Melusine
Die ältere Tochter des Grafen Barby, Schwester von Armgard. Ihre Ehe mit dem italienischen Grafen Ghiberti ließ »allerlei zu wünschen übrig« (32/339) und wurde nach nicht einmal einem Jahr geschieden; und da es ihr widerstrebt, den Namen ihres Ex-Mannes zu führen, nennen alle sie bei ihrem Vornamen (vgl. 10/124 f.). Melusine ist in London geboren und war 17, als die Familie England verließ. Nach dem frühen Tod der Mutter hat sie Armgards Erziehung übernommen und ist stolz auf das Ergebnis (vgl. 24/271 f.).
Rex findet Melusine, »wiewohl schon über dreißig, […] sehr reizend«, und hält es daher für keineswegs selbstverständlich, dass Woldemar von den beiden Schwestern die jüngere wählen wird (10/124). An dieser Spekulation beteiligen sich später noch weitere Figuren, die meist für Melusine optieren oder doch zumindest sehr unsicher sind, welche der Damen Woldemar heiraten möchte, darunter nicht zuletzt Graf Barby, der als Vater von Melusine nur allzu gut weiß: »Alles dreht sich immer um die.« (11/134)
Tatsächlich übt die »reizende, bieg- und schmiegsame Melusine« eine große Faszination auf Männer aus (36/368), Woldemar beschreibt ihre »Anmut« (12/135), und sogar Pastor Lorenzen nennt sie »die schöne Melusine« (41/440). Dubslav ist von der ersten Begegnung an hingerissen; für ihn ist Melusine »eine Dame und ein Frauenzimmer dazu«, genauso »müssen Weiber sein« (27/299). Czako verliebt sich in sie (vgl. 44/455). Adelheid hingegen kritisiert Melusines »Koketterie« und stört sich entschieden an ihrem »Sich-biegen und -wiegen in den Hüften« (31/337 f.).
Melusine weiß um ihre Wirkung; sie spottet und flirtet gern und ist ein wenig eitel; dabei aber selbstironisch. Sie erinnert sich daran, als 14-Jährige in London zu einem Auftritt der schwedischen Sängerin Jenny Lind mitgenommen worden zu sein, vor allem aber auch daran, dass sie der Lind gefiel: »Wenn man Eindruck macht, das behält man.« (15/179) Melusine fragt auch Woldemar, welche der Schwestern mit ihrem jeweiligen neuen Hut entzückender sei und bringt ihn dadurch in Verlegenheit. Als er schließlich die von ihr mutmaßlich gewünschte Antwort gibt – »Sie, gnädigste Frau« – spielt Melusine das Kompliment herunter und bewahrt Armgard vor einer Beleidigung, indem sie Woldemar einen ›schändlichen Lügner‹ nennt (11/132).
Armgard scheint sich denn auch keineswegs sicher zu sein, ob Melusine nicht vielleicht auch an Woldemar interessiert ist, denn nach der Verlobung fragt sie etwas ängstlich: »Du gönnst ihn mir doch?« (26/290) Melusine freut sich aber mit der jüngeren Schwester, und ein späteres Gespräch lässt vermuten, dass sie nie ernsthaft an Woldemar interessiert war. Denn als sie nach der Weihnachtsreise den alten Stechlin lobt und spaßeshalber fragt, was Armgard davon hielte, wenn sie Dubslav heiratete, ist diese, auch wenn sie sich die Idee mit Melusines »Übermut« erklärt, doch ein wenig unsicher, ob Melusine nicht durchaus imstande wäre, sich »in solche Kompliziertheiten von Schwiegervater und Schwager, alles in einem, und wo möglich noch allerhand dazu, zu verlieben« (32/343). Eifersucht vermutend, stellt Melusine daraufhin klar, dass sie sich jedenfalls eher in Dubslav verlieben würde als in Woldemar (vgl. 32/344).
Gelegentlich schießt Melusine mit ihren Neckereien über das Ziel hinaus, so zum Beispiel, als sie Woldemar abspricht, Phantasie zu haben, eine Bemerkung, die Schwester und Vater zu einem peinlichen Schweigen und Woldemar kurz darauf zu der Bemerkung veranlasst, dass Melusine »doch eigentlich recht hochmütig« sei (22/258 u. 260). Melusine ist sich ihres Fehlers bewusst und »sah wohl, daß sie mit ihrer Bemerkung etwas zu weit gegangen war« (22/258).
Neben ihrer Attraktivität und dem Hang zur Eitelkeit zeichnet sie sich durch ein leichtes, heiteres Wesen (vgl. 27/299), durch Charme, Witz und Liebenswürdigkeit aus. Ihr Vater ist daher auch nicht überrascht zu hören, wie begeistert Dubslav und Lorenzen von ihr waren, denn »Melusine gefällt fast immer« (32/340). Gefällt sie jemandem nicht, so liegt das nach seiner Überzeugung daran, dass viele Menschen »einen natürlichen Haß gegen alles, was liebenswürdig ist«, haben, »weil sie selber unliebenswürdig sind« (ebd). Im Roman ist die einzige Figur, die Melusine nicht mag, Adelheid, und diese Antipathie beruht vollkommen auf Gegenseitigkeit (vgl. 44/452). In Adelheids Augen ist der Name kein Zufall, »diese Melusine ist eben eine richtige Melusine« (31/337). Offensichtlich hält sie sie für liederlich: »Alles an dieser Dame, wenn sie durchaus so etwas sein soll, ist verführerisch.« (Ebd.) Umgekehrt ist Adelheid für Melusine »nichts weiter als eine Stakete, lang und spitz« (32/343). Sich gegenüber Armgard für ihre Abneigung verteidigend, erklärt Melusine: »Glaube mir, diese Dinge sind nicht bloß äußerlich. Wer kein feines Gefühl hat, sei's in Kunst, sei's im Leben, der existiert für mich überhaupt nicht und für meine Freundschaft und Liebe nun schon ganz gewiß nicht.« (32/342)
Über Melusines kurze Ehe erfährt man nur, dass sie in Florenz und »beinah unmittelbar« nach der Verlobung erfolgte, sich ihre »Fortdauer« aber schon »bald als eine Unmöglichkeit« herausstellte, sodass bereits nach weniger als einem Jahr »die Scheidung ausgesprochen« war (12/145). Ihren Mann hat Melusine während ihrer »Verheiratungstage« wenig gesehen, »aber freilich immer noch zu viel« (24/269). Im Gespräch mit Baronin Berchtesgaden deutet sie an, gleich am ersten Tag der Hochzeitsreise bei der Zugfahrt durch den Apennintunnel sexuellen Übergriffen ihres Mannes ausgesetzt gewesen zu sein: »Und als ich aus dem Tunnel heraus war, wußt' ich, welchem Elend ich entgegenlebte.« (33/351) Sie ist deshalb auch beruhigt zu sehen, dass Woldemar für sich und Armgard kein »Coupé apart« genommen hat (33/350).
An Armgards Wohlergehen in der Ehe ist ihr sehr gelegen; und da sie zwar von Woldemars ›edlem Charakter‹ überzeugt ist, nicht aber davon, dass »er auch einen festen Charakter hat« (29/320), sucht sie das Gespräch mit Lorenzen. Sie wünscht sich, dass er als Woldemars ehemaliger Erzieher weiterhin dessen Stütze bleibe (vgl. 29/320 f.). Bei dieser Gelegenheit entspinnt sich jedoch ein ›revolutionärer Diskurs‹ (vgl. 29/324), in dem Lorenzen schon nach kurzer Zeit merkt, dass Melusine doch mehr ist »als eine bloß liebenswürdige Dame aus der Gesellschaft« (29/318). Wie Lorenzen macht sie sich Gedanken über den gesellschaftlichen Wandel, über den verbreiteten Egoismus und darüber, was das Christentum aktuell noch bedeuten kann. Sie selbst bezeichnet sich als ihrer »ganzen Natur nach ungläubig«, aber »wenigstens demütig« oder doch mit dem »Willen dazu« ausgestattet (29/319). Diese Demut aber ist für sie »christlich«, denn: »Wer demütig ist, der ist duldsam, weil er weiß, wie sehr er selbst der Duldsamkeit bedarf.« (29/320) Auch die zentrale Frage des Romans, ob ›das Alte‹ oder ›das Neue‹ gelten soll, wird hier von Melusine beantwortet: »Alles Alte, so weit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben.« (29/320)
Der Stechlinsee bzw. die Legende von seinen Beziehungen zum Weltgeschehen beeindrucken Melusine. Sie hat ohnehin einen Hang zu Märchen, wie Armgard sagt, die diese Vorliebe auf den Namen ihrer Schwester zurückführt (vgl. 11/129). Das Eis des zugefrorenen Sees aufschlagen lassen, um die berühmte Stelle zu sehen, will Melusine auf keinen Fall. Sie sei sehr für solche Geschichten, »aber zugleich auch abergläubisch« und gegen das »Eingreifen ins Elementare« (28/316). Bei der Übernachtung auf Stechlin fürchtet sie sich vor Gespenstern und tauscht mit Armgard das Zimmer, um in dem kleineren, hinteren zu sein, in dem sie sich sicherer fühlt (vgl. 27/307 f.). Der Legende von den Weltbeziehungen des Sees entnimmt sie die Lehre, dass man »den großen Zusammenhang der Dinge nie vergessen« und sich nicht »einmauern« soll (29/320). Melusine gehören auch die letzten Worte des Romans, in denen sie an eben diese Lehre erinnert: »es ist nicht nötig, daß die Stechline weiterleben, aber es lebe der Stechlin.« (46/462)
Die berühmte schwedische Opernsängerin Jenny Lind (1820-1887) lebte seit 1856 in London.