Semig, Arthur
Dr. med. vet., Tierarzt in Jerichow, bis 1933 Fleischbeschauer. Verheiratet mit Dora, geb. Köster. Wohnt in der Bäk in Jerichow. Freund von Heinrich Cresspahl. Er ist jüdischer Herkunft, emigriert auf Drängen seiner Jerichower Freunde im Dezember 1937 zunächst nach Österreich, dann in die Tschechoslowakei, schließlich über die Schweiz nach Paris und Cannes, zuletzt verschollen.
70-71 Heinrich Cresspahl lässt sich bei seinem Besuch in Mecklenburg im Sommer 1931 zum Missfallen seines künftigen Schwiegervaters Albert Papenbrock »sehen auf der Terrasse des Hotels Erbgroßherzog in Rande mit einem Dr. Semig. Mochte Dr. Semig doch zwei Diplome an der Wand haben und zu Kaisers Geburtstag seine Kriegsauszeichnungen durch die Stadtstraße tragen. Papenbrock hielt es für ausreichend, Semig seine Rechnungen zu bezahlen, und zwar postwendend. Aber Semig saß vor einem christlichen Hotel unterm Sonnenschirm und trank den Kurgästen Cognac vor und erklärte Fremden die Welt.«
114-115 Auf einem Foto von Heinrich und Lisbeth Cresspahls Hochzeit im Oktober 1931 sieht man »Semig mit dem Hasenkopf, Semig mit der breiten flachen Bürste vorn an seinem geschorenen Hasenkopf, Semig mit den krummen Lippen und der gekrausten Nase, er muss aber gar nicht niesen, er möchte liebenswürdig erscheinen«. – Semig verlässt das Fest recht früh, »und bei Bothmers wie bei Papenbrocks galt sein Verhalten noch lange als erstaunlich taktvoll für einen Juden, und für einen Akademiker«. Nur Pastor Methling ist »sauer auf Semig, weil er nun nicht mit Anstand sitzen bleiben konnte«.
298-299 Gesine Cresspahls Taufpate. Heinrich Cresspahl zerstreut die Bedenken von Pastor Brüshaver: »Herr Semig ist kein Jude, schon sein Großvater hat die Taufe genommen«.
317 Bei Gesines Taufe am 19. März 1933 ist er »ohne jede Scham vergnügt« und »angetan von dem Kind«.
356-358 Am 1. April 1933, dem Tag des ›Judenboykotts‹, organisiert Ossi Rahn vor Semigs Haus eine Boykottwache mit vier SA-Männern und wird von dem erbosten Baron von Rammin, der bei Semig ein Arzneimittel abgeholt hatte, fast über den Haufen gefahren. Am Sonntag nach diesem Vorfall »wurde das Ehepaar Semig von einer Familie Plessen zum Mittagessen gebeten«.
359-360 Aufgrund des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom April 1933 verliert Dr. Semig seine Stelle als amtlicher Fleischbeschauer und damit den wesentlichen Teil seiner Einkünfte. Er protestiert beim Kreisveterinär in Gneez unter Berufung auf Paragraph 3, Absatz 2, der Frontkämpfer des 1. Weltkriegs von der Entlassung ausnimmt. Der Kreisveterinär zieht sich auf das Argument zurück, dass der Posten inzwischen neu besetzt sei, und weist Semig nach erneutem Protest die Tür. Semig »hielt es alles für persönliche Intrige, nur auf seine Person bezogen«. Sein Nachfolger als Fleischbeschauer wird Hauschildt (vgl. 429-430).
363 Lisbeth Cresspahl meidet im Sommer 1933 Besuche bei den Semigs, unter anderem auch weil Semig »fremd« aussieht, seit er »sich das kleine viereckige Bärtchen unter der Nase abgenommen« hat. Seine Praxis bleibt meistens leer. »Die Semigs faßten alles als Mitleid auf, ob es nun der Besuch war oder ein Angebot von Hilfe.«
418 Zu Cresspahls ›Wünschen an das Jahr 1934‹ zählt auch der, »daß Dora und Arthur sich besinnen möchten und außer Landes gehen. Er war nun fast befreundet mit dem Mann, so weit es eben gehen konnte mit einem Studierten [...]. Es war nicht gut anzusehen, wie Semig ohne Arbeit zusammenschnurrte, wie zacher Weizen. Und Dora wurde immer stiller und sich selbst nur ähnlich, wenn sie die Gesine im Arm hatte. Er wünschte, sie wären in Sicherheit. Er konnte ihnen das nicht sagen.«
428-433 Im Herbst 1934 beklagt Schlachter August Methfessel sich über die nachlässige Arbeit des neuen Fleischbeschauers Hauschildt bei Dr. Semig und bringt ihm ein Stück Fleisch, das Semig nach anfänglichem Sträuben dann doch an das Kreisveterinäramt nach Schwerin schickt. Die Probe ist mit Salmonellen verseucht.
431 Hält sich seit dem Frühjahr 1933 einen Schäferhund, Rex.
472 Sitzt »noch Ende 1935 in seinem gediegenen Haus an der Bäk von Jerichow und bekam seine Dienstbezüge im Ruhestand und fand es ordentlich«, obwohl die Diskriminierung von Juden inzwischen weit fortgeschritten ist. »Arthur brachte es einfach nicht fertig, wegzugehen aus einem Lande, in dem alle so sprachen wie er, wenn sie auch in Manchem anders dachten.«
544-547 Er stammt aus der »griesen Gegend« um Ludwigslust, »Arthur hatte dazugehört«, deshalb bemühen sich einige Jerichower, ihn zur Emigration zu bewegen, wozu neben Heinrich Cresspahl auch Albert Papenbrock, Axel von Rammin und Avenarius Kollmorgen zählen. Papenbrock weigert sich allerdings, bei der Rettung von Semigs Vermögen behilflich zu sein, was Semig gerade recht ist, denn er »sah es nicht ein. Er verbat sich die Einmischung« und schlägt alle Hilfsangebote aus.
570-572, 579, 598-592, 596-599, 601-607 Ein Gespräch zwischen Hagemeister und Warning, das Lisbeth Cresspahl zufällig mithört, setzt das gegenstandslose Gerücht in die Welt, der Reichsarbeitsdienstführer Griem habe vor 1933 illegale Geschäfte mit Dr. Semig gemacht. Semig soll ihm eine kranke Kuh »zum Abdecker begutachtet« haben, so dass Griem Ersatzzahlungen aus der Versicherung habe kassieren können (605). Lisbeths Bruder Robert Papenbrock bringt den Vorgang hinter dem Rücken der Familie zur Anzeige. Daraufhin werden Warning und Hagemeister wegen übler Nachrede (nach dem »Heimtückegesetz«) angeklagt und Dr. Semig, obwohl zunächst nur Zeuge, im Untersuchungsgefängnis in Gneez festgehalten. Für seine Festnahme haben seine Schwiegereltern, die Kösters in Schwerin, gesorgt, »der Tochter zuliebe« (589).
623-626 Anfang Dezember 1937 verlassen die Semigs Jerichow. Dr. Semig selbst hat weiterhin keine Einsicht in seine Gefährdung, er willigt in die Emigration seiner Frau zuliebe, die zunehmend unter den Anfeindungen leidet, und beharrt »darauf, daß sie von einer Reise sprechen wollten, nicht von einer Auswanderung«. Er nimmt eine durch Baron von Rammin vermittelte Stelle als Gutsveterinär bei Rammins Freund Graf Naglinsky in Österreich an.
650-652 Bei Graf Naglinsky halten die Semigs es wegen antisemitischer Anfeindungen im Dorf nur kurze Zeit aus. Im März 1938 gibt Semig die Stelle auf, Naglinsky zahlt ihm »in seiner Erleichterung« sein Geld aus, »obwohl er den Gegenwert noch gar nicht in Deutschland abgeholt hatte«. Kurz vor dem Anschluss Österreichs gehen sie nach Prag, wo Dora Semig bei reichen Auswanderern mit Flickschneidereien Geld verdient und Semig als Pfleger in einer Tierklinik arbeitet. – Dora Semigs Eltern nehmen sich um diese Zeit in Schwerin das Leben.
656 Semigs Schäferhund Rex ist bei Cresspahl untergekommen und heißt jetzt King.
750 Die im Februar 1968 erkrankte Gesine Cresspahl hält den von Marie geholten Kinderarzt Dr. Rydz in ihren Fieberphantasien für Dr. Semig: »Sie sollten sich doch im Amtsgericht Hamburg melden, Herr Semig. [...] Sie können nämlich widrigenfalls für tot erklärt werden, Herr Semig« (vgl. dazu 1872).
891-893 Im November 1942 erhält Cresspahl einen in Leipzig abgestempelten Brief von Dora Semig in französischer Sprache, den er sich von Dr. Kliefoth übersetzen lässt: Die Semigs sind nach der Besetzung der Tschechoslowakei in die Schweiz gegangen, von dort nach Paris, wo sie ihr letztes Geld verbraucht haben. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Frankreich sind sie ins unbesetzte Gebiet entkommen. Leben in der Nähe von Cannes mit falschen Papieren, Semig arbeitet als Schlachter.
1872 Zwanzig Jahre später lässt Dora Semig »ihren Mann aufbieten; er möge sich vor dem Amtsgericht Hamburg melden bis zum 2. September 1960; widrigenfalls er für tot erklärt werde«. Gesine Cresspahl scheint davon auszugehen, dass Semig nach dem Krieg in Westdeutschland Opfer einer antisemitisch motivierten Gewalttat geworden ist.
Vgl. auch 86. 112. 205. 225. 231. 238-239. 294-295. 319-320. 361. 364. 410-411. 425. 467. 529-530. 533. 555. 562. 584. 645. 665. 671. 712. 729. 807. 831. 965. 981-982. 999. 1044. 1218. 1267.