Jedermann

Ist ein reicher Mann, der sich immer »fröhliche Tag« machen will (IX, 36). Er ist stolzer Besitzer des vornehmsten Hauses der Stadt, hat einen »Landsitz« und Ländereien, die ihm reichlich Pachtzinsen einbringen (vgl. IX 36 f.). Um Haus und Hof kümmern sich mehrere Angestellte, die er ruppig herumkommandiert; die Verwaltung überlässt er seinem Hausvogt. Er selbst konzentriert sich auf die schönen Seiten des Lebens. Für seine Geliebte lässt er einen Lustgarten anlegen, der mit allem Luxus ausgestattet werden soll (vgl. IX, 46 f.).

Jedermann und sein Gesell treffen auf ihrem Weg zu dem Grundstück, auf dem der Lustgarten entstehen soll, zuerst auf den armen Nachbarn, der sie anbettelt. Jedermann beachtet ihn nicht weiter, gibt ihm aber eine Münze. Als der Mann sich beschwert und anstelle der Münze sein »nachbarlich Bruderteil« einfordert (IX, 38), erzürnt Jedermann sich und erklärt ihm die Logik eines Besitzenden, der seinen Verpflichtungen gerecht werden muss: »Auch kosten mich meine Häuser gar viel, / Pferde halten, Hund und Hausgesind / [...] Das braucht mehr Pfleg als ein klein Kind, / [...] ›Ein reicher Mann‹ ist schnell gesagt, / Doch unsereins ist hart geplagt.« (IX, 40) Er stellt zwar nicht in Abrede, dass die Reichen den Bedürftigen helfen sollten, plädiert aber für eine Solidarität in Grenzen: »Ist alls schon recht, muß nur dafür / Ein Fug und ein Gesetz auch walten / Und jeglich Teil daran sich halten. [...] Wär all mein Geld und Gut gezählt / Und ausgeteilt auf jeglichen Christ, / Der Almosens bedürftig ist, / Es käm mein Seel nit mehr auf dich / Als dieser Schilling sicherlich.« (Ebd.)

Im Anschluss an die Begegnung mit dem armen Nachbarn, der den Schilling schließlich annimmt und geht, treffen sie auf einen Schuldknecht, der, gefolgt von seiner Frau und seinen Kindern, zum Kerker geführt wird. Als Jedermann erfährt, dass er der Gläubiger des Mannes ist, wäscht er seine Hände in Unschuld als einer, »der diese Sach nit kennt« (IX, 42). Er verweist auf eigenverantwortliches Handeln und auf die Anonymität des Wirtschaftssystems: »Wer hieß dich Geld auf Zinsen nehmen? / Nun hast du den gerechten Lohn. / Mein Geld weiß nit von dir noch mir / Und kennt kein Ansehn der Person.« (Ebd.) Auf die Vorwürfe des Schuldners und seiner Frau, die ihn an christliche Solidarität und das Jüngste Gericht gemahnen, reagiert er gelassen und ohne Empathie (vgl. IX, 45). Er lobt das geltende Wirtschaftssystem, das jeden Menschen »einer kleinen Gottheit gleich« mache (IX, 44).

Der Zwischenfall mit dem Schuldner ist ihm zwar eine »erzverdrießlich Sach« (IX, 45), trotzdem weist er seinen Gesellen am Schluss der Szene an, zumindest für die Frau und die Kinder Sorge zu tragen, wenn diese ihn nur nicht mit ihrer »Not« und ihrem »Gejammer« behelligen (IX, 45). Nach einer Besichtigung des Lustgartens ist ihm jetzt nicht mehr zumute, so dass er seinem Freund aufträgt, das zum Kauf Notwendige zu veranlassen.

Er begrüßt unterdessen seine eben eintreffende Mutter, um deren Gesundheit er besorgt ist, für die er aber »wahrlich nit viel Zeit hat« (IX, 47). Im Gespräch mit ihr, die um sein Seelenheil besorgt ist und ihn zum rechten Glauben bekehren möchte, verteidigt er seine Lebensführung und übt Kritik an der Kirche, insbesondere am Machtmissbrauch der Priesterschaft, an den Ablasszahlungen und an Teilen der Lehrpraxis (vgl. IX, 48 f.) Er möchte nicht schon in jungen Jahren an den Tod denken, sondern die »irdischen Freuden« genießen (IX, 49), weil die Zeit der »Buß und Einkehr« noch früh genug komme (ebd.). Das ihm lästige Gespräch kann er erst beenden, als er seiner Mutter verspricht, eines Tages in den Stand der Ehe einzutreten (vgl. IX, 51).

Obwohl er nach dem Gespräch zunächst durch die Ankunft seiner Buhlschaft abgelenkt wird, die ihn zu seinem eigenen Bankett abholen will, zeigt er sich stark verändert. Als er seine Gäste begrüßt, ist er ahnungsvoll und nachdenklich (»Seid allesamt willkommen sehr, / Erweist mir heut die letzte Ehr«; »Sie sitzen ja alle im Totenhemd!« IX, 55). Seine Freunde kommen ihm plötzlich »mächtig fremd« (ebd.) vor, und er hinterfragt seine bisherige profitorientierte Lebensführung: »Wie ihr da seid hereingelaufen, / So könnte ich euch alle kaufen / Und wiederum verkaufen auch, / Daß es mir nit so nahe ging / Als eines Fingernagels Bruch.« (IX, 56) Nachdem er einen Becher Glühwein getrunken hat, ist seine Irritation kurzzeitig überwunden (vgl. IX, 60), doch als alle Gäste ein fröhliches Lied anstimmen, hört er ein dumpfes Glockenläuten und unheimliche Stimmen, die seinen Namen rufen. Während die anderen von alledem nichts wahrnehmen, ist ihm klar, dass es »nichts guts bedeuten« kann (IX, 61). Gerade in dem Moment, da er sich wieder bei Kräften fühlt und seiner Buhlschaft verspricht, am nächsten Tag einen Arzt aufzusuchen, tritt der Tod von hinten an ihn heran. Als er von dessen Mission erfährt, bettelt er ängstlich um Erbarmen und Aufschub, damit er sein »Schuldbuch« noch in Ordnung bringen und in sich gehen könne (IX, 64). Der Tod kennt aber kein Mitleid, willigt lediglich in seine Bitte ein, sich binnen einer Stunde eine Begleitung in den Tod suchen zu dürfen.

Jedermann bittet daraufhin seinen guten Gesellen und seine Vettern um ihr Weggeleit, doch niemand ist dazu bereit. Anstatt die ihm verbleibende Zeit nun »klüglich« als ein »Christ« zu nutzen (IX, 66), wie es ihm der Tod geraten hat, lässt er seine Reichtümer aus dem Haus schaffen, um diese mitzunehmen. Doch auch sein Reichtum, personifiziert in der Figur des Mammon, verwehrt ihm die Gefolgschaft, schlimmer noch: Er entlarvt sein Eigentum als substanzlose irdische Leihgabe und kehrt die Besitzverhältnisse um, so dass Jedermann schließlich stumm und hilflos als Sklave seines Geldes dasteht (IX, 79 f.), bis ihm ›Werke‹ (die Personifikation der ›Guten Werke‹ im christlichen Sinn) ihr Geleit anbietet.

Mit ihrem Erscheinen weiß Jedermann zunächst nichts anzufangen, versteht dann aber, dass sie die verpasste Möglichkeit einer christlich-solidarischen Lebensführung darstellt: »Hättest erkannt in deinem Sinn, / Daß ich nit völlig häßlich bin, / Wärest bei mir verblieben viel / Und fern der Welt und bösem Spiel! [...] Bei Armen wärest eingegangen / Recht als ihr Bruder, heiliger Weis, / Und göttlich Leid und irdischen Schmerz / Die hättest zu lieben angefangen / Und aufgegangen wäre dein Herz.« (IX, 83) Obwohl er einsichtig ist und Reue zeigt, kann die schwache ›Werke‹ ihm nicht helfen, sie muss ihre Schwester ›Glaube‹ zu Hilfe rufen, von der er sich schließlich bekehren lässt, weil sie ihn davon überzeugt, dass Gott den gläubigen, reuigen Sünder nicht straft. Er versinkt daraufhin in ein tiefes Gebet, das ›Glaube‹ zufriedenstellt und ›Werke‹ zu neuer Kraft verhilft, so dass sie den um seine Seele buhlenden Teufel abwehren können, während er die Beichte ablegt und das Sterbesakrament empfängt. »In einem weißen langen Hemde, einen Pilgerstab in der Hand«, tritt er mit verklärtem Gesicht wieder zu ihnen und ist zum Sterben bereit: »Nun gebet mir treulich eure Händ, / Ich hab empfangen das Sakrament. / Gesegnet sei, der mich das hieß tun / Und also guten Rat mir sprach. / Nun seid bedankt, daß ihr auf mich / Geharret habet sorglich / Mit andächtigem Beten. / Und nun laßt uns die Reis antreten. / Leg jeder die Hand an diesen Stab / Und folge mir zu meinem Grab.« (IX, 94)