Murr, Kater
Erzähler und Held der »Lebensansichten«, ein Kater mit gelehrten Ambitionen, der sich bei seinem Herrn, Meister Abraham, das Lesen und Schreiben abguckt.
Nach Auskunft des Erzählers der Kreisler-Geschichte ist Murr »wirklich in seiner Art ein Wunder von Schönheit zu nennen«. Die »grauen und schwarzen Streifen« seines Fells laufen vom Rücken auf der Stirn zusammen, wo sie eine »Hieroglyphenschrift« bilden (36). Er trägt einen »stattlichen Schweif«, sein »buntes Kleid« glänzt und schimmert und aus seinen Augen blitzen »Geist und Verstand« (36).
Während des Festes zum Namenstag der Fürstin Maria, mit dem die Kreisler-Geschichte endet, hatte Meister Abraham ihn als Welpen vor dem Ertrinken gerettet und bei sich aufgenommen. Grundsätzlich überlässt Abraham es dem Kater, sich »selbst zu erziehen«, nur »gewisse Normalprinzipien« bringt er ihm durch ein »sehr fatales Birkenreis« bei (39). Als Resultat dieser Erziehung unterlässt Murr es fortan, seine Krallen gegen Abraham einzusetzen, Essen vom Tisch zu stehlen oder Manuskripte zu zerfleddern.
Vor allem lernt er beim Meister das Lesen durch Nachahmung, was er selbst seinem »besonderem Ingenium« zu verdanken meint (42). Schnell erwacht in ihm der Wunsch, auch schreiben zu können, um die Gedanken, die sein Genie gebiert, der »Vergessenheit zu entreißen« (43). Das gestaltet sich allerdings mangels Daumen schwieriger, als gedacht. Der Durchbruch gelingt ihm mit der Idee, auf die Schreibfeder zu verzichten und stattdessen die Kralle zu benutzen.
Angesichts dieser Fähigkeiten stellt sich ihm die Frage, ob »das auf zwei Füßen aufrecht einhergehen etwas so großes« sei, dass es die Herrschaft über alle anderen Lebewesen rechtfertige. Auch die Vernunft, die die Menschen zur Rechtfertigung ihrer Überlegenheit anführen, scheint ihm kein Alleinstellungsmerkmal zu sein (19). Außerdem, so stellt er später fest, gibt es auf Kater einen Reim, während der »Mensch ein ungereimtes Tier ist« (204).
Seine Jugendfreundschaft mit dem Pudel Ponto ist geprägt von dem Antagonismus zwischen der prätendierten höheren Geistesbildung des Katers und der pragmatischen Weltklugheit des Pudels. Gegen des Pudels Anbiederung an den Menschen, die ihm Sicherheit und Futter verschafft, lehnt sich des Katers »angeborner Sinn« auf (135). Als Murr sich allerdings in der Stadt verirrt, nimmt er Pontos Hilfe bereitwillig an, nicht ohne wieder eine Grundsatzdiskussion über die hündische »Unterwürfigkeit« mit ihm zu führen (135). Der erste Bruch dieser Freundschaft wird von Ponto provoziert, der eines von Murrs Manuskripten zu seinem Herrn bringt, und damit dem Kater einige Scherereien einbringt.
Die Warnung seiner Mutter Mina, seine intellektuellen Fähigkeiten nicht preiszugeben, erkennt er erst viel später als »wirkliche Lebensweisheit« an (56). Den Heringskopf, den er der hungernden Mutter verspricht, frisst er vom Appetit übermannt selbst und rollt sich, von Scham und Reue gebeutelt, unter dem Ofen des Meisters zum Schlafen zusammen. Seine Lehrjahre beschließt er mit der Erkenntnis, dass es »Frevel« sei, sich »der Mutter Natur« – also dem Hunger – zugunsten Notleidender zu widersetzen (58).
Murrs erste Liebe ist Miesmies, und ihr Niesen erfüllt sein »Innerstes mit süßen Schauern« (199). Während seiner ersten Werbungsversuche erhält er eine Tracht Prügel von zwei fremden Katern, worauf er mit Ovids Hilfe der Liebe zu entsagen versucht, was misslingt. Er besinnt sich auf das letzte verbleibende Mittel und ergibt sich, indem er ihr »Herz und Pfote« anbietet. Schon kurz nachdem die beiden »ein Paar worden«, erlischt zuerst sein Liebesschmerz, dann seine Liebe, und die »tötendste Langeweile« erfasst ihn in ihrer Nähe (223). Ihr ergeht es ähnlich und sie betrügt ihn mit dem Bunten, der ihn bei einer Konfrontation »mehreres Pelzwerk« kostet (225). Murr und Miesmies werden sich einig, dass sie »einander ganz unausstehlich« geworden sind, sie trennen sich »auf ewig« und weinen dabei »heiße Tränen der Freude und des Entzückens« (226).
Murrs neuer Freund, der schwarze Kater und Burschenschafter Muzius, führt ihm vor Augen, dass er im Begriff ist, ein »abscheulicher Philister« zu werden (241). Nachdem Muzius ihm erklärt hat, was unter diesem Schimpfwort überhaupt zu verstehen sei, will er unter keinen Umständen einer sein und lässt sich von dem Kater in ein »frisches, frohes Burschenleben« einführen (291). Die entscheidenden Stationen nach seiner Initiation sind ein schlimmer Brummschädel nach dem übermäßigen Genuss von »Katzpunsch« sowie sein erstes – siegreiches – Duell gegen den Bunten, der ihm Miesmies ausgespannt hat (291).
Bei einem neuerlichen Besuch Pontos schämt Murr sich plötzlich vor dem »stutzerhaften Pudel« für seine fortschreitende äußerliche Verwilderung, die das Burschenleben mit sich bringt (321). Nach einer gründlichen Reinigung durch Abraham kommen Murr »große Zweifel gegen die Anständigkeit und Nützlichkeit des Burschenklubs«, und er betrachtet auch diesen Lebensabschnitt nach der Beerdigungsfeier seines Freundes Muzius, auf der er sich noch spontan in seine Tochter Mina verliebt, als beendet (324).
Mit Ponto macht er nun als »kultivierter Elegant« auf einem Gesellschaftsabend der Windspieldame Badine seine Erfahrungen (436). Das geistlose Geschwätz erinnert ihn aber an das »eintönige Geklapper einer Mühle« und animiert ihn, sich zu einem Nickerchen zusammenzurollen (433). Geweckt wird er von Minona, einem schönen Windspielfräulein. Er verliebt sich wieder heftig und gibt vor ihrem Fenster die »zärtlichsten spanischen Weisen« zum Besten, bis er einen Eimer kaltes Wasser übergeschüttet bekommt und sich furchtbar erkältet (435).
Wegen einer Reise Abrahams soll er beim Kapellmeister Kreisler einquartiert werden und nimmt dies zum Anlass, erneut einen Lebensabschnitt für abgeschlossen zu erklären. Er sieht sich nun in die »reiferen Monate des Mannes« eintreten, die von der Erkenntnis geprägt sein sollen, dass man »weder Katzbursch noch kultivierter Elegant« sein dürfe, »um sich gerade so zu gestalten, wie es die tieferen und bessern Ansprüche des Lebens erfordern« (436). – In der ›Nachschrift‹ gibt der Herausgeber Murrs Tod bekannt und schließt mit den Worten: »ich habe dich lieb gehabt und lieber als manchen – Nun! – schlafe wohl – Friede Deiner Asche!« (457)
E.T.A. Hoffmanns realer Kater namens Murr verstarb am 30. Nov. 1820. Eine private Traueranzeige des Autors an seinen Verleger Hitzig ist überliefert. – Abb.: (1) Detail der Einbandillustrationen zu Band 1. Aquatinta-Radierungen von Carl Friedrich Thiele nach Vorlagen E.T.A. Hoffmanns. – (2) Detail der Einbandillustrationen zu Band 2. Aquatinta-Radierungen von Carl Friedrich Thiele nach Vorlagen E.T.A. Hoffmanns. – (3) Todesanzeige für Kater Murr vom 1.12.1821. Litographie nach einem Billett E.T.A. Hoffmanns an seinen Freund Theodor Gottlieb von Hippel. Bildquellen für alle drei Abbildungen: Staatsbibliothek Bamberg, die inzwischen nicht mehr alle greifbar sind. Vgl. daher jetzt auch die Digitalisate des E.T.A. Hoffmann Portals der Staatsbibliothek zu Berlin.