Urim und Tummim

Von der der »merkwürdigen Formel ›Urim und Tummim‹« ist die Rede im Zusammenhang mit Josephs Sympathie für Menfe, die von buntem »Lebensgewimmel« erfüllte Stadt mit dem »uralten Grabesnamen« (V, 1508), »deren Tote nicht übers Wasser zu fahren brauchten, weil sie schon selber im Westen des Stromes lag« (V, 1507). In seinen Reflexionen über Josephs Entschluss, in der »witzigen Grabes-Großstadt« (V, 1509) zu wohnen (V, 1505-1509), beschreibt der Erzähler diese Sympathie als Ausdruck einer »Frömmigkeit zum Tode«, die »getönt und durchwärmt ist von Freundlichkeit zum Leben, diese aber vertieft und aufgewertet von jener« (V, 1508). In ihr offenbare sich der innerste Kern und »das Tiefste seiner Natur«, die Natur des doppelt Gesegneten, »von oben herab und von der Tiefe, die unten liegt« (ebd.), die Hermes-Natur des Mittlers »zwischen entgegengesetzten Sphären und Einflüssen« (V, 1758), zwischen Leben und Tod, Ober- und Unterwelt, Tag und Nacht.

Zur Untermauerung dieser Feststellungen kommt der Erzähler dann, »einige gründliche Gelehrsamkeit« übend, auf jene hebräische Formel zu sprechen, die nur scheinbar einen Gegensatz beschreibe: Zwar bedeute »Urim« das Helle, Fröhliche, Lebensbejahende, während »Tummim« für den lebensverneinenden, »dunklen, vom Tode beschatteten Welt-Aspekt« stehe. In Wahrheit aber umfasse das Wort »Tummim«, in dem auch das Adjektiv »tâm« stecke, beides: »Tâm oder Tummim ist das Helle und Finstere, das Oberweltliche und Unterweltliche zugleich und im Austausch – und Urim nur das Fröhliche, in Reinkultur davon abgesondert.« (V, 1508) Die Formel scheint mithin das über Josephs Doppel-Natur Gesagte nur wiederholen zu wollen: Die in »Tâm oder Tummim« steckende Lebensfreundlichkeit ist durch das Wissen um ihren Widerpart, den Tod, durch die Achtung vor ihm »vertieft und aufgewertet« (ebd.) wie umgekehrt die »Andacht [...] zum Tode und zur Vergangenheit« (V, 1507) durch sie »getönt und durchwärmt« (V, 1508) wird.

Tatsächlich aber geht der Erzähler mit diesen ›gelehrten‹ Reflexionen unmerklich einen Schritt weiter, nicht umsonst markiert er die Einführung der »merkwürdigen Formel« als Übergang zu »Untersuchungen der moralischen Welt« und betont deren ›Verwickeltheit‹ (V, 1508). In der moralischen Welt geht es am Ende um die Frage, was gut und was böse sei, und auch wenn diese beiden Begriffe elegant umgangen werden, sind sie doch gegenwärtig in der Auskunft, dass das Wort »tâm«, das auch in »Tummim« stecke, soviel wie »redlich« bedeute (ebd.). ›Redlich‹ ist ja nun zweifellos ein moralischer Begriff, »Urim und Tummim«, das Helle und das Hell-Dunkle, sind demnach auch moralisch kodiert. Dass der Erzähler meint, das Wort tâm sei »mit ›redlich‹ sehr schwach übersetzt«, leuchtet in moralischer Perspektive erst so recht ein. Denn wenn tâm oder Tummim »das Helle und Finstere, das Oberweltliche und Unterweltliche zugleich und im Austausch« sind, dann sind sie, in moralischer Hinsicht, das Gute und das Böse »zugleich und im Austausch«.

Dass hier von dem moralischen Sinn des Gegenparts »Urim« nicht weiter die Rede ist, leuchtet ein: Das Gute »in Reinkultur« kommt in der »moralischen Welt, die eine verwickelte Welt ist«, nicht oder nur in der unbedarft-naiven Form des ›reinen Toren‹ vor. Man kann es sogar ganz außer Acht lassen und hat trotzdem – in dem doppelsinnigen »Tummim« – immer noch das Ganze: Eben weil Urim und Tummim »eigentlich keinen Gegensatz« bilden, kann man hier »das geheimnisvolle Faktum beobachten, daß, wenn man vom Ganzen der moralischen Welt einen Teil absondert, immer noch das Ganze dem Teile gegenübersteht« (V, 1508 f.). In »Tummim« ist dieses Ganze präsent. »Tummim« und »tâm« reflektieren offenbar die conditio humana schlechthin, bezeichnen das menschenmögliche Gute, dem sein Gegenteil immer inhärent ist. Als Beispiel wird Jaakob genannt, der sanfte »Mond-Hirte«, von dem es »immer geheißen [hatte], er sei ›tâm‹, nämlich ›redlich‹ und wohne in Zelten« (V, 1508). Gleichwohl hat er »den Hauptteil seines Lebens in der Unterwelt, nämlich bei Laban« verbracht, und »mit ›redlich‹ sind die Mittel, mit denen er dort golden und silbern wurde, mehr als ungenau bezeichnet. ›Urim‹ war er gewiß nicht, sondern eben ›tâm‹, nämlich ein Weh-Frohmensch, wie Gilgamesch.« (V, 1509)

»Urim und Thummim« bezeichneten vermutlich Lossteine, die die Hohepriester in einer an ihrem Gewand befestigten Lostasche trugen und mit deren Hilfe sie den göttlichen Willen in Losorakeln erfragten. Jeremias vermutet, dass die Urim und Thummim »Edelsteine waren, von denen der eine (helle) die Ja-Antwort und der andre (dunkle) die Nein-Antwort des göttlichen Orakels ergab« (Jeremias I, 391). Die Bedeutung der in der Bibel in Exodus 28, 30 u.ö. begegnenden Ausdrücke ist allerdings unklar; Luther übersetzt sie mit »Licht und Recht«.

Thomas Mann stützt sich bei der Explikation des Begriffspaars auf Jeremias (I, 316), der auch den etymologischen Zusammenhang zwischen »tâm« und »Tummim« herstellt: »Im Gegensatz hierzu [zu Esau] heißt es von Jakob: er war tâm (redlich) und wohnte in Zelten. tam ist ein Motivwort […], das auch in Urim und Tummim vorliegt. Es gehört zu den Gegensinn-Worten, die Ja bez. Nein, Licht bez. Finsternis, Leben bez. Tod bedeuten. Im Kreislauf können in den Wendepunkten die Eigenschaften des einen auf den anderen übergehen, da ja der Kreislaufrepräsentant in der Oberwelt oder in der Unterwelt sein kann. Die einander entgegengesetzten kritischen Punkte samt ihren Motiven können deshalb vertauscht werden […]. In Urim und Tummim steckt das tam-Motiv im bösen Sinne (Nein, Finsternis, Tod im Gegensatz zu dem lichten, bejahenden Urim), aber auch im guten Sinne. In unserer Stelle [d.i. Genesis 25,27] bedeutet es offenbar die gute Seite.«

Letzte Änderung: 01.04.2015  |  Seitenanfang / Lexikon   |  pfeil Zurück