Lorenzen
Pastor in Stechlin, früherer Lehrer und Erzieher Woldemars. Er ist unverheiratet und lebt in der Stechliner Pfarre, wo ihm Frau Kulicke den Haushalt führt. Über Lorenzens Herkunft erfährt man nichts. Dubslav kennt ihn seit fast 20 Jahren und mag ihn sehr (vgl. 21/434). Er ist Dubslavs wichtigster Kontakt in Stechlin und der einzige, der noch vorgelassen wird, als Dubslav schon schwer krank ist; allerdings kommt er nur, wenn er gerufen wird (vgl. 41/434). Zu den gesellschaftlichen Anlässen auf Stechlin wird er stets eingeladen, auch wenn er »kein Damenmann, noch weniger ein Causeur« (26/299), sondern vielmehr »ein Schweiger« ist und immer so still dasitzt, »wie wenn er auf den heiligen Geist wartet« (26/296). Engelke findet aber: »Er schweigt immer noch besser, als die Gundermannsche red't.« (Ebd.)
Lorenzen »hat einen diplomatischen Zug« und mag keinen Streit (45/458). Als er nach dem Weihnachtsbesuch von Armgard und Melusine sieht, dass er die schlechte Stimmung zwischen Dubslav und seiner Schwester Adelheid nicht beheben kann, bricht er auf (vgl. 31/335). Kommt das Gespräch auf strittige Themen, so weicht er geschickt aus (vgl. 6/80) oder schweigt verlegen, weil er nicht widersprechen möchte (vgl. 23/265). Er vermeidet es auch, Dubslav seine Zweifel an dessen Wahlerfolg einzugestehen (vgl. 19/212).
Lorenzen ist zwar Pastor, steht der Kirche als Institution aber durchaus kritisch gegenüber. Vor allem findet er es problematisch, wenn die Leute »ganz ernsthaft glauben, das uns Überlieferte – das Kirchliche voran (leider nicht das Christliche) – müsse verteidigt werden, wie der salomonische Tempel« (29/321). Bei aller Zuneigung hält Dubslav sich selbst denn auch für ›kirchlicher als seinen guten Pastor‹ und setzt hinzu »es wird immer schlimmer mit ihm« (2/24). Als er kurz vor seinem Tod noch einmal über Lorenzen nachdenkt, kommt er zu dem Ergebnis, dass er »eigentlich gar kein richtiger Pastor« ist, denn er »spricht nicht von Erlösung und auch nicht von Unsterblichkeit«, und Dubslav hält es für möglich, dass er »am Ende selber nicht viel davon« weiß (41/434). Dubslav sieht darin eine große Ehrlichkeit, die ihm sehr sympathisch ist: »Seit beinah' zwanzig Jahren kenn' ich ihn, und noch hat er mich nicht ein einziges Mal bemogelt. Und dass man das von einem sagen kann, das ist eigentlich die Hauptsache.« (Ebd.)
Auch Woldemar hält Lorenzen unbedingt für »eine lautere Persönlichkeit« (6/84). Er ist für ihn nicht nur sein »Lehrer und Erzieher«, sondern zugleich sein »Freund und Berater«, den er »über alles« liebt, weil er ihm alles verdankt, und ein Mensch, der »reinen Herzens« ist (15/180). Aufgrund dieser Äußerungen hält Melusine den »Schöpfer und geistigen Nährvater unseres Freundes Stechlin« für einen »Wundermann« (15/184) und »Ausnahmemensch[en]« (5/181). Als Woldemar außerdem von Lorenzens Vorbild berichtet, dem portugiesischen Dichter João de Deus, der für die Armen gelebt habe, »nicht für sich«, schließen die Anwesenden auf Anregung der Baronin Berchtesgaden spontan einen Bund in seinem Sinne (15/186).
Lorenzen ist politisch sehr interessiert und denkt, so verbunden er Dubslav und Woldemar auch ist, viel an »die armen Leute« (41/437), z.B. daran, dass für sie Krammetsvögel keine Delikatesse, sondern einfach sehr klein sind (vgl. 6/76). Nach Woldemars Meinung ist er »beinah' Sozialdemokrat« (13/158). Tatsächlich steht Lorenzen, wie Rex sogleich weiß, »in der christlich-sozialen Bewegung« (3/32 f.). Er empfindet es »jedesmal als eine Huldigung«, mit Hofprediger Stoecker verglichen zu werden, ist im Unterschied zu diesem aber kein großer Agitator (3/33). Sein Ideal ist: »Einen Brunnen graben just an der Stelle, wo man gerade steht.« (3/34) Dubslav attestiert Lorenzen eine »Weltverbesserungsleidenschaft« (6/74) und findet, dass er eigentlich »Missionar am Kongo« sein sollte (19/214).
Die zentrale Frage des Romans, ob ›das Alte‹ oder ›das Neue‹ gelten soll, diskutiert Lorenzen ausführlich mit Melusine, die ihn fragt, ob er gegen den Adel sei. Lorenzen erklärt daraufhin, er liebe die ›alten Familien‹, aber deren »Vorstellung, ›daß es ohne sie nicht gehe‹«, sei einfach falsch (29/324), umso mehr, als »die Menschen nicht mehr durch ihre Geburt auf den von ihnen einzunehmenden Platz gestellt werden« (29/321). Seine Zweifel gälten gar »nicht so sehr den Dingen selbst, als dem Hochmaß des Glaubens daran«, der Überzeugung nämlich: »Was einmal galt, soll weiter gelten« (29/322). Lorenzen hält das für rückschrittlich und auch unrealistisch: »Wohl möglich, daß aristokratische Tage mal wiederkehren, vorläufig, wohin wir sehen, stehen wir im Zeichen einer demokratischen Weltanschauung. Eine neue Zeit bricht an. Ich glaube, eine bessere und glücklichere.« (29/324)
Rex findet, dass ein Pfarrer »doch die durch Gott gegebenen Ordnungen kennen sollte« (5/60), und kann sich nur darüber wundern, wie sehr Dubslav an Lorenzen hängt: »Der Alte liebt ihn und sieht nicht, dass ihm sein geliebter Pastor den Ast absägt, auf dem er sitzt.« (4/53) Das mag damit zusammenhängen, dass Dubslav sich gar nicht so sicher ist, ob an ›all dem dummen Zeug‹, das Lorenzen Woldemar beigebracht hat, ›dem Neuen‹, nicht »vielleicht doch was war« (23/266). Dennoch nimmt er vor seinem Tod dem Pfarrer das Versprechen ab, eine eventuelle Rückbesinnung Woldemars nicht zu stören (vgl. 41/439). Lorenzen verspricht es, ist aber Menschenkenner genug, um zu wissen, dass von Woldemar große Neuerungen ohnehin nicht zu erwarten sind (vgl. 41/439 f.).
Von denen, die sehr fromm sind oder sich so gerieren, wie z.B. Rex, Ermyntrud Katzler oder auch Adelheid wird Lorenzen kritisch gesehen. Als die Prinzessin bei ihrem Krankenbesuch mäßig subtil infrage stellt, ob der Stechliner Pfarrer das rechte Wort lehre, ist Dubslav ernstlich erbost über solche »Anzettelungen« gegen seinen »klugen Lorenzen, der euch alle in die Tasche steckt« (37/392). Wie sehr umgekehrt auch Lorenzen Dubslav schätzt, zeigt sich spätestens, als er an dessen Sarg tritt, »um über den, den er trotz aller Verschiedenheit der Meinungen so sehr geliebt und verehrt, ein paar Worte zu sagen« (43/448).
Der von Lorenzen verehrte João de Deus de Nogueira Ramos (1830-1896) war ein portugiesischer Lyriker und Pädagoge, der sich insbesondere für die Alphabetisierung der armen Bevölkerung einsetzte. – Zum Theologen und Politiker Adolf Stoecker vgl. Kommentar, S. 561.