Abraham (Abram, Abirâm, Urvater, Mann aus Ur, Ur-Mann)
Für Jaakob und die Seinen ist Abraham der Stamm- und »Urvater« des Hauses Israel. Dass er als Vater Ismaels und Midians auch Urahn der Ismaeliter und Midianiter ist, besagt in ihren Augen wenig, denn Ismael und Midian gelten ihnen als »mindere Söhne«, ihre Mütter Hagar und Ketura waren ›Wüstenfrauen‹ (IV, 587). Als den alleinigen ›rechten Sohn‹ des Urahns betrachten sie Saras spätgeborenen Sohn Isaak.
Der Gott, den Abraham »entdeckt« hatte, hatte ihm verheißen, er werde »zu einem Volke werden, zahlreich wie Sand und Sterne« (IV, 13; vgl. Genesis 12,2; 13,16 u.ö.), weshalb er seinen ursprünglichen Namen, Abram, mit einer »Ehrendehnung« (V, 1733) versehen und ihn Abraham genannt hatte, das bedeutet »Vater sehr vieler« (IV, 437; vgl. Genesis 17,5). Nach Überzeugung des Erzählers ist Abrahams »Stammvaterschaft hauptsächlich geistig zu verstehen« (IV, 129). Das »Band, das bei aller Buntscheckigkeit des Geblütes die geistige Sippschaft zusammenhielt«, sei die »forterbende Arbeit an einem Gottesgedanken« (IV, 130), weshalb fraglich sei, ob Joseph »im Fleische mit ihm verwandt war, ob sein Vater es war« (IV, 129). Die Vorstellung gar, Abraham sei Josephs Urgroßvater gewesen, sei »eine fromme Abkürzung des wirklichen Sachverhaltes«, denn zwischen Joseph und »Ur-Abraham« liege eine »Geschlechterfolge, die Jahrhunderte gefüllt haben« müsse (IV, 128).
Die zweite Verheißung, die Abrahams Stamm das Land Kanaan zu »ewiger Besitzung« und dessen ursprünglichen Bewohnern »Unterwerfung und Knechtschaft bündig zugedacht« haben soll (vgl. Genesis 13,15; 17,8; 22,17 u.ö.), ist, so der Erzähler, »mit Vorsicht aufzunehmen oder jedenfalls recht zu verstehen«, denn dabei handele es sich »um späte und zweckvolle Eintragungen, die der Absicht dienen, politische Machtverhältnisse, die sich auf kriegerischem Wege hergestellt, in frühesten Gottesabsichten rechtlich zu befestigen« (IV, 13). Tatsächlich sei Abrahams Gemüt für Politisches durchaus nicht geschaffen gewesen, und seine Niederlassung in Kanaan, einem Land mit »zersplitterte[m] Staatsleben«, zeuge für »nichts weniger als für seinen Geschmack an imperialer Größe und seine Anlage zur politischen Vision« (IV, 14). Die Verheißung sei vielmehr auf Geistliches zu beziehen, auf die Wirksamkeit seines »neuartig-persönlichen Gotteserlebnisses«, das »die Zukunft zu prägen bestimmt ist« und dem eine große Anhängerschaft angekündigt worden sei (ebd.).
Abraham hatte Gott »entdeckt« (V, 425) und »hervorgedacht« (IV, 428), »so daß dieser vor Freude seine Finger geküßt und gerufen hatte: ›Bisher hat kein Mensch mich Herr und Höchster genannt, nun werde ich so geheißen!‹« (IV, 425) Davon, wie dies geschah, berichtet der Erzähler in einem eigenen Kapitel (IV, 425-435). Ausgangspunkt sei die hohe Selbstachtung gewesen, die den »Urvater« geleitet habe, »ein Selbstgefühl, das man fast hoffärtig und überhitzt hätte nennen können« und das seine hochgemute Forderung begründete, mit der alles anfing: »Ich, Abram, und in mir der Mensch, darf ausschließlich dem Höchsten dienen.« (IV, 425) Seine Suche nach diesem Höchsten habe sich als Suche nach der letzten Ursache alles Seienden vollzogen und ihn damit notwendig zu der Erkenntnis geführt, dass es nur einen einzigen Gott geben könne, den einen »Bestimmten, von dem alles kam, das Gute und Böse, das Plötzliche und Grauenhafte sowohl wie das segenvoll Regelmäßige« (IV, 427). Insofern er so Gott seine »Verwirklichung in der Erkenntnis des Menschen bereitete«, könne man seinen Namen Abirâm, »was heißen mochte: ›Mein Vater ist erhaben‹«, wohl mit Recht auch mit »Vater des Erhabenen« übersetzen, denn »gewissermaßen war Abraham Gottes Vater«, indem er ihn »denkend verwirklichte«. Zwar seien Gottes »gewaltige Eigenschaften« ohne Frage »etwas sachlich Gegebenes außer Abraham, zugleich aber waren sie auch in ihm und von ihm; die Macht seiner eigenen Seele war in gewissen Augenblicken kaum von ihnen zu unterscheiden, verschränkte sich und verschmolz erkennend in eines mit ihnen, und das war der Ursprung des Bundes, den der Herr dann mit Abraham schloß und der nur die ausdrückliche Bestätigung einer inneren Tatsache war« (IV, 428). Dennoch, so beeilt der Erzähler sich zu versichern, seien Abraham und Gott nicht etwa ein und dasselbe, sondern »Zwei, ein Ich und ein Du, das ebenfalls ›Ich‹ sagte und zum anderen ›Du‹. Schon richtig, daß Abram die Eigenschaften Gottes mit Hilfe der eigenen Seelengröße ausmachte – ohne diese hätte er sie nicht auszumachen und zu benennen gewußt, und sie wären im Dunkel geblieben. Darum blieb Gott aber doch ein gewaltig Ich sagendes Du außer Abraham und außer der Welt« (IV, 431). Seine Erkenntnis und Heiligung aber »verstärkte und erfüllte Urvaters Ich-Aussage, und keineswegs war dieses sein gottvoll mutiges Ich gesonnen, in Gott zu verschwinden, mit Ihm eins zu werden und nicht mehr Abraham zu sein, sondern hielt sich sehr wacker und klar Ihm gegenüber aufrecht« (ebd.). Gotteserkenntnis und Subjektwerdung des Menschen sind untrennbar verbunden.
Kritischen Einwänden gegen das hohe, »fast hoffärtig« zu nennende Selbstgefühl, das Abrahams Gotteserkenntnis begründete, begegnet der Erzähler bei Gelegenheit der weihevollen Stimmung, die Jaakob erfüllt, nachdem er erfahren hat, dass Joseph lebt, der Vorstellung nämlich, dass alles Geschehene, selbst noch die jahrelange Dürre und Teuerung, die die Reise der Brüder nach Ägypten nötig gemacht hatte, einem göttlichen Plan entsprungen ist, der allein ihm und den Seinen gilt und dafür dem »Rest der Welt« große Not zumutet. Das könne man »anmaßend und ichbezogen« nennen, räumt der Erzähler ein, aber dies seien »nur verneinende Namen für ein denn doch höchst bejahenswertes und fruchtbares Verhalten, dessen schönerer Name Frömmigkeit lautet«. Denn Frömmigkeit sei »eine Verinnigung der Welt zur Geschichte des Ich und seines Heils, und ohne die bis zur Anstößigkeit getriebene Überzeugung von Gottes besonderer, ja alleiniger Kümmernis um jenes, ohne die Versetzung des Ich und seines Heils in den Mittelpunkt aller Dinge, gibt es Frömmigkeit nicht; das ist vielmehr die Bestimmung dieser sehr starken Tugend. Ihr Gegenteil ist die Nichtachtung des eigenen Selbst und seine Verweisung ins Gleichgültig-Peripherische, aus welcher auch für die Welt nichts Gutes kommen kann. Wer sich nicht wichtig nimmt, ist bald verkommen. Wer aber auf sich hält, wie Abram es tat, als er entschied, daß er, und in ihm der Mensch, nur dem Höchsten dienen dürfe, der zeigt sich zwar anspruchsvoll, wird aber mit seinem Anspruch vielen ein Segen sein. Darin eben erweist sich der Zusammenhang der Würde des Ich mit der Würde der Menschheit. Der Anspruch des menschlichen Ich auf zentrale Wichtigkeit war die Voraussetzung für die Entdeckung Gottes, und nur gemeinsam, mit dem Erfolge gründlichen Verkommens einer Menschheit, die sich nicht wichtig nimmt, können beide Entdeckungen wieder verlorengehen.« (V, 1720 f.)
Abrahams Geschichten – seine (oder seines Vaters Terach) Wanderung von Ur nach Charran, von dort nach Kanaan und weiter nach Ägypten, wo er durch die Verleugnung Saras »silbern und gülden« wurde (IV, 117), seine Rückkehr nach Kanaan, seine Trennung von Lot und andere – lernt der junge Joseph durch Eliezer kennen, den »ältesten Knecht«, der Abraham ähnlich sehen soll (vgl. IV, 399, 419). Dabei kommen Varianten zum Vorschein, in denen der Erzähler erneut – wie schon bei Osiris und Set und den ›roten‹ Gegenbrüdern Ismael, Cham und Esau – das Prinzip der ›rollenden Sphäre‹ erkennt, der »Ergänzung und Entsprechung« (IV, 188) von göttlicher und menschlicher Sphäre, in deren Wechsel und Austausch Göttergeschichten zu Menschengeschichten werden und umgekehrt. Als Beispiel dient ihm hier die »Lieblingsprahlgeschichte der Jaakobsleute«, Abrahams Kampf gegen die Könige des Ostens zur Befreiung Lots, die sich in ihrer »himmlische[n] Form« als Kampf zweier Götter mit einer »Überzahl von Riesen oder minderen Elohim« zu erkennen gibt: »In Abram wurde Fleisch, was vorher sternenhaft gewesen war« (IV, 422 f.). Ähnliche »sphärische« Verbindungen stellt Eliezers »gespaltene Zunge« bei der Erzählung von Abrahams Geburt und Kindheit, seiner Mutter Emtelai, seiner Verfolgung durch Nimrod u.a. her, die sämtlich mit Göttergeschichten korrespondieren (vgl. IV, 436-439). Unter dem Gesichtspunkt der ›rollenden Sphäre‹ ist denn auch der Namenswechsel von ›Abram‹ zu ›Abraham‹ weniger, wie Jaakob wissen will, eine »Ehrendehnung« (V, 1733) als vielmehr ein Zeichen des Umschwungs der »Sphäre« von der Götter- zur Menschenwelt: Aus »›Abram‹, was da ›der hohe Vater‹ und ›Vater der Höhe‹ heißt, war er gedämpft und herabgesetzt worden zum ›Abraham‹, also zum Vater sehr vieler«, ohne darum aber aufzuhören, Abram zu sein: »Es war nur, daß die Sphäre rollte; und die in Abram und Abraham fein gespaltene Zunge sprach von ihm so und auch wieder so.« (IV, 437)
Bei Eliezers Geschichten um Abrahams Geburt und Kindheit und seine Verfolgung durch Nimrod verarbeitet TM Legendenmaterial, das er wohl aus Gorion kannte (vgl. v.a. II, 33-46). Die Rückführung der Legende von Abrahams Höhlengeburt auf den Kronos-Zeus-Mythos, die Abraham und seine Mutter Emtelai/Amathla teils mit Kronos und Gaia, teils mit Zeus und Rhea identifiziert (vgl. IV, 436 f.), folgt Braun (I, 275-288).