Heßling, Diederich
»Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt.« (7) Von Kindes Beinen an fürchtet er sich vor Autoritäten, ganz besonders vor dem Vater, dessen Züchtigungen er dennoch herbeiwünscht und genießt. »Wenn er genascht oder gelogen hatte, drückte er sich so lange schmatzend und wedelnd am Schreibpult umher, bis Herr Heßling etwas merkte und den Stock von der Wand nahm. Jede nicht herausgekommene Untat mischte in Diederichs Ergebenheit und Vertrauen einen Zweifel.« (7) Zugleich reizt es ihn, Autoritäten fallen zu sehen: »Als der Vater einmal mit seinem invaliden Bein die Treppe herunterfiel, klatschte der Sohn wie toll in die Hände – worauf er weglief.« (7)
Diederich Heßling wächst in Netzig auf, einem kleinen fiktionalen Ort nahe Berlin. Die autoritäre Erziehung in Elternhaus und Schule lehrt ihn früh, menschliche Beziehungen auf das Prinzip von Macht und Unterwerfung zu reduzieren. Bereits im Kindesalter versucht er, sich entweder mit den Mächtigen gut zu stellen oder selbst Machtpositionen zu erlangen. Während er eine demütige Bewunderung gegenüber Respektspersonen wie Lehrern, Geistlichen oder Polizisten empfindet und sich ihnen anbiedert, verachtet er die Schwachen, die von den Mächtigen gemaßregelt werden können. Entsprechend wechselt auch sein Verhältnis zu sich selbst je nach Situation zwischen Machtgefühl und Selbstverachtung. Im Bewusstsein gemeinsamer Ohnmacht gegen die Autorität des Vaters fühlt er auch keine Achtung vor seiner Mutter: »Ihre Ähnlichkeit mit ihm selbst verbot es ihm. Denn er achtete sich selbst nicht, dafür ging er mit einem zu schlechten Gewissen durch sein Leben«. (9)
Gegenüber seinen Schwestern Emmi und Magda versucht Diederich früh, sich in Machtpositionen zu bringen. So müssen sie beim Lehrerspiel »nach seinem Diktat schreiben und künstlich noch mehr Fehler machen, als ihnen von selbst gelangen, damit er mit roter Tinte wüten und Strafen austeilen konnte« (11).
In der Schule bietet er sich den Lehrern als Spitzel an und bringt es so »zum Primus und zum geheimen Aufseher« (13). Einen Höhepunkt seiner persönlichen Machtentfaltung erreicht er in der Schulzeit, als er den einzigen Juden der Klasse zwingt, vor einem selbstgebauten Kreuz niederzuknien. Dafür erntet er das Wohlwollen der Lehrer. (vgl. 12) »Immer blieb er den scharfen Lehrern ergeben und willfährig. Den gutmütigen spielte er kleine, schwer nachweisbare Streiche, deren er sich nicht rühmte.« (10) Wie zunächst die Schule erlebt er später auch die Gesellschaft insgesamt als einen »unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus«, dem anzugehören und dessen Prinzip von Macht und Unterwerfung zu gehorchen, ihm Lust bereitet: Die »Macht, die kalte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend, teilhatte«, ist schon des Gymnasiasten ganzer Stolz, weshalb er denn auch dafür sorgt, dass am Geburtstag des Ordinarius sogar der Rohrstock mit Blumen bekränzt wird (vgl. 10).
Diederichs Leistungen in der Schule erfüllen das Notwendige, gehen aber nicht über das Geforderte hinaus. Nach seinem Gymnasialabschluss wird er von seinem Vater auf die Universität nach Berlin geschickt, um Chemie zu studieren.
Dort sucht er sich eine Wohnung nahe der Universität und geht täglich zweimal dorthin, »in der Zwischenzeit weinte er oft vor Heimweh« (14). Bei seinen Besuchen im Hause Göppel findet er Gefallen an der Tochter des Hauses, Agnes Göppel, aber sein Konkurrent Mahlmann hindert ihn zunächst daran, um Agnes zu werben.
Ein früherer Schulkamerad, Gottlieb Hornung, führt ihn bei den »Neuteutonen« ein, einer schlagenden Studentenverbindung. Die hierarchischen Strukturen und Rituale der Verbindung sagen ihm zu, und er fühlt sich in dieser Gruppe wohl und akzeptiert. »Er war untergegangen in der Korporation, die für ihn dachte und wollte. Und er war ein Mann, durfte sich selbst hochachten und hatte eine Ehre, weil er dazugehörte! Ihn herausreißen, ihm einzeln etwas anhaben, das konnte keiner!« (28) Er ist zunächst nur Konkneipant, tritt dann aber auf Drängen seiner Korpsbrüder den Weg zum Vollmitglied an, was von ihm auch verlangt, dass er sich der Mensur stellen muss. Sein Korpsbruder Wiebel nimmt sich seiner an und macht ihn zu seinem »Leibfuchs« (31). Mit dessen Austritt geht seine Lehrzeit zu Ende, er avanciert zum Vollmitglied und trägt seine Renommierschmisse stolz zur Schau.
Als ihm wegen seines kostspieligen Korpslebens das Geld ausgeht, erinnert er sich an den Studenten Mahlmann, dem er einst Geld geliehen hatte. Mit neuem Mut sucht er Mahlmann auf, um sein Geld zurückzufordern. Aber dessen Auftreten schüchtert ihn erneut ein, und als er versucht, ihn zu einem Duell zu fordern, wirft Mahlmann ihn lachend aus seinem Büro.
Kurz darauf muss Diederich nach Netzig reisen, weil sein Vater im Sterben liegt. Nach dessen Tod wird er der Vormund seiner Schwestern. Danach muss er sein Jahr beim Militär abdienen. Die körperlichen Anstrengungen des militärischen Drills sind ihm schon nach kurzer Zeit zuwider. Er kontaktiert einen Alten Herrn der Neuteutonia, einen Geheimen Sanitätsrat, der dafür sorgt, dass er zunächst vom Felddienst befreit und schließlich ausgemustert wird.
Diederich nimmt sein Studium wieder auf, um seinen Doktor zu machen. Im Tiergarten begegnet er zum ersten Mal dem Kaiser und fällt dabei vor Begeisterung in eine Pfütze. Unmittelbar danach trifft er dort zufällig Agnes Göppel. Er beginnt mit ihr eine Liebesbeziehung, die in einem heimlichen Ausflug nach Mittenwalde gipfelt. Doch Diederich kann mit Agnes‘ Liebe nicht umgehen, weil er auch intimste Beziehungen nach dem Prinzip von Macht und Unterwerfung betrachtet: Agnes‘ rückhaltlose Hingabebereitschaft rührt ihn zwar für Momente, erzeugt aber auch Verachtung, weil er sie als Ausdruck der Schwäche wertet. Er verlässt Agnes nach dem Ausflug aufs Land, und als Agnes‘ Vater ihn zur Rede zu stellen versucht, schämt er sich nicht, alle Ansprüche mit dem Argument abzuwehren, sein »moralisches Empfinden« verbiete es ihm, »ein Mädchen zu heiraten, das mir ihre Reinheit nicht mit in die Ehe bringt« (88).
Diederich kehrt nach bestandenem Doktorexamen nach Netzig zurück, um die Fabrik seines verstorbenen Vaters zu leiten. Auf der Heimreise trifft er Guste Daimchen, die er aus Kindertagen kennt und die, wie er wenig später von seinen Schwestern erfährt, durch eine Erbschaft »Millionärin« sein soll. Zu Hause angekommen, »empfand er die feierliche Schicksalsstunde, in der er das erstemal als wirkliches Haupt der Familie ins Zimmer trat, ›fertig‹, mit dem Doktortitel ausgezeichnet und bestimmt, Fabrik und Familie nach seiner überlegenen Einsicht zu lenken« (93). In Netzig gerät er sofort zwischen die Fronten der Liberalen und Nationalen. Beide Seiten versuchen, sich seiner Unterstützung zu vergewissern. Da er plant, seine Papierfabrik zu vergrößern, biedert er sich bei beiden Seiten an. Gleichzeitig entscheidet er sich, um Guste Daimchen zu werben.
Die Fabrik führt er mit harter Hand, um sich Respekt zu verschaffen. So entlässt er den Arbeiter Karl und dessen Braut fristlos, weil sie sich während der Arbeitszeit hinter einem Haufen Lumpen getroffen haben. Er schlägt alle guten Ratschläge des Buchhalters Sötbier in den Wind und übernimmt sich mit dem Kauf eines neuen Holländers (einer Maschine zur Papierherstellung). Mit einer Reklamation der Maschine, bei der Napoleon Fischer ihm mit einer Manipulation behilflich ist, versucht er seiner Zahlungspflicht zu entkommen. Den eigens angereisten Prokuristen der Herstellerfirma, Kienast, der den Schwindel durchschaut, weiß er auf seine Seite zu ziehen, indem er ihm seine Schwester Magda verspricht.
Als der von ihm fristlos entlassene Arbeiter Karl von dem Wachsoldaten Emil Pacholke erschossen wird, nutzt Diederich den Vorfall, um sich als Nationaler zu profilieren. In einem fingierten Telegramm gibt er vor, dass Kaiser Wilhelm II. den Wachsoldaten für seine Tat belobigt und zum Gefreiten befördert hat. Dies geschieht kurz darauf tatsächlich. Im Zusammenhang mit der Erschießung des Arbeiters fallen auch die Worte, mit denen der Fabrikant Lauer sich eine Anklage wegen Majestätsbeleidigung einhandelt. Diederich muss in dem Prozess als Hauptzeuge der Anklage auftreten, was ihm in der guten Gesellschaft der Stadt zunächst verübelt wird. Eingeschüchtert von der Ablehnung, auf die er allenthalben stößt, verhält er sich in der Verhandlung zunächst sehr ängstlich und hütet sich, Lauer zu stark zu belasten. Als er bemerkt, dass die Stimmung der Mächtigen in Netzig ohnehin gegen Lauer ist, bekräftigt und verschärft er seine Aussage in einem zweiten Anlauf. Er hält eine Rede voll nationalem Pathos, die Lauers Verurteilung besiegelt und die allgemeine Stimmung vollends umschlagen lässt, so dass Diederich nicht nur die Anerkennung des Regierungspräsidenten Wulckow, sondern auch derer zuteil wird, die ihm zuvor mit Ablehnung entgegengetreten waren. Seine gesellschaftliche Stellung erfährt durch seine Rolle im Prozess gegen Lauer einen ungeheuren Aufschwung. Wolfgang Buck, der Verteidiger des Angeklagten, beschreibt Diederich in seinem Schlussplädoyer folgendermaßen: »Ich werde also nicht vom Fürsten sprechen, sondern vom Untertan, den er sich formt; nicht von Wilhelm II., sondern vom Zeugen Heßling. Sie haben ihn gesehen! Ein Durchschnittsmensch mit gewöhnlichem Verstand, abhängig von Umgebung und Gelegenheit, mutlos, solange hier die Dinge schlecht für ihn standen, und von großem Selbstbewußtsein, sobald sie sich gewendet hatten.« (211)
Beim Netziger Harmonieball nutzt Diederich die Gelegenheit, sich beim Regierungspräsidenten Wulckow und seiner Frau einzuschmeicheln. Er redet Wulckow nach dem Mund und lobt das Theaterstück der Gräfin in höchsten Tönen. Schließlich bekommt er eine Einladung zum Tee.
Diederich schließt einen Pakt mit Napoleon Fischer, der ihm bei der Wahl zum Stadtverordneten die Unterstützung der Sozialdemokraten sichern soll. Mit der Hilfe des alten Buck wird er als Kandidat der freisinnigen Partei aufgestellt und mit den Stimmen von Liberalen und Sozialdemokraten zum Stadtverordneten gewählt. Nachdem er sich die Unterstützung der Sozialdemokraten gesichert hat, unterbreitet er Wulckow den Vorschlag, statt eines Säuglingsheimes ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal in Netzig zu errichten. Als Gegenleistung fordert er die exklusive Belieferung aller lokalen Zeitungen mit Papier und die Unterstützung Napoleon Fischers bei seiner Kandidatur für den Reichstag. Als er zudem versucht, ein eigenes Grundstück als Standort des Denkmals an die Stadt zu verkaufen, weist Wulckow ihn erbost aus seinem Haus.
Diederichs Intrigen gegen die Verlobung von Guste Daimchen und Wolfgang Buck zeigen inzwischen Wirkung. Nachdem Wolfgang seine Verlobung mit Guste gelöst hat, geben Diederich und Guste ihre Verlobung bekannt. Sie heiraten am selben Tag wie Magda und Kienast. Am Tag der Hochzeit wird Diederich durch den Premierleutnant Karnauke zum Verkauf seines elterlichen Grundstückes an Herrn von Quitzin gezwungen. Anschließend überreicht Karnauke ihm den Kronenorden vierter Klasse.
Auf der Hochzeitsreise nach Zürich liest Diederich in der Zeitung vom bevorstehenden Besuch des Kaisers in Italien. Kurzentschlossen folgt er der Reiseroute des Kaisers und richtet seine komplette Hochzeitsreise daran aus. Er hält nachts Wache vor dem kaiserlichen Palast und folgt seinem Idol bei jedem Besuch. Als er einen Mann überwältigt, der verdächtig vor der kaiserlichen Residenz herumschleicht, stellt sich heraus, dass es lediglich ein Künstler war. Diederich erfährt, dass der Kaiser den Reichstag aufgelöst hat, und kehrt mit Guste nach Netzig zurück.
Wieder zu Hause, hilft er bei der Gründung der »Partei des Kaisers« und leitet alles in die Wege, die Papierfabrik Gausenfeld zu übernehmen. Als seine Schwester Emmi von ihrem Liebhaber Leutnant von Brietzen verlassen wird, stellt er ihn zwar zur Rede, weigert sich aber, dessen Duellforderung nachzukommen. Er denkt zurück an Agnes Göppel und sieht sich plötzlich in der gleichen Situation wie deren Vater vor vielen Jahren.
Bei einer Wahlveranstaltung greift Diederich den alten Buck erneut an, und es gelingt ihm, der versammelten Menge glaubhaft zu machen, dass Buck durch den Kauf des Grundstückes von Gausenfeld versucht habe, sich selbst zu bereichern. Statt Gausenfeld zu kaufen, wartet er, bis Regierungspräsident von Wulckow der Fabrik alle Aufträge entzieht, und kauft dann die Anteile der anderen Aktionäre zu günstigsten Preisen auf. Mit mehr als 50 Prozent der Anteile wird er Großaktionär und schließlich Generaldirektor des Betriebs. Kurz darauf kauft er mit dem Kapital der Firma das Heßlingsche Werk auf, erhöht hierdurch das Kapital Gausenfelds und macht einen persönlichen Gewinn am Verkauf seines väterlichen Betriebs.
Diederich wird Vater dreier Kinder. Er bekommt eine Tochter und zwei Söhne. Sein Verhältnis zu Guste erfährt einen Wandel, als beide bemerken, dass es Diederich reizt, von Guste dominiert zu werden. Das eheliche Liebesleben wird mehr und mehr von sado-masochistischen Herren- und Sklavenspielen geprägt, in denen Guste Diederich unterwirft.
Bei der Enthüllung des Kaiser-Wilhelm-Denkmals hält Diederich die Einweihungsrede. Es kommt zu einem schweren Gewitter, das die Zeremonie stört. Diederich wird noch schnell von einem Schutzmann der Wilhelmsorden verliehen, dann zerstreuen sich die geladenen Gäste in wildem Durcheinander. Diederich kommt auf dem Nachhauseweg am Haus des alten Buck vorbei. Er geht hinein und wird Zeuge, wie der alte Buck stirbt.