Kanaan (Kenana, Westland, Amurruland, Amoriterland, Retenu, Zahi, Zahi-Land)
Das Land Kanaan oder Palästina, »wie unsere Aufgeklärtheit das Heimatland Josephs und seiner Väter geographisch bezeichnet« (V, 1579), hat viele Namen: Die Babylonier nennen es »Westland« (IV, 12 u.ö.) oder »Amurruland« (IV, 13 u.ö.), denn von hier stammten die einst nach Babylonien eingewanderten Amoriter, die Amurru. Die Ägypter nennen Kanaan das »Obere Retenu« (IV, 10 u.ö.), weniger freundlich, das »elende Retenu« (IV, 880 u.ö.), auch »Zahi« (IV, 699 u.ö.) bzw. »Zahi-Land« (IV, 886 u.ö.) oder »Charu« (V, 1817) bzw. »Cher« (V, 1317).
Wie schon Abraham und Jizchak (IV, 170) legt auch Jaakob Wert darauf, dass sein Stamm, der durch ihn den Namen Israel errang, »ein besonderes Volk« ist, das mit den Kanaanäern nichts gemein hat (IV, 118). Denn an Kanaan hängt »die dunkle Geschichte mit dem Großvater im Zelte« (IV, 417), d.h. die Geschichte Chams, der seinen im Weinrausch entblößten Vater Noah verspottet (entmannt) hatte (vgl. Genesis 9,22) und darauf mitsamt seinem »üblen Söhnchen« Kenaan, dem Stammvater Kanaans, verflucht wurde (V, 1143 f.).
Für den Stamm Abrahams verbindet sich der Gedanke der ›Entblößung‹ seither mit Cham und seinen Nachfahren (zu denen auch Mizraim, der Stammvater der Ägypter, gehört). Insbesondere für Jaakob sind die religiösen Vorstellungen und Sitten der Kanaanäer ein Greuel, ›Baalsgreuel‹, bei dem »der Gottesverstand in die Brüche ging und geiler Taumel an seine Stelle trat«: »Entblößung, Singreigen, Festvöllerei, dienstliche Unzucht mit Tempelweibern, Scheol-Kult – und ›Aulasaukaulala‹ und wüste Krampfkünderei: das alles war ›Kanaan‹, das gehörte zusammen, es war alles eins, und es war eine Narrheit vor Jaakob« (IV, 417).
Zu Josephs Zeit ist Kanaan Teil der syrischen Provinz Ägyptens, seine Stadtfürsten sind Ägypten tributpflichtig. Allerdings ist Ägyptens Stellung im »Retenu« nicht mehr unangefochten, denn Chatti (das Hethiterreich) im Norden steht im Begriff, »den Ammunsleuten die Herrschaft in Kanaan streitig« zu machen, wie Jaakobs Gast Jebsche berichtet (IV, 77). Joseph nutzt später sein Wissen über die wankelmütigen syrischen Stadtfürsten, um sich dem Pharao als politischer Ratgeber zu empfehlen (V, 1476).
Die Bedrohung der ägyptischen Ost-Provinzen durch die Hethiter, die die Aufsässigkeit der kanaanäischen Stadtfürsten unterstützen (wie z.B. die des Milkili in Asdod), macht dem friedliebenden Echnatôn in der Tat schwer zu schaffen und spielt seinen innenpolitischen Gegnern, den Amuns-Priestern, wirksame »Werbemittel« in die Hand (V, 1767). In dieser Lage kommen ihm die sieben Dürrejahre und Josephs Wirtschaftspolitik zu Hilfe, denn sie »nahmen dem Werberuf Amuns vieles von seiner Kraft, indem sie die wankelen Kleinkönige Asiens in wirtschaftliche Fesseln schlugen«. So wird Pharao davor bewahrt, »sein Schwert zu färben« (V, 1768).
In Ägypten gilt das Kanaanäische als »fein«, weil es »ausländisch und fremd war« und obwohl oder gerade weil das Ausländische eigentlich als minderwertig galt, eine »unfolgerichtige Schätzung«, die sich die Ägypter als »Freigeisterei« anrechnen (IV, 832 f.). Der Erzähler erkennt darin das erstmalige Auftreten einer Erscheinung, die sein Autor Dekadenz nennen würde. Joseph sei »der erste in der Welt, der es zu spüren bekam, denn zum erstenmal war die Erscheinung in der Welt. Es war die Freigeisterei von Leuten, die das elende Ausland nicht selbst besiegt und unterworfen hatten, sondern das durch Frühere hatten besorgen lassen und sich nun erlaubten, es fein zu finden« (IV, 833). Besonders fein findet man die kanaanitischen Götter Baal und Astarte, eine »schwächliche Starkgeisterei«, findet der Erzähler (IV, 834).
Vgl. Karte von Kanaan. – Bei der Verwendung der verschiedenen Namen Kanaans stand wohl vor allem Jeremias I (180-220) Pate. Die ägyptischen Bezeichnungen ›Retenu‹ oder ›Charu‹ (vgl. IV, 830; V, 1817), auch ›Cher‹ (vgl. V, 1317) sowie ›Zahi‹ betreffend, dürfte TM sich an Erman/Ranke (613) orientiert haben. Danach zerfiel das »Land Cher oder Rezen, d.h. die syrische Provinz Ägyptens, die sich seit den Feldzügen Thutmosis III. von der ägyptischen Grenzfestung Zel bis an den oberen Euphrat erstreckte, [...] in viele einzelne Abschnitte, die seit alters ihre besonderen Namen führten. Ihr südlichster Teil, ›das obere Rezen‹ [Retenu], auch ›Zahi‹ genannt, entsprach etwa unserem Palästina; es zerfiel in zwei Bezirke, deren südlicher Kana'an hieß, der nördliche aber Emor, d.h. das Amoriterland. Unter dem ›unteren Rezen‹ [Retenu] verstand man das syrische Tiefland.« In der ersten Auflage (Tübingen 1885) steht statt »Rezen‹ noch »Ret'enu«, statt »Cher« noch ›Charu‹ und statt »Kana'an« steht »Ken'ana« (S. 680). In der von Ranke bearbeiteten Neuauflage von 1923, die TM benutzt hat, wird angemerkt, dass »Rezen« gewöhnlich »Retenu« und »Cher« gewöhnlich »Charu« gelesen werde und »die Vokalisation dieser Namen (wie auch von ›Zahi‹) [...] völlig unbekannt« sei (613, Anm.1). – Ebenso wie die Bezeichnungen »Amurruland« oder »Amoriterland« verwendet TM den Landesnamen »Kanaan« meistens im zusammenfassenden Sinne für das ganze Palästina. Vgl. auch die Anmerkungen zu Amurru.