Hermes
Der Name kommt im Roman nicht vor, obwohl von dem »Schalksgott« (V, 1471) und »Herrn der Stückchen« (V, 1429) vielfach die Rede ist. Sein mythisches Muster ist in verschiedenen Figuren gegenwärtig, so in dem Mann auf dem Felde, in Amphiel und dem Eilboten nach Zawi-Rê, in dem alten Midianiter und Cha'ma't, in Eliezer, dem »ältesten Knecht«, und in Naphtali sowie in den babylonischen und ägyptischen Entsprechungen des Hermes, Nabu, Thot und Anup. Auch Jaakob und sogar Rahel werden mit ›hermetischen‹ Zügen versehen. Vor allem aber ist Joseph selbst, zumal der gereifte Joseph, der »Ernährer«, als »eine Erscheinung und Inkarnation dieser vorteilhaften Gottes-Idee« konzipiert (V, 1758).
Bei dieser Zuweisung ›hermetischer‹ Merkmale an die Figuren werden unterschiedliche Eigenschaften des Hermes in Anschlag gebracht, darunter zunächst die des Boten mit dem zugehörigen Attribut der geflügelten Schuhe, die seinen Botengängen ein zauberisches Tempo verleihen. Ein ähnliches Tempo legte (Abrahams) Eliezer vor, als er »gleichsam beflügelten Fußes« zur Brautwerbung für Isaak nach Charran reiste »mit einer Schnelligkeit, daß die Beflügelung seiner Füße gar nicht genügt, sie zu erklären, sondern daß man unwillkürlich versucht ist, sich auch sein Hütchen beflügelt vorzustellen« (IV, 424). Die kleinen »Flügelpaare aus Goldblech«, die Pharaos Eilbote nach Zawi-Rê an seinen Sandalen und an seiner Kappe trägt (V, 1369), spielen scherzhaft auf Echnatôns Sympathie für den ›fremden Gott‹ an (vgl. V, 1424 ff.). Selbst Naphtali partizipiert mit seinem ausgeprägten »Botentrieb« am Hermes-Mythos, wenn auch in einem nur »oberflächlich-mythischen Sinn« (V, 1620). Der Mann auf dem Felde teilt mit Hermes das plötzliche Auftauchen (IV, 535 f.) und spurlose Verschwinden (IV, 711), und die Mischung von ›hermetischen‹ Merkmalen mit Merkmalen eines Engels, die sein Erscheinungsbild kennzeichnet, verweist auf die Verwandtschaft zwischen dem griechischen Götterboten und den Engelsboten der jüdischen (und babylonischen) Tradition.
Als Psychopompos geleitet Hermes die Seelen ins Totenreich, ein Merkmal, das ihn mit Nabu und den ägyptischen Göttern Anubis und Thot verbindet. Das weiß auch Jaakob. In dem spitzohrigen Schakal, der ihn auf seiner Reise durch »der Welt Höllenunteres«, die Wüste, ein Stück weit begleitet, erkennt er sogleich »den Öffner der ewigen Wege, den Führer ins Totenreich« (IV, 221). Und als er ihm Jahre später, vor seiner Hochzeit, im Traum noch einmal begegnet, verwandelt er sich vor seinen Augen in Anubis selbst, in eine Menschengestalt mit einem Hundskopf, die auf einem Stein dasitzt wie der Hermes des Lysipp (IV, 288 f.). Echnatôn nennt Hermes einen »Bruder des Ibisköpfigen«, Thots, ja, dessen »anderes Selbst« (V, 1424), und der Erzähler spricht von Hermes als »einer vollendeteren Ausbildung« des »Gottescharakters«, den »Thot, der Schreiber und Totenführer, Erfinder vieler Gewandtheiten« repräsentiere (V, 1758). Die Rolle des Totenführers ist in mehreren Figuren präsent, zuallererst in dem Mann auf dem Felde, der Joseph zu seiner ersten ›Grube‹, zu den Brüdern nach Dotan, geleitet und wenig später die Karawane des alten Midianiters (der selbst an dieser Hermes-Rolle teilhat) durchs »Verfluchte« (V, 701) führt, durch die Wüste bis an die Grenze Ägyptens, zum »Diensthaus des Todes« (IV, 696). Potiphars Diener Cha'ma't tritt in diese Rolle ein, wenn er den zu Festungshaft verurteilten Joseph zu seiner zweiten ›Grube‹, nach Zawi-Rê, bringt.
Die »Stückchen« des Hermeskindes, die Echnatôn von einem Seefahrer hörte und bei seiner ersten Begegnung mit Joseph in der »kretischen Laube« wiedererzählt (V, 1425-1428), weisen auf weitere Merkmale des Hermes hin, darunter die diebsschlaue Verschmitztheit, mit der er seinen Bruder Apoll übervorteilt. Sie verbindet ihn mit Nabu, der u.a. auch als der »Gott der Diebe« firmiert (IV, 362) und dem der Mann auf dem Felde alle Ehre macht, indem er von Josephs Proviant stiehlt (IV, 545) und die Eselin Hulda gewinnbringend verkauft (V, 705). Jaakobs Segensbetrug und die Übertölpelung Labans mit den sprenkligen und einfarbigen Schafen präsentiert Joseph dem Pharao als Ausprägungen ›hermetischer‹ Schalksgeschichten avant la lettre (V, 1429-1432), und selbst seine Mutter Rahel stellt er in diese Reihe mit dem »Stückchen« vom Diebstahl der Teraphim ihres Vaters Laban (V, 1432 f.).
Das für die Konzeption der Hauptfigur belangvollste Merkmal des Hermes aber ist seine Rolle als verschmitzter Händler. Sie, genauer: der »Witz«, den er dabei sehen lässt, macht ihn zum mythischen Modell des Mittlers schlechthin, »des Sendboten hin und her und des gewandten Geschäftsträgers zwischen entgegengesetzten Sphären und Einflüssen« (V, 1758). Dies ist das mythische Modell, in dem der Reifungsprozess des Romanhelden seinen Fluchtpunkt hat und in dem sämtliche mit Joseph verbundene Motive und Mythologeme zusammenlaufen, allen voran das Motiv des doppelten Segens »oben vom Himmel herab und [...] von der Tiefe, die unten liegt« (IV, 49). Die Idee des Mittlertums deutet sich früh an, etwa in Josephs Sympathie mit dem ›wandernden‹ Mondgestirn oder in seiner Identifikation mit der zwischen Leben und Tod, Ober- und Unterwelt, Tag und Nacht wechselnden und zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit changierenden Vegetationsgottheit Tammuz, nicht zuletzt aber in der schon von dem Siebzehnjährigen selbst so altklugen wie vorausschauenden Deutung seiner Geburt im Zeichen der Zwillinge als Konstellation des doppelten Segens (vgl. IV, 108-112). Der aus ihm entspringende »Witz«, den schon der Jüngling als ›hermetische‹ Eigenschaft beschreibt, da ihm »die Natur des Sendboten hin und her« zukomme (IV, 108), wird das Handeln des Gereiften, des »Ernährers«, leiten, und Pharao, der gleich bei der ersten Begegnung mit Joseph »die Züge des schelmischen Höhlenkindes, des Herrn der Stückchen« in ihm wiedererkennt, baut sein rasch gefasstes Vertrauen auf die Einsicht, »daß kein König sich Besseres wünschen könne, als eine Erscheinung und Inkarnation dieser vorteilhaften Gottes-Idee zum Minister zu haben« (V, 1758).
Die »Kinder Ägyptens« machen »durch Joseph die Bekanntschaft der beschwingten Figur«, die in ihrem Pantheon Thot heißt, der aber durch Joseph-Hermes eine »religiöse Erweiterung« erfährt, die ins Heitere und Zauberische weist (V, 1758 f.). Die »mythische Popularität«, die Pharaos »schelmische[r] Diener« (V, 1757) bei ihnen genießt, beruht »auf der irisierenden Gemischtheit, der mit den Augen lachenden Doppelsinnigkeit seiner Maßnahmen, die gleichsam nach zwei Seiten funktionierten und auf eine durchaus persönliche Weise und mit magischem Witz verschiedene Zwecke und Ziele miteinander verbanden« (V, 1758). Gemeint ist das von Joseph eingeführte (auf Roosevelts ›New Deal‹ anspielende) »Wirtschaftssystem«, die »überraschende Verbindung von Vergesellschaftung und Inhaberfreiheit des einzelnen« (d.i. von Sozialismus und Kapitalismus), die von den Leuten »durchaus als schelmisch und als Manifestation einer verschlagenen Mittlergottheit empfunden« wird (V, 1766).
Eine detaillierte Rekonstruktion der zahlreichen Hermes-Bezüge des Romans bietet Berger (250-272). – Abb.: (1) ›Orpheus-Relief‹ (Archäologisches Nationalmuseum Neapel). – (2) ›Ruhender Hermes‹. Bronze nach Lysippos aus Herculaneum.