Weh-Froh-Mensch
»Einen Weh-Froh-Menschen muß ich mich nennen«, bekennt Joseph seinem Herrn Peteprê bei ihrer ersten Begegnung im Dattelgarten (IV, 890). Die eigentümliche Bezeichnung geht zurück auf seine Lektüre des Gilgamesch-Epos. Auch Gilgamesch habe sich, heißt es, einen »Weh-Froh-Menschen« genannt (V, 1307), und gilt Joseph wie seinem Erzähler als das mythische Muster dieses Typus.
Den »Weh-Froh-Menschen« blickt das Leben an wie Mai-Sachme den Joseph bei seiner Einlieferung in Zawi-Rê: mit »drohend« zusammengezogenen »schwarzen Brauen« und einem Lächeln um den Mund. Es ist »das Bild düsterer Umstände mit durchschlagendem Gotteslicht« (V, 1308). Der ›Weh-Froh-Mensch‹ ist »begünstigt und geschlagen zugleich«, das ist seine »Schicksalsmischung«, die »Gilgameschmischung«, die auch Mont-kaw zugeteilt ist, wie Joseph früh erkennt (V, 990), und für die er eine tiefe Sympathie hegt, zumal es nicht nur seine eigene, sondern auch die seines Vaters Jaakob ist (vgl. V, 1509).
Die seelische Verfassung, die diese besondere »Schicksalsmischung« hervorbringt, ist ein Zugleich von dunkler Trauer und heller Zuversicht. Wenn Joseph »sich einen Weh-Froh-Menschen nannte, wie Gilgamesch es getan, so in dem Sinne, daß er die frohe Bestimmung seines Wesens zwar anfällig wußte für vieles Weh, andererseits aber wieder an kein Weh glaubte«, das »schwarz und opak genug« wäre, »daß es sich für sein eigenstes Licht, oder das Licht Gottes in ihm, ganz undurchlässig hätte erweisen sollen«, eine Seelenverfassung, die man, so der Erzähler, »[s]chlecht und recht« auch einfach »Gottesvertrauen« nennen kann (V, 1307).
Die eigentümlich gemischte Stimmung, in der Joseph die Fahrt in seine zweite »Grube«, die Reise nach Zawi-Rê, antritt, ist von dieser Art. Er weint die Tränen Gilgameschs (vgl. V, 1296) und sieht sich zugleich als Akteur in einer Göttergeschichte, als Tammuz-Osiris, der in die Unterwelt fährt (vgl. 1295 f., 1300 f.). Das ist eine Perspektive, die die Möglichkeit der ›Wiederauferstehung‹ einschließt, und tatsächlich entgegnet er dem hämisch triumphierenden Cha’ma‘t: »Wenn du meinst, ich scheide vom Land der Lebendigen, so magst du recht haben. Aber wer sagt, daß [...] ich nicht morgen über den Weltenrand steigen werde, wie ein Bräutigam hervorgeht aus seiner Kammer, strahlend, daß dich die blöden Augen beißen?« (V, 1301)
Josephs ›Weh-Froh‹-Natur ist auch gegenwärtig in seiner Sympathie für alles Gemischte und Gegensätze Verbindende, so etwa in seiner Sympathie für Menfe, die Stadt mit dem »schnoddrig abgekürzte[n] Todesnamen« (IV, 749), »deren Tote nicht übers Wasser zu fahren brauchten, weil sie schon selber im Westen des Stromes lag« (V, 1507). Diese Sympathie für einen Ort, an dem sich Tod, Trauer und Vergangenheit mit »dem menschlichen Lebensgewimmel« vereinen (ebd.), ist ein Kennzeichen des doppelt Gesegneten, »von oben herab und von der Tiefe, die unten liegt« (V, 1508), ein Kennzeichen der Hermes-Natur des Mittlers »zwischen entgegengesetzten Sphären und Einflüssen« (V, 1758), zwischen Leben und Tod, Ober- und Unterwelt, Tag und Nacht. In seinen Reflexionen über Josephs Entschluss, in der »witzigen Grabes-Großstadt« (V, 1509) zu wohnen (V, 1505-1509), stellt der Erzähler den Zusammenhang zwischen diesem zentralen Merkmal und Leitmotiv seiner Hauptfigur und dem Motiv des »Weh-Froh-Menschen« her. Dabei bringt er mit dem hebräischen Adjektiv »tâm« und der »merkwürdigen Formel ›Urim und Tummim‹« (V, 1508) zwei neue Begriffe ins Spiel, deren Erklärungen schließlich zu der Feststellung führen, dass, wer »tâm« sei (wie Joseph und auch Jaakob), »ein Weh-Frohmensch, wie Gilgamesch« sei (V, 1509). »Tâm« nämlich sei ein »seltsam oszillierendes Wort«, dessen Sinn ein Doppeltes umfasse, »das Positive und Negative, das Ja und das Nein, Licht und Finsternis, Leben und Tod«. In dem Wort »Tummim« kehre es wieder und stehe dort »offenbar für den dunklen, vom Tode beschatteten Welt-Aspekt«, jedoch ohne das Helle auszuschließen. Vielmehr bedeute »Tâm oder Tummim […] das Helle und Finstere, das Oberweltliche und Unterweltliche zugleich und im Austausch«, während »Urim nur das Fröhliche, in Reinkultur davon abgesondert« sei (V, 1508).
Die Fügung »Weh-Froh-Mensch« kommt zwar in der von TM wohl hauptsächlich benutzten Übersetzung des Gilgamesch-Epos (Ungnad, 66-118) nicht vor, wird aber schon in der zweiten deutschen Übersetzung (von Peter Jensen) als Bezeichnung Gilgameschs verwendet (Peter Jensen: Assyrisch-Babylonische Mythen und Epen. Berlin 1900, S. 131; vgl. auch Ders.: Das Gilgamesch-Epos in der Weltliteratur. Band 1, Straßburg 1906, S. 4). Auch in einer erstmals 1916 erschienenen populärwissenschaftlichen Prosafassung des Epos taucht sie zweimal als Bezeichnung Gilgameschs auf (vgl. Gilgamesch. Eine Erzählung aus dem alten Orient. Zu einem Ganzen gestaltet von Georg E. Burckhardt. Leipzig: Insel 1916, S. 4 und 9). Im zweiten Teil von »Wandlungen und Symbole der Libido« (1912) erwähnt C. G. Jung, auf Jensens Übersetzung Bezug nehmend, den »schöne[n] Name[n] des Sonnenhelden Gilgamesch: Wehfrohmensch« (Jahrbuch für psychoanalytische und psycho-pathologische Forschungen 4, 1912, Teil 1, S. 216, Anm. 1).
Demnach handelt es sich nicht um eine von Thomas Mann geprägte Fügung, wie die einschlägige Forschung vermutet. In der Annahme, dass sie »im Gilgamesch-Epos selbst nicht enthalten« sei, führt man sie, einem Vorschlag Bergers folgend (Berger, 223), auf Siegmunds Klage im 1. Akt der Wagnerschen »Walküre« zurück (»Frohwalt möcht' ich wohl sein: / doch Wehwalt muß ich mich nennen«). Josephs Äußerung »Einen Weh-Froh-Menschen muß ich mich nennen« (IV, 890) ist sicherlich von dieser Stelle inspiriert, aber die Fügung ›Weh-Froh-Mensch‹ selbst entstammt zweifellos der frühen Gilgamesch-Philologie. Sie dürfte Thomas Mann bei seinen Vorstudien begegnet sein, auch wenn sich wohl keine der oben genannten Übersetzungen in seiner Bibliothek befunden hat. Abweichungen seiner Zitate von Ungnads Text lassen ohnehin darauf schließen, dass er nicht nur diese Fassung (und die passagenweisen Nachdichtungen in Mereschkowskij, 172 ff., 186 ff. u.ö.) in Händen gehabt hat. Die Prosafassung von Burckhardt wurde übrigens in ihrem Erscheinungsjahr von Hermann Hesse rezensiert (Neue Zürcher Zeitung, 22.10.1916). Nicht ausgeschlossen, dass Thomas Mann, der während seines Schweizer Exils häufiger bei Hesse in Montagnola zu Gast war (und in dieser Zeit an dem dritten Band arbeitete), sie bei ihm kennengelernt hat, wenn sie ihm nicht schon vorher untergekommen ist. Das Gespräch mit Peteprê im Dattelgarten, in dem die Fügung erstmals auftaucht, entstand im März/April 1934.