Ur (Uru)
Der Name der Stadt Ur in Chaldäa am Unterlauf des Euphrat, aus der Abraham stammt, gibt dem Erzähler Anlass zu Wortspielen, aus denen stehende Wendungen für die Bezeichnung Abrahams hervorgehen: Abraham ist »Ur-Abiram«, der »Mann aus Ur«, der »Ur-Wanderer«, der »Ur-Mann«, d.h. Abraham und die Stadt Ur sind, wie gleich auf der ersten Seite des Romans zu erfahren ist, einer jener »Anfänge bedingter Art, welche den Ur-Beginn der besonderen Überlieferung einer bestimmten Gemeinschaft, Volkheit oder Glaubensfamilie praktisch-tatsächlich bilden, so daß die Erinnerung, wenn auch wohl belehrt darüber, daß die Brunnenteufe damit keineswegs ernstlich als ausgepeilt gelten kann, sich bei solchem Ur denn auch national beruhigen und zum persönlich-geschichtlichen Stillstande kommen mag« (IV, 9 f.).
Das gilt auch für die Geschichte, die hier erzählt wird, und ihren Helden. »Joseph für sein Teil erblickte in einer südbabylonischen Stadt namens Uru, die er in seiner Mundart ›Ur Kaschdim‹, ›Ur der Chaldäer‹ zu nennen pflegte, den Anfang aller, das heißt: seiner persönlichen Dinge« (IV, 11).
In Ur wird der Mondgott Sin verehrt. Hier steht, wie Joseph weiß, die »große Mondburg von Ur«, der »getürmte Tempel des Sin-Gottes, nach welchem das ganze Land Sinear also benannt war« (IV, 11). Abraham ist der »Mondmann« (IV, 12 u.ö.): Von der Mondstadt Ur im Süden war er einst ausgezogen, um es dem Mond »gleichzutun und zu wandern« (IV, 11), und diese Wanderung führte ihn zuerst, bevor er nach Kanaan weiterzog, zu einer anderen großen Mondburg, nach Charran, der »Mondstadt des Nordens« (IV, 12), wo der Tempel des Bel-Charran steht, den Jaakob später missbilligend betrachten wird (IV, 250).
Der Erzähler vermutet allerdings, dass Abraham in Wahrheit »die Mondburg von Uru niemals gesehen« hat, sondern schon sein Vater Terach von Ur ausgewandert war (IV, 17). Ähnlich denkt auch Joseph, zumindest »in genauen Stunden, am Tage« (ebd.). Lieber allerdings ist ihm die Geschichte vom »Ur-« und »Mondmann« Abraham, an dessen Auszug aus Sinear er »im Sinne praktischen Notbehelfs« glaubt. Denn »sein Wunsch, dem Geschehen, dem er angehörte, einen Anfang zu setzen, begegnete derselben Schwierigkeit, auf welche ein solches Bemühen immer stößt: der Schwierigkeit eben, daß jeder einen Vater hat und daß kein Ding zuerst und von selber ist, Ursache seiner selbst, sondern ein jedes gezeugt ist und rückwärts weist, tiefer hinab in die Anfangsgründe, die Gründe und Abgründe des Brunnens der Vergangenheit« (IV, 17 f.).
»So bilden sich Anfänge und Vorlagerungen der Vergangenheit, bei denen besondere Erinnerung sich geschichtlich beruhigen mag, wie Joseph bei Ur, der Stadt, und des Ahnen Auszug aus ihr« (IV, 49).
Vgl. Übersichtskarte. – Wie Charran im Norden, so war Ur im Süden Hauptsitz des babylonischen Mondkultes (Jeremias I, 261). – Zur »großen Mondburg von Ur« (IV, 11) vgl. die Seite des British Museum über die Zikkurat von Ur. – Fotografien der (restaurierten) Überreste finden sich bei Wikipedia.
Abb.: Die Zikkurat von Ur nach Zeichnungen von William Loftus (um 1850).