Charran (Charan, Nahors Stadt, Stadt des Weges)
In Charran im nordwestlichen Mesopotamien, im Land Naharina, macht der Erzvater Abraham bei seiner Wanderung von Ur im südlichen Mesopotamien nach Kanaan für mehrere Jahre Station. Davon wird im Vorspann »Höllenfahrt« (IV, 9-55) und verstreut in den ersten beiden Teilen des Romans rückschauend berichtet: Abraham gelangte nach Charran, »der Mondstadt des Nordens [...] im Lande Naharain, wo er mehrere Jahre verblieben war und Seelen gesammelt« hatte (IV, 12). Charran hatte sich aber für den ruhelosen, gottsuchenden Erzvater »in Wahrheit nur als ›Stadt des Weges‹ erwiesen, [...] aus welcher der Mondmann über ein kleines sich wieder gelöst hatte, nebst Sarai, seiner Eheschwester, und allen seinen Verwandten« (IV, 12).
Charran wird gelegentlich auch »Nahors« oder »Nachors Stadt« genannt (IV, 122, 222; vgl. auch Genesis 12, 4 und 24,1), was auf den Umstand hindeutet, dass Abrahams Bruder Nahor, in der Gegend um Charran geblieben zu sein scheint, denn zu Isaaks und noch zu Jaakobs Zeit leben Nahors Nachfahren hier, darunter sein Sohn Bethuel und dessen Kinder Rebekka, Jaakobs Mutter, und Laban, Jaakobs Onkel und Schwiegervater. Von Labans Gehöft aus kann man über die offene Steppe hin am Horizont den »Stufenturm des Mondtempels von Charran« E-chulchul sehen (IV, 236).
Dorthin, zu Laban, flieht Jaakob vor Esau (IV, 214-231), nachdem er dem Vater Jizchak den Erstgeburtssegen abgelockt hat (IV, 201-214). Er bleibt dort, wie der Erzähler errechnet, 25 Jahre (IV, 245), hält Hochzeit mit Labans Töchtern, Lea und Rahel, und wird schwer an Vieh und Gesinde (IV, 358). Hier werden Joseph und seine zehn älteren Brüder geboren (IV, 108), Joseph im »zwanzigsten Charranjahr« (IV, 246).
In Charran schließen Jaakob und Laban ihren Vertrag vor einem Schreiber und Rechtsbeamten (IV, 249 f.). Anschließend machen sie dort einige Einkäufe und Jaakob sieht nun, teils missbilligend, teils neidisch, den prunkvollen Tempel des »Bel-Charran«, des Mondgottes Sin, aus der Nähe, »ein siebenfarbiges Ungetüm aus Kacheln, azurblau in der Höhe, so daß das dortige Heiligtum und Absteigequartier des Gottes, wo ihm ein Hochzeitsbett errichtet war, mit dem Blau der oberen Lüfte gleißend zusammenzufließen schien« (IV, 250).
In der Gegend von Charran ist, was Jaakob lange nicht weiß und schmerzlich erfahren muss, »die Ehe mit zwei gleichberechtigten Hauptfrauen sehr häufig, ja unter guten Vermögensumständen geradezu üblich« (IV, 255).
Aus Charran kommen die »Musikanten, Harfenisten, Pauker und Cymbelspieler«, die bei Jaakobs (Doppel-) Hochzeit aufspielen (IV, 299), und nach Charran, zum »Sehepriester des Sin-Tempels E-chulchul«, bringen Laban und Adina ihre (mit Joseph) schwangere Tochter Rahel, »damit er ihr und dem Kinde durch Wahrsagung die Zukunft deute« (IV, 337).
Nach Genesis 11, 26 f. ist Charran (Haran) nicht nur ein Ortsname, sondern auch der Name eines Bruders von Abraham, der früh, noch in Ur in Chaldäa, stirbt und dessen Sohn Lot ist. Der Erzähler hält das für eine Erfindung und Verwechslung: »Gewiß, Lot von Sodom war ein Sohn Charrans, da er von dort stammte, so gut wie der Ur-Mann. Aber aus Charran, der Stadt des Weges, einen Bruder des Ur-Mannes und also aus dem Proselyten Lot einen Neffen von ihm zu machen, war eitel Träumerei und Gedankenspiel« (IV, 17).
Vgl. Übersichtskarte. – Charran (Haran, Harran, lat. Carrhae), heute eine Kleinstadt südöstlich von Urfa in der Harran-Ebene (Türkei), war eine wichtige Handelsstadt am Belich, dem linken Nebenfluss des Euphrat. Die Stadtgottheit war der babylonische Mondgott Sin.
Wenn die Wanderungen Abrahams auf die Zeit Chammuragaschs (d.i. Hammurabi) zu datieren sind, wie TM voraussetzt (IV, 15), gehört Charran zu dieser Zeit, zumindest nach der Einschätzung von TMs Gewährsmann Jeremias I (260 f.), zum geeinten babylonischen Reich und steht als »Mondstadt des Nordens« (IV, 12) in engster Verbindung zur »Mondburg« (IV, 11) in Ur im Süden des Reichs, aus dem Abraham gen Norden aufbrach.
Für die Zeit Jaakobs und Josephs, die TM, Jeremias I (337) u.a. folgend, auf die Zeit um und nach 1400 v. Chr. datiert, trifft das aber wohl nicht mehr zu. In dieser Zeit gehört Charran wahrscheinlich zum Gebiet des Mitanni-Reiches (unter den Königen Schutarna und Tuschratta) und seit dessen Niedergang zum hethitischen Großreich (Chatti) unter Suppiluliuma I. Das wird im Roman nicht erkennbar (Laban wird sogar ausdrücklich als »Untertan Babels« bezeichnet: IV, 253), ist aber auch von geringem Belang. Für Jaakobs Reise nach Charran kommt es darauf an, dass sie in eine babylonisch geprägte Kultur führt, ins Land des babylonischen Mondgottes Sin und des Ischtar-Mythos, in die Unterwelt (Kurnugia), wie Jaakob Naharina nennt.