Seele
Keine handelnde Person, aber ein unentbehrliches Schlüsselwort, das in den unterschiedlichsten Verbindungen vorkommt. In Arnheims Schriften war irgendwann das Wort »Seele« aufgetaucht, das er »wie eine Methode, einen Vorsprung, als Königswort gebrauchte, denn sicher ist, daß Fürsten und Generale keine Seele haben, und von Finanzleuten war er der erste« (86., 389). Ulrich meint, es liege »ein Schwindel in dieser Vereinigung von Kohlenpreis und Seele« (67., 281).
In Ulrichs Augen ist Diotima eine »Seelenriesin«, nachdem sie ihm eine »geistige Thronrede« gehalten hat (22., 94). »Wahrscheinlich war, was sie Seele nannte, nichts als ein kleines Kapital von Liebesfähigkeit, das sie zur Zeit ihrer Heirat besessen hatte; Sektionschef Tuzzi bot nicht die rechte Anlagemöglichkeit dafür« (25., 104). Aber in Diotima, wenn sie mit Arnheim allein ist, erstrahlt »der wunderbare Traum einer Liebe, wo Seele und Leib ganz eins sind« (45., 183).
Das Wort Seele, erläutert der Erzähler, wird gebraucht für das, was der heutigen Zeit verloren gegangen ist, oder für den Gegensatz zu Körperlichem oder »als das, was durch die Parallelaktion befreit werden sollte« (183). Nur ältere Leute können das Wort aussprechen, ohne zu lachen. Aus dem »entsetzlichen Gefühl eines blinden, abgeschnittenen Raums hinter allem Ausgefüllten, an dieser Hälfte, die immer noch fehlt, wenn auch alles schon ein Ganzes ist, bemerkt man schließlich das, was man die Seele nennt« (45., 184). Manche denken sogar »über alles hinaus an einen Gott, der das ihnen fehlende Stück in der Tasche trägt. Eine besondere Stellung nimmt dabei nur die Liebe ein; in diesem Ausnahmefall wächst nämlich die zweite Hälfte zu. Der geliebte Mensch scheint dort zu stehen, wo sonst stets etwas fehlt. Die Seelen vereinigen sich sozusagen dos à dos und machen sich dabei überflüssig« (184 f.). Und so begegnen sich Diotima und Arnheim in diesem Augenblick wie zwei schweigende Bergriesen.
Später, nach einer weiteren intensiven Begegnung, rettet sich Arnheim in den Gedanken: »Ein seiner Verantwortung bewußter Mann [...] darf schließlich auch, wenn er Seele schenkt, nur die Zinsen zum Opfer bringen und niemals das Kapital!« (106., 511), während Diotima unter der bloßen Seelengemeinschaft mit ihm, unter Ausschluss der Körper, leidet (101., 475).
Hans Tuzzi, der Diplomat, möchte von Ulrich wissen, was es bedeute, wenn ein Mann (wie Arnheim) »Seele« habe. Bei einer Frau wolle das ja nichts besagen (III, 16., 804).
In einem Gespräch über Arnheim, das Diotima und Ulrich vor der Hofbibliothek führen, fragt Diotima Ulrich, ob er es für möglich halte, »daß das, was wir Seele nennen, aus dem Schatten hervortreten könnte, in dem es sich gewöhnlich befindet«, und ergänzt: »aus der Uneigentlichkeit, aus dieser schimmernden Verstecktheit, in der wir das Ungewöhnliche manchmal empfinden [...]. Glauben Sie nicht, daß es Zeiten gegeben hat, wo das anders war? Das Innere trat stärker hervor; einzelne Menschen gingen einen erleuchteten Weg« (114., 566). Ulrich denkt: »So weit ist es also gekommen, daß dieses Riesenhuhn genau so redet wie ich«, und sieht »Diotimas und seine Seele wieder in der Gestalt eines großen Huhns vor sich, das einen kleinen Wurm aufpickt. Uralter Kinderschreck vor der Großen Frau griff nach ihm« (566).
Ulrichs Geliebte Bonadea erinnert sich, dass Ulrich im Zusammenhang mit Moosbrugger gesagt habe, »man besitze eine zweite Seele, die immer unschuldig sei, und ein zurechnungsfähiger Mensch könne immer auch anders, der unzurechnungsfähige aber nie« (115., 577).
Arnheim wiederum, der sich Gedanken über den ihm widerstehenden Ulrich macht, fällt plötzlich ein: »Diesem Mann fehlt also im ganzen etwas!« und dann: »Dieser Mann hat Seele!« (112., 548).
Arnheim überkommt beim Anblick seiner gotischen und barocken Märtyrer- und Heiligenfiguren die Ahnung von einem »Frühzustand der Seele« (46., 187). General Stumm ist ziemlich verwirrt, als Arnheim ihm im Gespräch vor der Hofbibliothek mitteilt, »daß sich die Welt seit zwei Menschenaltern in der größten Umwälzung befinde: die Seele gehe zu Ende« (114., 568). Der General hatte bisher »trotz Diotima gedacht, daß es ›die Seele‹ überhaupt nicht gebe [...]. Da aber ein Kanonen- und Panzerplattenfabrikant so ruhig davon sprach, wie wenn er es in der Nähe stehen sähe, begannen des Generals Augen zu jucken«. Wie Arnheim ihn wissen lässt, ist »die Seele schon seit dem Zerfall der Kirche [...] in einen Prozeß der Einschrumpfung und Alterung geraten. Sie hat seither Gott verloren, die festen Werte und Ideale« (568).
Als den Planern der Parallelaktion gar nichts Brauchbares für das Jubiläum einfällt, schlägt Ulrich dem Grafen Leinsdorf vor, »ein Erdensekretariat der Genauigkeit und Seele« zu gründen. Die Parallelaktion habe nur eine Aufgabe: den Anfang einer geistigen Generalinventur zu bilden. »Wir müssen ungefähr das tun, was notwendig wäre, wenn ins Jahr 1918 der Jüngste Tag fiele, der alte Geist abgeschlossen werden und ein höherer beginnen sollte« (116., 596 f.).
Später, im Gespräch mit seiner Schwester Agathe, nennt er das einen Spaß (III, 10., 741), und auch »Seine Eminenz« habe »herzlich gelacht«, sagt Graf Leinsdorf (III, 37., 1021). Von der Seele ist im folgenden kaum noch die Rede, denn Arnheim hat sich von Diotima und der Parallelaktion zurückgezogen.
Im Sommer 1914, als Ulrich längst in Zweisamkeit mit Agathe – seiner »Seele« – lebt, erfährt er von General Stumm, dass die Parallelaktion zum Ende gekommen sei bzw. sich in einen für den Herbst geplanten Weltfriedenskongress verwandelt habe, der offenbar amtlich unterwandert werden soll. Diotima wurde kaltgestellt, und Tuzzi ist wieder Herr in seinem Haus. Ulrich denkt, dass »diesen Diplomaten die Leiden der Seele, als sie über ihn hereinbrachen, dahin gebracht, daß er in allem und jedem nur noch pazifistische Machenschaften sah« (1133). »Pazifismus war für ihn die faßlichste Vorstellung von Seelenhaftigkeit« (1133 f.).