinen spitzen Kinnbart und einen kurzgeschorenen Schnurrbart (92., 421). Reichtum hält er für eine Charaktereigenschaft. Er weiß, dass »die Natur des Geldes« Vermehrung will wie die des Tieres die Fortpflanzung (420). Arnheim fördert vielversprechende Menschen und Projekte, aber niemals mit Geld, das wäre »Meuchelmord am Geld« (420).
Arnheim gilt als bedeutender Geist. Er hat gerühmte Bücher geschrieben und vereint aus Diotimas Sicht Wirtschaft und Seele (26.,108). Sein kurzer Besuch bei ihr macht auf ihn ebenso wie auf sie Eindruck (109). Ihr sagt sein »phönikisch-antiker Typus« zu (109). Er will sich, wie er sagt, im Barockzauber Wiens vom Materialismus erholen. Diotima meint nun, er, der Preuße, müsse die geistige Leitung der Parallelaktion übernehmen.
Zur ersten großen Sitzung der Aktion hat sie Arnheim eingeladen (»Sie war damals bereits verliebt in Arnheim« - 42.,168). Das verwundert die leitenden Herren, doch sie nehmen es hin (174). Ulrich kann ihn nicht ausstehen, »grundsätzlich, das Muster Arnheim. Diese Verbindung von Geist, Geschäft, Wohlleben und Belesenheit war ihm im höchsten Grade unerträglich« (176 f.). Er beobachtet den »harten Herrenkaufmannsschädel, das scharfe, aber wie aus zu wenig Material und darum flach gebildete Gesicht, die englische Herrenschneiderruhe der Figur und [...] die etwas zu kurzfingrigen Hände« (178).
Arnheim sagt später, ihn ergreife dieser österreichische Jubiläumsplan, denn in diesem Land habe sich der Geist des Rechnens und der Gewalt noch nicht ganz durchgesetzt; nur von hier könne die »Erlösung des deutschen Wesens vom Rationalismus ausgehen« (114., 569).
Arnheim hat ebensowenig wie Diotima je geliebt. »Von Diotima weiß man es, aber auch der große Finanzmann besaß eine in erweitertem Sinne keusche Seele« (45., 185). Er hat mit Frauen gelebt, denen er nicht Gefühle, sondern Geld gab, um nicht enttäuscht zu werden. Auch hat er noch nie einen Freund gehabt. Das »Schicksal« hat Diotima für ihn bestimmt. »Wir übergehen mit Ehrfurcht, was anfangs gesprochen wurde«, heißt es, als beide nach der ersten Zusammenkunft der Großen Aktion zurückbleiben (185).
Es wird erzählt, dass Arnheim in seiner Berliner Wohnung einen Saal voller religiöser Skulpturen hat, bei deren Anblick er das Feuer eines mythischen »Frühzustands der Seele« empfindet (187). Ein Zurückgehen hinter Verstand und Moral erlebt er wohl auch jetzt mit Diotima (188).
Er kehrt von seinen vielen Reisen immer wieder nach Wien zurück. Die Wiener halten ihn für »einen Sonderling, der Gedichte schrieb, den Kohlenpreis diktierte und der persönliche Freund des deutschen Kaisers war« (47., 188). Arnheim ist »ein außerordentlicher Redner« (48.,189) und hat das Talent, nie in etwas Einzelnem überlegen zu sein, sondern durch ein »sich selbst erneuerndes Gleichgewicht in jeder Lage obenauf zu kommen« (194). Als er einmal neben Sektionschef Tuzzi sitzt, sieht er aus wie ein Bremer Handelsherr neben einem levantinischen Taschendieb (49., 195).
Arnheim beurteilt die Zeit allgemein als hoffnungslos – aber jeder Augenblick könne der einer »Weltwende« sein! (49.,198). Für ihn ist die vaterländische Aktion so etwas wie der Schwimmgürtel für den Ertrinkenden angesichts der Gefahr, in Liebe zu Diotima zu versinken (196). Angesichts Diotimas empfindet Arnheim »die Verzagtheit des Moralisten, dem auf einmal und unerwartet der Himmel auf Erden begegnet« (50.,199).
Arnheim hat in Wien drei Gegner: Sektionschef Tuzzi, Ulrich und seinen kleinen Diener Soliman. Auch dem Grafen Leinsdorf ist Arnheim »nicht angenehm«, ihm missfällt, dass der Preuße alles beobachtet - wie ein Spion? (58., 231).
Arnheim erzählt Diotima, dass sein Großvater mit einem Müllabfuhrgeschäft in einer rheinischen Mittelstadt begonnen habe; sein erfolgreicher Vater habe nur zwei Klassen einer Handelsschule besucht (65., 269). Er hat das Bedürfnis, sich ihr »ungeschützt anzuvertrauen« (270).
Sein Erfolg steigt, er ist oft auf Reisen (78.). Eines Wintermorgens gegen Ende des Jahres 1913 reflektiert Arnheim in seinem Wiener Hotel über sich und der Erzähler über ihn. Er ist eine Herrschernatur, die sich in Szene zu setzen weiß. Aber die Liebe zu Diotima, die ihn mit fast 50 Jahren ergriffen hat, bereitet ihm »beträchtliche Unannehmlichkeiten« (86., 382). »Diotima war das erste Weib, das sein hintermoralisches, geheimeres Leben ergriff« (393), und es nützt ihm wenig, ihren niederen Rang zu bedenken.
Arnheim ist wie ein Prinz aufgewachsen, hat aber andere gegen Unrecht kämpferisch verteidigt; als Student in Zürich hat er sozialistische Ideen kennengelernt und in Berlin Arbeiterversammlungen besucht (385). In seinen Schriften ist irgendwann das Wort »Seele« aufgetaucht – damit glaubte er, einen Vorsprung zu haben, »denn sicher ist, daß Fürsten und Generale keine Seele haben, und von Finanzleuten war er der erste« (389). Dabei klingen seine Thesen wie Weisungen, und sein Machtdrang verbindet sich mit der Leidenschaft zu ordnen (390). Doch »wer ihn deshalb tadeln möchte, sollte bedenken, daß eine doppelte geistige Persönlichkeit zu besitzen, schon längst nicht mehr ein Kunststück ist, das nur Narren fertigbringen« (391).
In Kapitel 101 wird von einem langen Gespräch zwischen Ulrich und Diotima erzählt, das sich vor allem um Arnheim dreht. Arnheim ist eine Anstrengung für Diotima, die ihn liebt.
»Hohe Liebende haben nichts zu lachen«, ist Kapitel 105 überschrieben. Arnheim hat Diotima die Heirat angetragen, aber sie hat ausweichend geantwortet. Beide träumen und reden von Ehebruch und Scheidung, aber ihr Sinn für Legitimität hindert sie an irgendwelchen Entschlüssen. Arnheim spricht »mißbilligend von der Begehrlichkeit und fühlte sie indes wie einen geblendeten Sklaven im Kellergeschoß rumoren« (503). Beide wissen, dass sie sich »jede Sekunde bekommen« können, nicht aber, »wie sie es wollen sollten« (504). So beschwören sie ihre seelische Gemeinschaft.
Arnheim denkt nun wieder über die Seele nach und über das, was die Menschen antreibt: die Ichsucht. Wenn Gott heute das Tausendjährige Reich aufrichten wollte, würde Arnheim ihm raten, es nach kaufmännischen Grundsätzen einzurichten (106., 508). In seinem Inneren gibt es aber eine zweite Stimme, die nicht für Moral und Vernunft spricht, sondern ihm nahelegt, »einem irrenden Satelliten gleich in die Sonnenmasse Diotimas zu stürzen« (509). Doch in dem Augenblick, »wo er sich ohne Rücksicht auf seine Beinkleider und Zukunft Diotima zu Füßen stürzen wollte, gebot ihm eine innere Stimme Einhalt« (510). Wie sollte die Ehe, der Alltag mit ihr sein? Wenn er Diotima ansieht, wird er von einer Art Stupor befallen; eigentlich könnten sie sich nur gemeinsam in den Weltraum schießen lassen! (510). Bei ruhiger Überlegung kommt er zu dem Schluss, ein verantwortungsvoller Mann dürfe nur die Zinsen, nicht das Kapital seiner Seele opfern (511).
Arnheim gibt sich weiteren Reflexionen hin, zeitweise mit Soliman – von dessen Gegnerschaft er nichts ahnt – als Zuhörer. Er arbeitet sich in Gedanken an Ulrich ab, für den er nichts bedeutet – das irritiert ihn. Er hält den Jüngeren für einen reinen Verstandesmenschen und verachtet das (539), meint aber etwas später, Ulrich habe »Seele« (548). Arnheim verehrt das Irrationale. Sein Vater Samuel, ein großer Rechner, trifft Entscheidungen mittels Intuition (543).
Später möchte Tuzzi unbedingt von Ulrich wissen, was »Seele« bei einem Mann wie Arnheim bedeute. Ulrich meint, dass Arnheim vieles von Maeterlinck habe, beide seien begabte Eklektiker (III, 16., 804).
Als Ulrich Arnheim allein in Diotimas Haus antrifft (Kap. 121), führen sie ein längeres Gespräch über Ulrichs Thesen. Arnheim erklärt ihm, wie heutzutage Wirtschaft und Staat funktionieren: indirekt. Auftraggeber und Ausführung seien getrennt, es würden nur Knöpfe gedrückt – so bleibe das gute Gewissen des Einzelnen und der Gesellschaft erhalten (638). Ulrich fragt kess, ob diese Arbeitsteilung auch für Arnheims Beziehung zu Diotima und Tuzzi gelte (640). Er habe gehört (durch Fischel), Arnheim sei wegen seiner Ölinteressen in Galizien hier. Das bringt Arnheim in Verlegenheit; trotzdem schlägt er Ulrich vor, in seine Unternehmungen einzutreten (647).
Zu Beginn des dritten Teils bestätigt General Stumm Ulrichs Information. Arnheim verhandle hart über den Kauf der Ölfelder und den künftigen Verkauf von Öl und Kanonen an Österreich (III, 13., 774 f.).
Inzwischen hat Arnheim sich stillschweigend von Diotima zurückgezogen. Sie hat deshalb auch das Interesse am »Konzil« verloren, gibt aber trotzdem noch eine große Abendgesellschaft mit den Mitgliedern und vielen anderen Gästen. Hier treffen beide noch einmal kurz zusammen; in Gedanken nennt sie ihn »erotischer Feigling« (III, 38., 1036).
Im Sommer informiert General Stumm Ulrich über die weitere Entwicklung. Die Parallelaktion sei durch einen Weltfriedenskongress im Herbst ersetzt worden, Diotima dürfe sich nur noch nach Weisung betätigen. Und Arnheim? »Jetzt ist bestimmt nichts zwischen ihnen«, erklärt Stumm (1135). »Diotima und Arnheim sind große Seelen, und das wird schon deshalb nie ordentlich klappen« (1137).
Modell für Arnheim war Walther Rathenau, den Musil 1914 kennengelernt hatte.