Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften
Seinen Vornamen erfahren die Leser erst in Kapitel 5. Ulrich wohnt in Wien in einem Schlösschen von gemischter Baulichkeit und tut augenblicklich nichts (2.,12). Das heißt, er verfügt über genügend Geld, ist 32 Jahre alt und »hat einen Vater mit Eigenschaften« (3.). Dieser, Rechtsanwalt und Professor, ist durch die Ausübung seines Berufs für die Oberklasse wohlhabend geworden. Er hat viele Orden bekommen und sogar den erblichen Adelstitel. Die Mutter starb früh (3.,14). Ulrich hat eine Schwester, Agathe; sie ist gesund und hat einen tüchtigen Mann, wie der Vater schreibt (19., 79).
Ulrichs Lebensstil missfällt dem Vater. Ulrich hat sich, da er nicht weiß, wie er seine Fähigkeiten anwenden soll, und von irgendeiner Nützlichkeit nichts hält, ein Jahr Urlaub vom Leben genommen (13., 47). Später sagt er, er wolle sich töten, wenn ihm nach diesem Jahr kein Sinn aufgegangen sei.
Man schreibt das Jahr 1913. Das Land, in dem Ulrich lebt, wird Kakanien genannt – abgeleitet vom Titel der der kaiserlich-königlichen (k.u.k.) Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Kakanien wird von Kaiser Franz Joseph I. seit 1848 regiert. Ulrich hatte von jeher ein bedeutender Mann werden wollen (9.). Als Schüler hatte er in einem Aufsatz geschrieben: »Gott macht die Welt und denkt dabei, es könnte ebensogut anders sein« (5., 19). Darüber war große Aufregung entstanden, und der Vater hatte ihn auf eine belgische Schule geschickt. Anschließend wurde er Fähnrich in einem Reiterregiment, nahm aber als Leutnant seinen Abschied (9., 36). Dann studiert er das Ingenieurwesen, findet aber, dass Ingenieure zu einseitig sind. Schließlich wendet er sich der Mathematik zu.
Ulrich wird von nahezu allen Frauen, die im Roman erscheinen, geliebt. Doch er neigt dazu, sich zu entziehen. Zu Beginn des Romans ist die Rede von einer Beziehung zu der Chansonette Leontine (6.), die aber schon bald durch Bonadea abgelöst wird. Ulrich lernt sie durch einen Unglücksfall kennen: Er wird nachts auf der Straße zusammengeschlagen und von einer gerade in einem Taxi vorbeifahrenden Dame aufgelesen. »Zwei Wochen später war Bonadea schon seit 14 Tagen seine Geliebte« (7., 30). Bald aber langweilt sie ihn, und er versucht, sie loszuwerden.
Im Umgang mit Frauen ist Ulrich schon als junger Mann nicht schüchtern gewesen. »Sein Blick hatte sich schon an kleinem Weibszeug geübt und sogar bei mancher ehrbaren Frau den kleinen Diebspfad erspäht, der zu ihr führte« (32.,123). Dann aber, als 22jähriger Reiterleutnant, hatte er sich ernstlich verliebt, in die Gattin eines Majors. Nun wurde er liebeskrank. Er hatte, so erinnert er sich, der Frau des Majors die Welt erklärt, und plötzlich wurden beide von Liebe ergriffen. Das Erlebnis währte nicht lange, und Ulrich ergriff vor der Liebe die Flucht (124). In weiter Entfernung von der Heimat und der Geliebten fühlte er sich in der Landschaft eins mit der Welt und all ihren Erscheinungen (125).
Der Vater teilt ihm mit, er habe ihn an seinen langjährigen Freund, »Exzellenz Grafen Stallburg«, empfohlen (19., 78). Man plane eine Aktion (fortan »Parallelaktion« genannt) zu Ehren des 70jährigen Thronjubiläums des österreichischen Kaisers im Jahre 1918.
Zunächst aber sucht Ulrich, ebenfalls auf Wunsch des Vaters, seine »Kusine« Diotima auf (am gleichen Tag wie Dr. Arnheim, den sie für die Parallelaktion gewinnen möchte). Diotima findet ihn »glattrasiert, groß, durchgebildet und biegsam muskulös«, sein Gesicht erscheint ihr »hell und undurchsichtig« (22., 93).
Kapitel 39 heißt »Ein Mann ohne Eigenschaften besteht aus Eigenschaften ohne Mann.« Ulrich ordnet seine Erfahrungen nicht sich selbst zu, sondern verallgemeinert sie (149). »Man ist früher mit besserem Gewissen Person gewesen als heute« (150). Auch wenn Ulrich meint, dass er es »gleich nah und weit zu allen Eigenschaften hätte«, findet der Erzähler es nicht schwer, ihn »in seinen Grundzügen« zu beschreiben: »Er ist ein männlicher Kopf. Er ist nicht empfindsam für andere Menschen [...]. Er achtet Rechte nicht, wenn er nicht den achtet, der sie besitzt, und das geschieht selten. Denn es hat sich mit der Zeit eine gewisse Bereitschaft zur Verneinung in ihm entwickelt« (40., 151).
Ulrich selbst findet sich »unklar und unentschieden«, er liebt sich selbst nicht (40., 153). Er hätte wohl ein Herr des Geistes werden wollen. »Aber wenn Geist allein dasteht, als nacktes Hauptwort, kahl wie ein Gespenst, dem man ein Leintuch borgen möchte, - wie ist es dann? [...] Dieser Geist ist so fest verbunden mit der zufälligen Gestalt seines Auftretens!« (152). In Ulrichs Augen ist »der endgültige Zustand eines geistig angebildeten Menschen [...] ungefähr der, daß er sich auf sein ›Fach‹ beschränkte und für den Rest seines Lebens die Überzeugung mitnahm, das Ganze sollte ja vielleicht anders sein, aber es habe gar keinen Zweck, darüber nachzudenken.« (154 f.)
Während dieser Reflexionen sieht Ulrich sich plötzlich gespalten. Der eine Ulrich denkt abgeklärt: »Da habe ich also einmal eine Rolle spielen wollen, zwischen solchen Kulissen wie diesen. Ich bin eines Tags erwacht, nicht weich wie in Mutters Körbchen, sondern mit der harten Überzeugung, etwas ausrichten zu müssen. Man hat mir Stichworte gegeben, und ich habe gefühlt, sie gehen mich nichts an [...]. Unmerklich hat sich aber inzwischen der Boden gedreht, ich bin ein Stück meines Wegs vorangekommen und stehe vielleicht schon beim Ausgang. Über kurz wird es mich hinausgedreht haben, und ich werde von meiner großen Rolle gerade gesagt haben: ›Die Pferde sind gesattelt‹ Möge euch alle der Teufel holen!«. Aber der andere, »weniger sichtbare« Ulrich findet keine Worte für seine Empfindungen. »Worte springen wie die Affen von Baum zu Baum, aber in dem dunklen Bereich, wo man wurzelt, entbehrt man ihrer freundlichen Vermittlung.« Ein Sturm tobt in seinem Innern, es ist wie eine Bekehrung oder Umkehrung (155).
Ulrich versteht, dass einen zuweilen Panik erfassen kann, so wie den Betrunkenen, der sich und die Welt als nicht fest empfindet. Darum verteidigt er einen betrunkenen Arbeiter und wird mit diesem von der Polizei festgenommen (40., 157). Er gerät in eine staatliche »Maschine«. Eine Personenbeschreibung wird von ihm angefertigt: Seine grauen Augen sind »eines von den vorhandenen vier, amtlich zugelassenen Augenpaaren, das es in Millionen Stücken gab; seine Haare waren blond, seine Gestalt groß, sein Gesicht oval« (159). Nach seinem Gefühl dagegen ist er manchmal groß und kräftig, dann wieder schmal und zart. Als Beruf gibt er »privat« an, was für den Beamten wie »obdachlos« klingt. Doch bald sorgt der Polizeipräsident persönlich für seine Freilassung, denn Graf Leinsdorf hatte kurz zuvor die Polizei gebeten, Ulrichs Wohnsitz ausfindig zu machen (161).
So erscheint Ulrich denn zusammen mit Seiner Erlaucht zur »Großen Sitzung« der vaterländischen Aktion bei Diotima (Kap. 42). Er wird ehrenamtlicher Sekretär und sortiert die eingehenden Vorschläge »aus der Mitte des Volkes« zur Gestaltung des Jubiläumsjahrs, über die er dann dreimal wöchentlich zu berichten hat (Kap. 58). Im übrigen fühlt er sich in einer Krise – »er befand sich in dem schlimmsten Notstand seines Lebens« (62., 259). Da taucht Bonadea unerwartet wieder bei ihm auf, aber er widersteht ihren Lockungen (Kap. 63).
Ulrich berichtet Diotima über ein Gespräch mit Arnheim, in dem dieser ihn analysiert habe. Ulrich habe sein Interesse für das Nichtverwirklichte, das Mögliche verteidigt, und Arnheim habe ihn mit einem Mann verglichen, der sich neben ein gemachtes Bett auf die Erde lege (66., 275).
Diotima, die wegen der Aktion nun öfter mit dem »Vetter« Ulrich zusammen ist, findet ihn allmählich sympathischer: »Sein offenes Gesicht mit der klaren Stirn, seine ruhig atmende Brust, die freie Beweglichkeit in allen seinen Gliedern verrieten ihr, daß bösartige, hämische, umgebogen-wollüstige Bedürfnisse in diesem Körper nicht zu Hause sein konnten« (67., 282).
Ulrich kennt körperliche Liebe nur getrennt von seinem Geist, und das Verhalten dabei scheint sich ihm kaum von Mord und Totschlag zu unterscheiden (68., 285). Er fühlt sich in seinem wohltrainierten Körper nicht zu Hause (68., 286; 69., 289). Arnheim spricht gegenüber Diotima von Ulrichs ausgebildetem Verstand und seiner infantilen moralischen Exotik (324).
Nach Gesprächen mit der gescheiten Clarisse, die immer mehr neben sich steht und wie in Trance redet, denkt Ulrich darüber nach, dass es doch im Leben wie in der Mathematik möglich sein könnte, sich durch viele Einzellösungen der allgemeinen Lösung zu nähern (83., 358). Auf anderer Ebene beschäftigen sich Diotima und Arnheim damit. Diotima: »Ach, wenn man nur den erlösenden Gedanken fände!« Arnheim: »Nur ein reiner, ungebrochener Liebesgedanke kann uns die Erlösung bringen!« (83., 376). Diesen Dialog berichtet General Stumm Ulrich. Stumm seinerseits möchte Diotima helfen: »Es gibt so viele Gedanken und einer muß schließlich der erlösende sein!« (376).
In einem langen Gespräch, das Vetter und Kusine am Rande eines »Konzilstreffens« führen, spricht er mit ihr über extreme Seelenzustände. Ein Verbrecher wisse nicht, warum er so gehandelt habe. Das Ich verliere seine Souveränität, die Persönlichkeit werde nur noch ein »imaginärer Treffpunkt des Unpersönlichen« sein (101., 474).
Dies alles äußert er in einer intimen Situation, in der Garderobe, dann in Rachels Mädchenkammer, auf deren Bett sitzend. Bald darauf spricht er mit Gerda Fischel über den Fortschritt und denkt dabei, dass es eigentlich gleichgültig sei, welcher Frauenkörper ihn anrege (102., 489).
In einer der langen Reflexionen, denen sich Arnheim immer öfter in seinem Hotel hingibt, setzt er sich mit Ulrich auseinander, der ihn irritiert. Er erscheint Arnheim, der das Irrationale liebt, wie ein reiner Verstandesmensch. Aber auch bei Ulrich liege ein Schatten zwischen ihm und den »Gegenständen seines Verlangens« (547) - eigentlich seien sie beide wie Brüder, die sich feindlich begegneten. Plötzlich fällt ihm ein: »Dieser Mann hat Seele!« (548).
In den ersten Wochen des Jahres 1914 geht Ulrich mit Diotima und Arnheim in die Hofbibliothek, um nach einem Makart-Festzug aus den 1870er Jahren zu forschen. Sie treffen dort Stumm, und während Arnheim mit dem General redet, führt Ulrich ein intimes Gespräch mit Diotima. Sie sprechen über Arnheim und die Entscheidung, die sie fällen soll. Was soll sie tun? »Gewährenlassen!« rät Ulrich – nämlich das annehmen, was kommt. Sie könne es ja einstweilen mit ihm versuchen. »Versuchen wir einander zu lieben, als ob Sie und ich die Figuren eines Dichters wären, die sich auf den Seiten eines Buchs begegnen« (114., 573).
Während einer ›Konzilssitzung‹ kommt Bonadea, aus Sehnsucht nach Ulrich, in Diotimas Haus. Mit Rachels Hilfe kann er ungesehen mit ihr in Diotimas Schlafzimmer gehen. Ihre Liebe rührt ihn, und er spricht ernster mit ihr als sonst. Ihm fällt ein Traum ein, in dem er einen steilen Berghang überqueren wollte, aber immer wieder von Schwindelgefühlen zurückgetrieben wurde (115., 581). Er verabschiedet Bonadea liebevoll und sagt ihr: »ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen können, ich habe jetzt viel mit mir selbst zu tun!« (582).
Bei einer Konzilssitzung im kleinsten Kreis schweifen Ulrichs Gedanken weit ab. Er fühlt plötzlich »ein unbeschädigtes Verständnis dafür in sich, daß das Leben ein derber und notvoller Zustand sei« . Dieses »Lebensgemisch von Sorgen, Trieben und Ideen« brauche die Ideen höchstens zur Rechtfertigung oder als Reizmittel (116., 591). Er schlägt dem Grafen Leinsdorf eine »geistige Generalinventur« vor, so als ob der Jüngste Tag ins Jahr 1918, das Jubeljahr, falle. Der alte Geist solle abgeschlossen werden und ein höherer beginnen. »Gründen Sie im Namen Seiner Majestät ein Erdensekretariat der Genauigkeit und Seele« (597). Man nimmt ihn nicht ernst, aber Graf Leinsdorf verteidigt ihn gegen Arnheim. Ulrich erinnert sich, dass er einmal zu Tuzzi gesagt hat, »er werde sich töten, wenn das Jahr seines Lebensurlaubs ohne Ergebnis verstreiche« (599).
Während Ulrich die beiden sehr weiblichen Frauen, die er mag, auf Distanz hält, ergibt es sich, dass er die magere Gerda Fischel, die er nicht besonders mag, von ihrer leidenden Jungfräulichkeit zu befreien versucht (119.). Das misslingt, denn Gerda bekommt, obwohl sie Ulrich zu lieben glaubt, einen hysterischen Schreikrampf. Später kommt er sich vor wie ein großer Hund, der sich über einen heulenden kleinen hergemacht hat (120., 630).
Als die von Hans Sepp angekündigte Kundgebung gegen die Parallelaktion stattfindet, ist die ganze Stadt, wie es scheint, erregt. Ulrich geht ins Palais des Grafen Leinsdorf, das bewacht wird. Die Menge vor dem Palais ruft und droht, aber man versteht es oben nicht. Ulrich betrachtet das Ganze mit großer Distanz und gibt sich einer »staats- und menschenfeindlichen Gesinnung« hin (120., 632).
Kurz darauf verwickelt Arnheim ihn in ein Gespräch über seine früher geäußerten Ansichten. In Arnheims Augen fordert Ulrich von den ›verantwortlichen Führern‹ ein »Bewußtsein des Versuchs«, d.h. das Bewusstsein, »daß sie nicht Geschichte zu machen, sondern Versuchsprotokolle auszufüllen haben, die weiteren Versuchen zur Grundlage dienen könnten« (121., 636). Obwohl Ulrich ihn wegen seines Verhaltens gegen Diotima angreift, bietet Arnheim ihm an, in die Unternehmungen seiner Firma einzutreten. Nun bringt Ulrich zur Sprache, was er von Arnheims Öl-Interessen gehört hat, und irritiert ihn damit erheblich. Arnheim legt Ulrich dann den Arm auf die Schulter, das macht Ulrich verlegen, weil es seiner Sehnsucht nach einem Freund entgegenkommt. Er hatte »einen Wall von Einsamkeit«, ohne dass er es wollte, um sich aufgerichtet, »und nun drang durch eine Bresche das Leben ein, der Puls eines anderen Menschen« (644). Ulrich geht schließlich und erklärt, sich Arnheims Vorschlag überlegen zu wollen (647).
Auf dem Heimweg durch die winterlichen Straßen denkt Ulrich darüber nach, was ihm im Gegensatz zu anderen fehlt: Es ist die ›perspektivische Verkürzung des Verstandes‹ (122., 648), die das Nahe groß und das Ferne klein erscheinen lässt, und es ist die »erzählerische Ordnung«, die die Menschen ihrem Leben geben, wenn sie mit »als«, ehe« und »nachdem« oder gar mit »weil« und »damit« von sich erzählen (650).
Als Ulrich nach Hause kommt – es ist immer noch derselbe Wintertag, der mit Gerdas Besuch begann –, findet er Clarisse vor, die ihm das Telegramm übergibt, das den Tod seines Vaters mitteilt. Er denkt: »Ich bin nun ganz allein auf der Welt!«, obwohl seine Beziehung zum Vater nicht gut war (123., 655).
Clarisse ist entschlossen, von ihm das Kind (»den Erlöser der Welt«) zu empfangen, das sie von Walter nicht will (660). Er widersteht ihrer Verführung, als er sich an Gerda erinnert, und erklärt schlicht: »Ich will nicht, Clarisse!» (661). Als er allein ist, fällt ihm auf, dass die wohl geisteskranke Clarisse oft dieselben Gedanken äußert wie er (662). Dann hat er in seiner Übermüdung plötzlich ein erweitertes Körpergefühl, obwohl »kein Gott das Zimmer dieses Ungläubigen betrat« (663 f.). Seine Einsamkeit »wuchs in die Welt. ›Welche Welt?‹ dachte er. ›Es gibt ja gar keine.‹« (664). Er glaubt sich wieder dort zu befinden, wo er vor Jahren schon einmal war, und nennt das »einen Anfall der Frau Major« (664). Aber dann ist der Morgen da, und Ulrich fährt zur Bahn.
Beim Begräbnis des Vaters sehen Ulrich und Agathe sich zum ersten Mal nach fünf Jahren wieder. Auch vorher haben sich selten getroffen. Nachdem ihre Mutter früh gestorben war, wurden sie in verschiedenen Internaten erzogen. Nur einmal, als die fünf Jahre jüngere Agathe zehn Jahre alt war, waren sie längere Zeit in den Ferien zusammen. Als sie sich jetzt in ihrem Elternhaus wieder begegnen, tragen beide ›zufällig‹ einen Hausanzug, der einem Pierrotkostüm ähnelt (III, 1., 675 f.). Nach dem Begräbnis vollendet Ulrich plötzlich seine mathematische Untersuchung, strebt damit aber keine akademische Karriere mehr an (III, 8., 720).
Die Geschwister sind schnell miteinander vertraut. In seiner Schwester begegnet Ulrich zum ersten Mal das Andere nicht als leicht Abstoßendes, sondern als Gleiches. Und Agathe findet, in ihm sähe man sich wie in den Scherben eines Spiegels (III, 10., 744). Während sie den Nachlass des Vaters ordnen, liest Ulrich Bücher über Heilige und ihre unmittelbaren Erfahrungen (III, 11., 750). Er spricht zu Agathe davon ohne Ironie. Kein Europäer lebe heute mehr im Extrem (III, 12., 758). Aber auch ohne Glauben gebe es zwei Zustände des Menschen, ein geheimnisvolles zweites Leben, über das er spotte, weil er es liebe (11., 752). Agathe kann sich den anderen Zustand nur als Liebe vorstellen (12., 765 f.). Gewöhnlich wird das als »Wahn« betrachtet, meint Ulrich. Er glaubt für die Zukunft an »Mathematik und Mystik« (770).
Wieder in Wien, wird er von General Stumm überfallen, der ihn für die neue Aktion gewinnen will: es gelte jetzt der Geist der Tat (III, 13., 778).
Es wird März (III, 14., 785), und Ulrichs Versuch eines »Lebens auf Urlaub« geht zuende. Agathe soll – zunächst nur »für die Dauer der Scheidung« von Hagauer – zu ihm ziehen (III, 15., 800 f.). Ulrich meint, Agathe und er werden nun in das »tausendjährige Reich« einziehen. Agathe: »Was ist das?« Ulrich erinnert sie an ihre Gespräche über eine Liebe, »die nicht wie ein Bach zu einem Ziel fließt, sondern wie das Meer einen Zustand bildet« (15., 801).
Während Hagauer, Agathes Mann, auf eine schlechte (d.h. moralisch bequeme) Art gut sei, seien sie auf gute Art schlecht, überlegt Ulrich (III, 18., 822). Vor Agathes Ankunft reflektiert Ulrich so lange, bis er ihre Beziehung nüchterner sieht (III, 22.). Er betrachtet seine moralischen Erwägungen kritisch (»Es erging ihm so, wie es gewiß auch manchem, der seine Geschichte verfolgt, ergehen wird« – 22., 871). Angesichts des Lebens auf der Straße fragt er sich: »Was soll es denn bedeuten [...] auch noch ein Ergebnis zu verlangen, das darüber, dahinter, darunter sein soll?« (873). Der Begriff »Tausendjähriges Reich« bedeute eigentlich nur »eine Art wohltuenden Werks« (875). Ihre Geschwisterliebe habe etwas Asoziales, weil sie vor allem »Abstoßung von der übrigen Welt« sei (876).
Nach Agathes Ankunft muss Ulrich sein Haus und sein Leben neu ordnen. Er hat bisher immer allein gelebt. »Du bist meine Eigenliebe«, sagt er ihr (III, 24., 899). Seine Geliebten habe er eigentlich nie gemocht (III, 25., 899). Die Geschwister sehen sich nun als »Zwillinge« (908), gar als siamesische. Das sagt Ulrich auch zu General Stumm, fortan heißen sie »die Siamesen« (III, 27., 934). Ulrich genießt Agathes Anwesenheit im Haus, ihren Umgang mit Kleidern (III, 28., 938). Er liebt zum ersten Mal den Alltag und die Gegenwart (937). Sie sprechen viel über Liebe im allgemeinen. Als aber Hagauers Brief an Agathe eintrifft, hat er für ihre Skrupel ihres Mannes wegen kein Verständnis (III, 29.), und Agathe geht traurig weg. Doch abends sind sie wieder bei Diotimas großer Gesellschaft zusammen und fühlen sich einander sehr nah. Zum ersten Mal zerbricht die »Schale« um Ulrich (III, 38., 1025). Er »kämpfte um seine Seligkeit. Er versuchte, alles dazwischenzuschieben, was sie hindern könnte« (1038).
Nachdem Agathe vergeblich Rat bei dem tugendhaften Lehrer Lindner gesucht hat, kommen die Geschwister einander immer näher, besonders an einem Mondscheinabend im sommerlichen Garten, wo Ulrich über »taghelle Mystik« und die Einheit der Gegensätze spricht (1089 f.). »Die Ungetrennten und Nichtvereinten« (1104) sprechen viel über Liebe, Wirklichkeit, Mystik (1233). Ulrich denkt über die beiden Arten des Menschseins nach, die aktivistische und die kontemplative oder nihilistische. »Weshalb sind wir denn keine Realisten?« »Sie waren es beide nicht [...], aber Nihilisten und Aktivisten waren sie« (1239).
In ihre Zweisamkeit bricht General Stumm ein, den sie auch in ein Gespräch über Liebe verwickeln, zunächst über Liebe zu Gegenständen, Idolen (1115). Dann erklärt Ulrich, die Aussage »Ich liebe dich«, sei eine Verwechslung der wirklichen Person mit der vorgestellten, diesem »wildreligiösen Gebilde«. Agathe: »Vielleicht entsteht auch der Reisekoffer erst zu Ende, wenn man ihn liebt!« (1116).
Stumm lobt Ulrichs schönes Sprechen, fragt aber, ob es denn seine einzige Beschäftigung sei (1117). In einem langen Gespräch klärt er Ulrich über die Entwicklung der Parallelaktion auf, die einem Weltfriedenskongress im Herbst habe weichen müssen. Ulrich erfährt viel über Tuzzi, Diotima, Leinsdorf und Stumm selbst (1130 ff., 1147 ff.). Es amüsiert ihn, besonders wie Tuzzi sich zum Herrn der Vorgänge gemacht hat. Ihm ist dabei, als fühle er »dem Teufel nach, wie er in die Himmelsspeise des Lebens eine Faust voll Salz getan hat« (1137). Sie sprechen auch wieder über die praktische Anwendbarkeit des Geistes, und Ulrich sagt: »Der Geist ist ins Leben verflochten wie ein Rad, das er treibt und von dem er gerädert wird« (1152). Von Graf Leinsdorf berichtet Stumm, er betrachte nun Realpolitik als »das Gegenteil von dem, was man tun möchte« (1137).
Während Ulrich mit Stumm spricht, liest Agathe heimlich seine Tagebücher, die sich mit Liebe und Schönheit beschäftigen (1123 ff.). Dabei stößt sie auf einen »geschichtlichen Abriß der Gefühlspsychologie« (1138 ff., 1156 ff.). Später setzt Ulrich seine theoretischen Überlegungen im Tagebuch fort (1189 ff.), bis er bei den Engeln und Swedenborg ankommt (1202 f).