Carayon, Victoire von
Tochter von Josephine von Carayon. Sie ist heimlich in Schach verliebt und wird, als es zu einem einmaligen Beischlaf kommt, von ihm schwanger. Zur Abwendung gesellschaftlicher Schmach wirkt ihre Mutter erfolgreich auf eine Eheschließung hin, der Bräutigam erschießt sich jedoch unmittelbar nach der Hochzeit, sodass Victoire als junge Witwe zurückbleibt.
Victoire war früher »ein schönes Kind« (15/126), als das sie sowohl dem Prinzen als auch dem König von einem Kinderball, bei dem sie knapp 15 war, in Erinnerung geblieben ist (vgl. 7/66 u. 16/135). Doch eine schwere Blattern-Erkrankung, die sie kurz nach dem Ball befiel, hat Spuren hinterlassen (vgl. 7/66 f.), und so hat sie denn, wie gleich zu Beginn mitgeteilt wird, zwar immer noch ein schönes Profil, »das einst dem der Mutter geglichen haben mochte, durch zahlreiche Blatternarben aber um seine frühere Schönheit gekommen war« (1/8). Diese »Nichtschönheit«, wie Victoire selbst es nennt (21/158), wird von mehreren Figuren, vor allem von Schach, nicht zuletzt aber auch von ihr selbst als großes Problem angesehen. Wie sie in einem Brief an ihre Freundin Lisette von Perbandt schreibt, sieht sie sich »auf ein bloßes Pflichtteil des Glückes« gesetzt (5/50) und gibt in einem späteren Brief zu, dass sie »früh resigniert« und geglaubt hat, »kein Anrecht an jenes Schönste zu haben, was das Leben hat« (21/158). Die Versicherungen der Freundin »Dir lügt der Spiegel« sind für Victoire nur »[a]rme Worte, die von des Reichen Tische fallen« (8/74). Auch nach Ansicht ihrer schönen Mutter beherrscht Victoire der Glaube, dass sie »verarmt und ausgeschieden« sei, »mit der Macht einer fixen Idee« (15/125).
Die Überzeugung, aufgrund ihres Aussehens ohnehin niemals einen Mann zu finden, führt aber bei Victoire auch dazu, dass sie sich freier fühlt und weniger daran denken muss, ob die Gesellschaft ihr Verhalten verurteilen könnte: »Wovor andre meines Alters und Geschlechts erschrecken, das darf ich.« (8/77) Sie bedauert zwar, ihre Schönheit eingebüßt zu haben, geht aber andererseits »nicht blind an dem eingetauschten Guten vorüber« (ebd.). Dieses Schwanken zeigt sich auch in ihrem »witzig-elegischen Ton«, den Nostitz und Alvensleben für ihren »charakteristischen Zug« halten (7/67). Freilich: Im Beisammensein mit Schach, als er sie beschwört, wieder an ihr »Anrecht auf Leben und Liebe« zu glauben, zeigt Victoires Reaktion, wie sehr sie unter ihrer Situation leidet und sich nach Liebe sehnt: Sie schweigt »in einer süßen Betäubung«, denn »das waren die Worte, nach denen ihr Herz gebangt hatte, während es sich in Trotz zu waffnen suchte« (8/79).
Auf Schachs Rückzug und seine selteneren Besuche nach ihrem Schäferstündchen reagiert Victoire zuerst mit bangen Gefühlen, dann mit Unbehagen (9/80 f.), nach einer Weile jedoch eher resigniert: »Sie träumte so hin, und nur eigentlich traurig war sie nicht. Noch weniger unglücklich.« (10/85) Die auf Zietens Idee zurückgehende Schlittenfahrt ändert ihre Haltung jedoch, Victoire sieht darin offenbar eher eine Parodie Martin Luthers als des umstrittenen Theaterstückes über ihn, das ihr selbst nicht gefallen hat (vgl. 10/84). Sie findet das Spektakel »schaal und ekel«, eine Form, das Reine »durch den Schlamm« zu ziehen (11/92): »Und das war die Sphäre, darin sie gedacht und gelacht, und gelebt und gewebt, und darin sie nach Liebe verlangt, und ach das Schlimmste von allem an Liebe geglaubt hatte!« (Ebd.)
Victoire ahnt, dass Schach sie nicht wirklich liebt, deshalb möchte sie auch zunächst nicht, dass ihre Mutter ihn zur Hochzeit drängt. In den Worten Frau von Carayons gefällt Victoire sich »in dem Hochgefühl des Opfers, in einem süßen Hinsterben für den, den sie liebt, und für das, was sie lieben wird« (12/97). Als es schließlich aber doch zu den Hochzeitsvorbereitungen kommt, strahlt Victoire vor Freude und sieht auch sehr gut aus (vgl. 18/143), gleichzeitig hat sie eine böse Vorahnung (18/146), die sich noch am Tag der Hochzeit durch den Selbstmord Schachs bestätigt. Im Brief an Lisette von Perbandt, den Victoire etwa ein Jahr später schreibt, zeigt sie sich trotzdem glücklich und dankbar dafür, dass sie die Liebe erleben durfte und nun ein Kind hat, das zudem dem geliebten Mann ähnelt (21/158 f.).
Das historische Vorbild für die Figur war Victoire von Crayen, geboren 1786 oder 1787 (zum Stoff vgl. Kommentar S. 163-165).