Stumm von Bordwehr
Der General, Leiter der Abteilung für Militär-, Bildungs- und Erziehungswesen im Kriegsministerium, ist bei der ersten Sitzung der Großen vaterländischen Aktion anwesend, obwohl niemand weiß, wer ihn eingeladen hat (dahinter stecken Rachel und Soliman; vgl. 80., 340 f.). Er schlägt vor, die Kraft des Heeres in den Mittelpunkt des Jubiläumsjahres zu stellen (44., 180).
Der kleine rundliche Mann »mit den schwänzelnden Augen und den Goldknöpfen am Bauch« macht dann einen Besuch bei Diotima, der sie erschreckt (64., 268). Stumm erinnert sie an die Möglichkeit des Krieges. Ulrich bestätigt ihre Abwehr, indem er rät, den General von den Sitzungen fernzuhalten (66., 275). Wenig später besucht der »kleine dicke General« mit den großen braunen Augen sie erneut (75., 320) und verstört sie abermals mit dem Gedanken an das Kriegsministerium. Um so mehr spricht er dann von Frieden und vor allem von Ordnung: sie sei der Geist der Neuzeit (322). Diese Vorstellung teilt er mit Graf Leinsdorf.
Stumm erscheint nun regelmäßig bei den Sitzungen des »Konzils« im Hause Tuzzi. Als er die erste Einladung (von Rachel) erhalten hatte, war er »spornstreichs« zu seinem Vorgesetzten, dem Feldmarschallleutnant Frost von Aufbruch, gelaufen, um ihm das mitzuteilen.
Der muntere General trägt eine vergissmeinnichtfarbene Uniform über seinem Bauch (80., 340). Ursprünglich war er Kavallerieoffizier gewesen, hatte aber geringen Erfolg, weil seine Hände und Beine für dieses Metier zu klein sind. Aus Ärger hatte er sich einen schwarzbraunen Vollbart wachsen lassen und begonnen, »wissenschaftlich« Taschenmesser zu sammeln (342). Nachdem ihm auch der Besuch der Generalstabsschule keinen Erfolgsweg geöffnet hatte, war er des Offizierslebens mit dem frühen Exerzieren, den Pferdegesprächen, den Wein- und Weibergelagen vollends müde geworden. Unter seinen Regimentskameraden galt er als »Philosoph«. Seine Abkommandierung ins Ministerium hatte ihn gerettet und ihm sogar die Beförderung zum General gebracht. Seitdem ist er glücklich. Eine Familie hat er sich auch zugelegt.
Auf dem Konzilstreffen entdeckt er Ulrich, der einmal Leutnant im 9. Ulanenregiment war. »Du wirst staunen, Herr General!« sagt der (80., 346). Man duzt sich in Offizierskreisen, ungeachtet des Rangs. Ulrich muss fortan Stumm alles erklären, was ihm fremd ist, und das ist fast alles.
Seinem Chef, »dem Exzellenz Frost«, hat Stumm vorgeschlagen, das beim »Konzil« zu erwerbende Wissen für den militärischen Geist nutzbar zu machen (85., 371). Allerdings hat er Schwierigkeiten, den »Zivilgeist« zu begreifen. Stumm hat mit einigen Untergebenen eine Art »Grundbuchblatt der modernen Kultur« angelegt, das Weltanschauungen und große Namen enthält, von Buddha bis Ganghofer (85., 372). Er hat herausgefunden, dass es zu jeder Idee auch den Gegensatz gibt: Individualismus vs. Kollektivismus usw. Er hat auch ein Verzeichnis der »Ideenbefehlsgeber« (374) gemacht, sowie einen Aufmarschplan. Aber er kann keine Einheit in alldem entdecken. Ulrich ist gerührt von den kindlichen Einfällen, die der General »mit Mannesmut ausführte« (375).
Stumm möchte von Ulrich wissen, welches denn nun der eine erlösende Gedanke unter so vielen Gedanken sei, damit möchte er Diotima helfen. Obwohl er »kein Buserant« sei (376), gesteht er Ulrich, dass er die schöne Diotima mit ihrer »imponierend weiblichen Fülle« – von hinten (während sie ›vorn‹ gelehrt redet; 375) – verehrt und liebt und sich darum sogar gern in Arnheim hineindenken kann.
»General Stumm dringt in die Staatsbibliothek ein« (Kapitel 100). Stumm berichtet Ulrich von seinem Besuch der Hofbibliothek: Er wollte im Wissen der Gelehrten den einen bedeutendsten Gedanken suchen, um ihn Diotima »zu Füßen zu legen« (100., 459). Aber drei Millionen Bände entmutigten ihn. Ein Bibliothekar erklärte ihm, dass es nicht sinnvoll sei, die Bücher selbst zu lesen, die Bibliographien der Bibliographien genügten vollauf. Daraufhin wäre Stumm am liebsten in Tränen ausgebrochen oder hätte sich eine Zigarette angezündet (100., 462). Aber ein alter Diener, der aus langer Erfahrung weiß, wer was liest, kam ihm zu Hilfe. So erfuhr er, was die Frau Sektionschef Tuzzi liest, und musste sich nur dieselben Bücher geben lassen. Das war für ihn »wie eine heimliche geistige Hochzeit« (463).
Aber der Gedanke der Ordnung beschäftigt ihn immer noch – eine totale Ordnung, eine Menschheitsordnung ist nicht vorstellbar (464). Beim Militär hat man die größte Ordnung und muss gleichzeitig immer bereit sein zu sterben. »Irgendwie geht Ordnung in das Bedürfnis nach Totschlag über« (465).
Später macht Stumm sich Gedanken über den vielgebrauchten Begriff der »Erlösung«, der ihm in der Rede von Kakaniens »unerlösten Nationen«, in »Kirchen und Kaffeehäusern«, in Kunstzeitschriften und in Arnheims Büchern begegnet (518 f.). Die geistigen Menschen der Zeit, so mutmaßt er, fühlen sich unfruchtbar und warten auf einen Messias, sei es in der Medizin, in der Dichtung oder wo immer (108., 520). Unsere Kultur achte aber darauf, dass der Geist nicht die Oberhand bekomme (521). »›Was ist denn überhaupt Geist?!‹ fragte er sich rebellisch. ›Er geht doch nicht um Mitternacht in einem weißen Hemd um; was sollte er also anderes sein als eine gewisse Ordnung, die wir unseren Eindrücken und Erlebnissen geben?!‹« Dann sei er aber überflüssig. Der General vergewissert sich der »Unentbehrlichkeit einer starken Faust«: »Als Offizier besaß er Weltanschauung!« (521).
In den ersten Wochen des Jahres 1914 erklärt Arnheim ihm im Gespräch vor der Hofbibliothek, »die Seele gehe zuende« (114., 568). Er zeigt Stumm das riesige Bild eines Engels, dessen Flügel sich waagerecht über zwei Seiten einer alten Handschrift ausbreiten. Stumm versteht diese mittelalterliche Malerei nicht und hält das Bild für eine Verirrung, nämlich »ein Wesen mit Flügeln und langem Hals, das weder ein Mensch noch eine Schnepfe ist« (569). Das Gespräch verwirrt den General ungemein, aber er fühlt sich auch geschmeichelt: »Wenn der Engel in dem Buch plötzlich seine gemalten Flügel gehoben hätte, um den klugen General Stumm ein wenig darunter blicken zu lassen, dieser hätte sich nicht verwirrter und glücklicher fühlen können!« (571).
Bei einer Sitzung im engsten Kreis – noch immer weiß niemand, wie er in Diotimas »Konzil« geraten ist –, schlägt Stumm vor, doch einfach das Militär zu stärken, wenn schon niemand wisse, was zu beschließen sei (116., 585). Als die Sitzung wieder ergebnislos endet, sagt er vergnügt zu Tuzzi: »Das ist der bewaffnete Ideenfriede!« (600).
Nach der Rückkehr vom Begräbnis seines Vaters wird Ulrich sofort von Stumm überfallen, der ihn für den neuen Geist der Tat gewinnen will – mit der Idee sei es vorbei (III, 13., 778 f.). Der General kommt mit Kommissbrot und Anekdoten und bestätigt Ulrichs Information, dass Arnheim die galizischen Ölfelder erwerben will, dafür soll er dann Öl und Kanonen billig an Wien liefern (774).
Beim nächsten Besuch wird Stumm mit seiner »zarte(n) Leibesfülle und empfindsame(n) Natur« von einem »Stupor« ergriffen, als er Agathe kennenlernt (III, 27., 931).
Es ergibt sich, dass er Clarisse, deren Bruder Siegmund und Ulrich zum Besuch im »Narrenhaus« begleiten muss, in voller Uniform mit Sporen, die er zu seiner Beruhigung mit einem weißen Arztkittel bedecken darf (III, 32., 977). Nebenbei informiert er Ulrich über die neueste Entwicklung der »Aktion«: Inzwischen habe die Pazifistin Melanie Drangsal einigen Einfluss; Stumm wolle aber zugleich die Artillerievorlage durchbringen (III, 33., 981). Auf einer großen Abendgesellschaft bei Diotima verzweifelt er an der Aufgabe, die dort von den verschiedensten Menschen geäußerten Thesen zusammenzufassen. Es sei doch alles »verdammt kompliziert« (III, 38., 1040).
Im Sommer, als Ulrich sich mit Agathe von der Gesellschaft zurückgezogen hat, unterbricht Stumm ihre Zweisamkeit und berichtet vom Ende bzw. neuen Ziel der Parallelaktion: man werde nun als Vorfeier den Weltfriedenskongress ausrichten, der im Herbst stattfinden solle (1118). Es werde wahrscheinlich einen Trachtenfestzug und eine Militärparade geben, und den übertriebenen Pazifisten Feuermaul habe man ausgeschaltet (1122). Stumm ist selbstbewusster und diplomatischer geworden. Er versucht zunächst, nicht allzu viel auszuplaudern, und hat die Annehmlichkeiten des Lügens entdeckt (1131). Dann aber sagt er doch, was er weiß: Sektionschef Tuzzi hat seiner Frau die Parallelaktion aus der Hand genommen, sie muss sich jetzt in ihren Unternehmungen dem Unterrichtsministerium fügen (1132 f.).
Stumm selbst ist wegen des pazifistischen Beschlusses von Feuermaul in Ungnade gefallen. Wenn er nicht Einsicht gezeigt hätte, wäre er wohl zu einer Landwehrbrigade in Knobljoluka abkommandiert worden, statt immer noch »am Kreuzungspunkt von soldatischer Macht und ziviler Erleuchtung« zu sitzen (1150). Zwar hat ihm sein Minister das »Referat D« (Diotima) abgenommen, doch zum Trost darf er sich nun um den Grafen Leinsdorf kümmern, den man kaltstellen und beschäftigen möchte (1148 ff., 1155).
Sein Nachdenken hat ihn zu dem Schluss geführt, dass es in der Republik der Geister zum Glück viele Ideen gibt, dass der Geist sich nicht zum Regieren eignet (1151) und: »ganz gleich, welchen Geist es wann immer gegeben hat, immer ist am Ende ein Krieg daraus entstanden!« (1153).