Besuchow, Graf Pjotr Kirillowitsch (Pierre, Petruscha, Pjotr Kirillytsch)
Unehelicher Sohn des Grafen Kirill Besuchow, der ihn kurz vor seinem Tod legitimiert, so dass er Titel und Vermögen des Vaters erbt; später Ehemann von Prinzessin Hélene, nach deren Tod von Natascha Rostowa; Freund von Andrej Bolkonski.
Pierre ist erst drei Monate vor Beginn der Geschichte aus dem Ausland zurückgekehrt, wo er auf Geheiß seines Vaters zehn Jahre lang erzogen wurde. Bei Anna Pawlownas Soirée im Juli 1805, mit der der Roman beginnt, erscheint er zum ersten Mal in der Gesellschaft, in der er sich unbeholfen bewegt (1/I,II,18f.) und, die Grenzen der Konversation überschreitend, in hitzige Debatten stürzt. Er ist ein »massiger, dicker junger Mann« mit »kurzgeschorenem Kopf« und Brille, der sich durch seinen »klugen und zugleich schüchternen, beobachtenden und natürlichen Blick« von allen übrigen Gästen unterscheidet (1/I,II,18), die in ihm nur einen ungehobelten Menschen sehen. In den Augen seines Freundes Andrej Bolkonski ist er »der einzig lebendige Mensch […] in unserer ganzen Gesellschaft« (1/I,VI,53), und Prinzessin Marja, Bolkonskis Schwester, die ihn seit Kindertagen kennt, weiß, dass er immer schon »un cœur excellent« gehabt hat (1/I,XXII,163).
In Petersburg, wo er bei Fürst Wassili Kuragin wohnt (1/I,III,28), gerät der Zwanzigjährige in die Gesellschaft Anatole Kuragins und Dolochows, die ihre Zeit mit ausschweifenden Trinkgelagen und allerlei üblen Streichen zubringen. Nach Moskau ins Haus seines sterbenden Vaters zurückgekehrt, sieht er dem Gerangel um das Erbe seines Vaters taten- und verständnislos zu. Dass er schließlich das gesamte Erbe erhält, verdankt er Anna Michailowna, die die testamentarischen Schriftstücke des alten Grafen – aus durchaus eigennützigen Gründen – vor dem Zugriff des Fürsten Wassili bewahrt (1/I,XXI,148 und 150). Dies wie auch die seit Antritt des Erbes allseitige Freundlichkeit der Menschen durchschaut Pierre nicht, nimmt alles für bare Münze und empfindet es als ganz natürlich, »dass alle ihn liebten« (1/III,I,354).
Die Verwaltung seines Vermögens überfordert ihn (1/III,I,352f.), er überlässt sie ausgerechnet Fürst Wassili, der ihn übervorteilt (1/III,I,356) und seine Verheiratung mit seiner Tochter Hélène betreibt. Obwohl Pierre Hélènes »Nichtswürdigkeit« ahnt und undeutlich spürt, dass er sie nicht liebt, sondern nur von ihrer außerordentlichen Schönheit betört ist (1/III,I,363), gibt er seinem Begehren und Kuragins Drängen nach (1/III,II,374). Sechs Wochen nach der Verlobung (November 1805) findet die Hochzeit statt (1/III,II,375). Schon kurz danach betrügt Hélène ihn mit Dolochow (2/I,II,534). Pierre fordert Dolochow zum Duell (2/I,IV,547), bei dem er ihn verwundet (2/I,V,552), bricht mit Hélène, überlässt ihr die Verfügung über den größeren Teil seines Besitzes und geht nach Petersburg (2/I,VI,560).
Auf der Reise dorthin vergräbt er sich ergebnislos in moralische Grundfragen. Der alte Freimaurer Basdejew, den er an der Poststation Torschok kennenlernt, erscheint ihm als Wegweiser in eine »gesegnete, makellose und tugendhafte Zukunft« (2/II,II,617). Kurz darauf wird er in den Freimaurer-Orden aufgenommen (2/II,III-IV,620-652) und macht sich sogleich mit Feuereifer daran, ein tugendhafter Mensch zu werden. Auf einer Monate dauernden Reise besucht er seine Güter und befiehlt den Gutsverwaltern, die Leibeigenschaft aufzuheben und Schulen einzurichten. Da er sich mit den wirtschaftlichen Details nicht befassen mag, wird er von den Gutsverwaltern hintergangen, und die Bauern sind am Ende schwerer belastet als vorher (2/II,X,664-667).
Auf der Rückreise im Frühjahr 1807 besucht er den vom Tod seiner Frau Lise verstörten Andrej Bolkonski auf seinem Gut Bogutscharowo. Die Freunde disputieren über Sinn- und moralische Fragen (2/II,XI,673ff.). Auf dem Weg nach Lyssyje Gory, wo sie Prinzessin Marja und den alten Fürsten Bolkonski besuchen, haben sie auf der Fähre ein intensives Gespräch über das Leben nach dem Tode, das Bolkonski tief berührt (2/II,XII,680-683).
Wieder in Petersburg, rückt Pierre an die Spitze der Petersburger Freimaurer, hat aber immer stärkere Zweifel an der Freimaurerei. Er reist 1809 ins Ausland, um sich mit hochgestellten Vertretern des Ordens in Preußen und Schottland auszutauschen, und konfrontiert seine Ordensbrüder danach mit einem Programm der moralischen und politischen Erneuerung der russischen Gesellschaft, das die Brüder unumwunden ablehnen (2/III,VII,765). Auch sein Mentor Basdejew verwirft seine Ideen und tadelt im übrigen seine Trennung von Hélène (2/III,VIII768).
Hélène, ihre Mutter und ein Logenbruder drängen ihn zur Versöhnung, er gibt schweren Herzens nach und lebt wieder mit seiner Frau zusammen (2/III,VIII,769). Schon bald hat er neuen Anlass, an ihrer Treue zu zweifeln, denn Hélène hat sehr engen Umgang mit Boris Drubezkoi (2/III,IX,772f.). Er nimmt nur sporadisch an ihren zahlreichen Abendgesellschaften teil, widmet sich seinen Lektüren und durchläuft in dieser Zeit, in der er oft und intensiv träumt, eine innere Entwicklung, »die ihm vieles offenbarte und viele geistige Zweifel und Freuden brachte« (2/III,IX,773).
Als Bolkonski sich in Natascha Rostowa verliebt, rät Pierre ihm dringend und fast zornig, Natascha zu heiraten. Sein Loblied auf ihren Charakter verrät, dass er sie ebenfalls liebt, was er hier selbst noch nicht weiß (2/III,XXII,832f.). Nach der Verlobung der beiden und dem fast zu derselben Zeit erfolgten Tod seines Mentors Basdejew verfällt er in Melancholie, zieht sich von den Freimaurern zurück und führt wieder ein ausschweifendes Leben. Um seine Frau nicht zu kompromittieren, geht er nach Moskau (2/V,I,937) und führt dort das früher von ihm verachtete müßige Leben eines Kammerherrn außer Dienst (2/V,I,940). Ein Jahr später folgt Hélène ihm nach Moskau (2/V,VI,970).
Als ihm bewusst wird, dass er Natascha liebt, geht er ihr aus dem Weg (2/V,XIX,1032). Nach ihrer fehlgeschlagenen Entführung durch Anatole Kuragin sorgt er auf Wunsch Marja Dmitrijewnas dafür, dass Anatole aus Moskau verschwindet (2/V,XIX-XX), und gibt der verzweifelten Natascha, die die Verbindung mit Bolkonski gelöst hat, zu verstehen, dass er augenblicklich um ihre Hand anhalten würde, wenn er frei und »der allerschönste, klügste und beste Mensch auf der Welt« wäre (2/V,XII,1049). Nach ihrem Selbstmordversuch kümmert er sich liebevoll um sie. Durch den Umgang mit ihr fühlt er sich von den quälenden Sinnfragen befreit, die ihn vorher bedrängt haben, lebt in einer »Sphäre von Schönheit und Liebe, für die es sich zu leben lohnte« (3/I,XIX,115). Als er spürt, dass Natascha seine Liebe erwidert, stellt er seine häufigen Besuche im Rostowschen Haus ein (3/I,XX,128).
Anfänglich ein glühender Bewunderer Napoleons (1/I,IV,34-39), schlägt Pierres Haltung nach Beginn des Russlandfeldzugs in Hass um, und er versteigt sich zu der Idee, dass er ausersehen ist, den Eroberer zu Fall zu bringen (3/I,XIX,116-118). Er stellt 1000 Mann für die Landwehr (3/I,XXIII,145) und fährt Ende August 1812 als ›Schlachtenbummler‹ zum Kriegsschauplatz, wo er in das Kampfgeschehen der Schlacht bei Borodino gerät (3/II,XXX-XXXII). Er flieht voller Furcht nach Moschaisk (3/III,VIII-IX) und kehrt am 30. August nach Moskau zurück (3/III,X,431).
Zu Hause findet er Hélènes Brief mit der Bitte um Scheidung vor (3/III,XI,438). Um dem »Wirrwarr der Anforderungen des Lebens zu entgehen« (3/III,XXVII,524), verlässt er ungesehen sein Haus (3/III,XI,439) und quartiert sich, während die meisten Moskauer wegen der anrückenden französischen Truppen die Stadt verlassen, in der Wohnung des verstorbenen Basdejew ein (3/III,XVIII,471). Von dessen altem Diener Gerassim lässt er sich einen einfachen Kaftan und eine Pistole besorgen und nimmt sich in einem Zustand seelischer Zerrüttung vor, Napoleon zu töten (3/III,XXVII,525), dessen Truppen am 2. September 1812 in die weitgehend leere Stadt einmarschieren.
Am nächsten Tag, in den Straßen lodern schon die ersten Brände, rettet er ein Kind und wird bei dem Versuch, einer von plündernden Soldaten bedrängten Frau zu helfen, von einer französischen Patrouille festgenommen (3/III,XXXIV,582f.). Man beschuldigt ihn der Brandstiftung (4/IX,632), er wird von Marschall Davout verhört (4/I,X,637f.), muss Hinrichtungen beiwohnen (4/I,XI), die ihn tief verstören (4/I,XII,646f.), und wird schließlich in einen Schuppen mit Kriegsgefangenen gesperrt. Dort lernt er den Bauern Platon Karatajew kennen (4/I,XII,648), dessen Güte und Lebensklugheit seine Verzweiflung an der Welt heilen (4/I,XII,653). In der Gefangenschaft gewinnt er allmählich Spannkraft und Ruhe zurück (4/II,XII).
Als die Franzosen vier Wochen später Moskau verlassen, müssen die Gefangenen mit ihnen marschieren (4/III,XII), geschwächte Gefangene werden am Wegesrand erschossen, darunter auch Karatajew, dessen stummen Ruf Pierre aus Angst ignoriert (4/III,XIV,814f.). In der nächsten Nacht träumt er von ihm (4/III,XV,816f.). Wie Natascha noch viele Jahre später feststellt, »ehrte er keinen [...] Menschen so wie Platon Karatajew« (E/I,XVI,1011).
Am Morgen danach werden die russischen Gefangenen von Partisanen unter der Führung von Denissow und Dolochow befreit (4/III,XV,818f.). Danach wird Pierre krank und liegt drei Monate in Orjol (4/IV,XII,883). Noch am Tag der Befreiung erfährt er von Andrej Bolkonskis und Hélènes Tod (ebd.).
In Orjol fühlt er sich von der quälenden Suche nach einem Lebenssinn entbunden, was ihm ein glückliches Gefühl der Freiheit gibt, und hat nur noch den festen Glauben an Gott, den er in allem Seienden erfährt (4/IV,885f.). Das öffnet ihm den Weg zu einem gelassenen, von Toleranz und Menschenliebe geprägten Blick auf die Menschen und zu einer ruhigen Sicherheit bei Entscheidungen, die ihm bis dahin gefehlt hat (4/IV,XIII,891f.).
Ende Januar 1813 kehrt er nach Moskau zurück (4/IV,XV,897). Er besucht Prinzessin Marja und sieht dort Natascha wieder (4/IV,XV,900). Der Epilog berichtet, dass beide noch im selben Jahr heiraten (E/I,V,944). Sieben Jahre später (1820) haben sie drei Kinder und führen eine glückliche Ehe (E/I,X,975-978; XVI,1007-1013).