Keetenheuve, Felix
Hauptfigur des Romans, ein sozialdemokratischer Abgeordneter des Bundestages zu Beginn der fünfziger Jahre. Vor dem Krieg war Keetenheuve als Journalist tätig. Seine Anstellung beim Volksblatt gab er auf, als die Zeitung von den Nazis gleichgeschaltet wurde, und emigrierte zunächst nach Paris. Wenig später, »als die Soldaten über die Champs Elysées marschierten« (II, 246), gelangte er über England nach Kanada, wo er »als Internierter beim Holzfällen« (II, 276) half und, vom Faschismusverdacht befreit, nach England weiterreiste. Dort hielt er während des Krieges Radioansprachen an die Deutschen und kämpfte so auf seine Weise, »nicht zuletzt für Deutschland, wie er meinte« (II, 277). Nach elf Jahren kehrte er nach Deutschland zurück, »besessen von dem Gedanken, zu helfen, aufzubauen, Wunden zu heilen, Brot zu schaffen« (II, 230). Er ist weder ein Mann des Volkes noch ein begnadeter Redner, doch seine »Beschäftigungen, seine Mitarbeit am Wiederaufbau, sein Eifer, der Nation neue Grundlagen des politischen Lebens und die Freiheit der Demokratie zu schaffen, hatten es mit sich gebracht, daß er in den Bundestag gewählt wurde« (II, 232).
Keetenheuve ist ein politischer Idealist. Sein Gegenspieler Korodin hält ihn für einen »Menschenrechtsromantiker« (II, 240). Die Politik ist für Keetenheuve ein Dschungel: »Raubtiere begegneten einem, man konnte mutig sein, man konnte die Taube gegen den Löwen verteidigen, aber hinterrücks biß einen die Schlange« (II, 233). Generell entspricht die bundesdeutsche parlamentarische Demokratie nicht seinen Vorstellungen einer demokratischen Kultur. Vielmehr sieht er eine Diktatur der Mehrheit am Werk, in der der Bürger nur wählen kann, »unter welcher Diktatur er leben wolle« (II, 374). Zugleich zweifelt Keetenheuve aber auch an der Demokratiefähigkeit des Volkes, das angesichts der Diktatur schweigt. »Schwieg es in weiterwirkender Furcht? Schwieg es in anhänglicher Liebe? Die Geschworenen sprachen die Männer der Diktatur von jeder Anklage frei. Und Keetenheuve? Er diente der Restauration und reiste im Nibelungenexpreß« (II, 249). Doch nicht nur der Politik und dem Volk misstraut er, sondern auch sich selbst. Er hält sich für einen Versager sowohl in seinem politischen als auch in seinem privaten Leben (II, 227).
Keetenheuve ist »ein Kenner und Liebhaber der zeitgenössischen Lyrik, und manchmal belustigte es ihn, während er im Plenum einem Redner zuhörte, daran zu denken, wer im Saal außer ihm wohl Cummings gelesen habe« (II, 247). Eine besondere Rolle spielt für ihn Baudelaires »Le beau navire«, denn an »dieses herrliche Gedicht des Frauenlobs«, das er in seinem Abgeordnetenzimmer zu übersetzen versucht (II, 284), erinnert ihn seine Frau Elke, von deren Beerdigung er zu Beginn des Romans nach Bonn zurückkehrt. Er hatte die damals 16-jährige Elke kurz nach seiner Rückkehr aus dem Exil kennengelernt. Sie war »sein Halt gewesen, ein fester Punkt in der zerfließenden Flut, der Anker seines Bootes auf der, wie sich nun zeigte, öde gewordenen See des Lebens« (II, 309f), in der sie ihm aber schon vorher entglitten war. Er hatte sie zugunsten seines politischen Engagements vernachlässigt und an die Wanowski und ihre »Tribaden«, eine Gruppe lesbischer Frauen, und an den Alkohol verloren (II, 234 f.).
Im Bundestag steht eine Debatte über den Beitritt der Bundesrepublik zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und damit über die Wiederaufrüstung bevor. Nach Keetenheuves Ankunft in Bonn trifft er zunächst auf Korodin, der ihn überzeugen möchte, angesichts der anstehenden Abstimmung über den Beitritt seine Meinung zu ändern, dabei aber scheitert. Keetenheuve will in den Pressebaracken nach dem Journalisten Mergentheim, einem ehemaligen Kollegen, sehen und schließt sich, als er diesen nicht antrifft, einer Führung durch das Parlament an. Er ist angespannt und weist einen »Bierbanknationalisten« (II, 266), dem er dort begegnet, mit den Worten »Halten Sie ihr verfluchtes Maul!« (II, 267) zurecht.
Später begegnet er Mergentheim, der ihn warnt, er könne aufgrund seiner Vergangenheit »schlachtreif sein« (II, 274), schließlich hätten seine Kollegen im Gegensatz zu ihm den »Widerstand […] schon wieder aus ihrem Lebenslauf gestrichen« (II, 277). Nach dem Gespräch mit Mergentheim trifft er Philip Dana, den »Nestor der Korrespondenten«, der ihn in sein Büro führt und ihm die brisante Information über ein Interview der Generale des Conseil Supérieur des Forces Armées gibt, in dem sich englische und französische »Siegergeneräle« für eine »Verewigung der deutschen Teilung« aussprechen (II, 281).
Keetenheuve wird von seinem Fraktionsvorsitzenden Knurrewahn gerufen. Er informiert ihn über das Interview der Generäle des Conseil Supérieur des Forces Armées, die der Fraktionschef sogleich an die große Glocke hängen und politisch nutzen möchte. Keetenheuve überzeugt ihn aber von seinem Plan, »die kleine Siegrede der Generale in der Debatte über die Sicherheitsverträge überraschend [zu] zitieren« und damit einen öffentlichkeitswirksamen Coup zu landen (II, 291). Die Aussicht auf die Bundestagsrede euphorisiert ihn zunächst (II, 292), und er beginnt sofort mit einem Entwurf.
Dabei wird er von Frost-Forestier, einem Vertreter der Regierungspartei, angerufen und folgt dessen Einladung. Frost-Forestier bietet dem überraschten Keetenheuve »die Gesandtschaft in Guatemala an« (II, 298) – eine verlockende Aufgabe, die für Keetenheuve zwar verführerisch ist, aber eine Flucht vor seinen Problemen, Stillstand und letztendlich den Tod bedeutet. Nach dem Treffen lässt er sich nach Bad Godesberg fahren, wo er sich zum Essen niederlässt und ein imaginäres Gespräch mit Hitler, Stendhal und dem Konsul führt, während er vom imaginären Chamberlain bedient wird (II, 301 ff).
Am Nachmittag hat er eine Ausschusssitzung, in der er sich fehl am Platz fühlt, denn er versteht »die Ausschußsprache nicht mehr. Was redeten sie? Chinesisch?« (II, 311). Während über minimal ausgestattete Bergarbeiterwohnungen und deren Finanzierung debattiert wird, träumt Keetenheuve von einer Alternative. Er will »das profane Kloster bauen, die Eremitenzelle für den Massenmenschen« (II, 318), ist sich aber sicher, nicht verstanden zu werden.
In einem neuen Anflug von Euphorie entscheidet er sich, auf den Botschafterposten zu verzichten und stattdessen für den Frieden zu kämpfen. Er schreibt an seiner Rede, er will »mit heiligem Zorn gegen die Regierung sprechen« (II, 322). Als letzter verlässt er das Bundeshaus und irrt durch die Stadt. Im Kino wird er in seiner negativen Einstellung gegenüber der Masse bestärkt (II, 330). Danach zieht er durch Weinstuben. In der zweiten trifft er zum ersten Mal auf die beiden Heilsarmeemädchen Lena und Gerda (II, 341).
Am Morgen macht er sich auf dem Weg zum abgesperrten und von Polizisten bewachten Parlament Gedanken über die deutsche Demokratie. Im Fraktionszimmer muss er erfahren, dass Mergentheim einen Bericht über das Interview der französischen Generale veröffentlicht hatte, womit Keetenheuves »Pulver naß geworden« ist (II, 364). Bei der Plenarsitzung hält er seine kurzfristig geänderte Rede im Sinne seiner Partei und ist sich sicher, damit nichts bewirken zu können. »Keetenheuve wollte schweigen. Er wollte abtreten. Es hatte keinen Sinn, weiterzureden, wenn ihm niemand zuhörte« (II, 371). Die Worte, die er hätte sagen wollen, spricht er nur in seiner Vorstellung. Keetenheuve muss sich eingestehen, den Kampf verloren zu haben. »Die Verhältnisse hatten ihn besiegt, nicht die Gegner« (II, 375).
Nach der Sitzung irrt er durch die Stadt, geht wieder in die Weinstube und trifft dort erneut auf die Heilsarmeemädchen Lena und Gerda. Er schreibt auf dem Briefpaper der Weinstube Empfehlungsbriefe für Lena. In einer Ruine schläft er mit ihr, es »war ein Akt vollkommener Beziehungslosigkeit« (II, 389). Innerlich völlig leer geht Keetenheuve danach zu einer Brücke. »Der Abgeordnete war gänzlich unnütz, er war sich selbst eine Last, und ein Sprung von dieser Brücke machte ihn frei« (II, 390).