Hor (Horus)
Der falkenköpfige Hor ist der Sohn von Eset, den sie von ihrem toten Gatten Usir empfing. Hor rächte die Ermordung seines Vaters, indem er dessen Mörder und »tückischen Bruder« Set schlug (IV, 292 f.). Dadurch erlangte er die Herrschaft über »das Obere«, während seinem Vater Osiris »das Untere«, die Unterwelt, zufiel (IV, 690). – Horus steht mit beiden Sphären in Verbindung (s.u.).
Seine Herrschaft über das »Obere« ist nach dem Gesetz der ›rollenden Sphäre‹ (vgl. IV, 188-194) zugleich irdische Herrschaft: Nach dem Kampf gegen Set hatte Hor sich »die weiße sowohl wie die rote Krone aufs Haupt gesetzt«, d.h. den Thron beider Länder (Ober- und Unterägyptens) bestiegen (V, 1244). Dieser Vorgang wird beim Amun-Fest am Neujahrstag durch den Brauch des ›Gänsefliegens‹ rituell wiederholt (V, 1243 f.).
Als »Erscheinungen des Sonnengottes im Fleische« tragen die Pharaonen den Horusnamen (IV, 32), sie sind der »Hor im Palaste« (IV, 183, 687, 691, 1535, 1751 u.ö.). Das Volk begrüßt Amenhotep III. mit den Jubelrufen »Hor!« und »Goldener Falke!« (V, 973), und sein achtjähriger Sohn, der künftige Echnatôn, ist der »Knabe Hor in der Locke« (V, 976), die »Folgesonne« (V, 977). Joseph bekommt bei seiner Ernennung zum »Vorsteher dessen, was der Himmel gibt« (V, 1488), unter vielen anderen Titeln und Namen auch den Titel »Vize-Horus«. Echnatôn »wollt es nun einmal übertreiben« (V, 1490; vgl. auch 1518, 1598, 1646).
Der in Menfe verehrte Stier Chapi (Apis), der »Inbegriff aller Fruchtbarkeitsmächte« (IV, 754), wird beim Apis-Fest nicht nur als die »lebende Wiederholung« des Gottes Ptach, sondern auch als Re und als Hor angerufen: »›Chapi ist Ptach. Chapi ist Rê. Chapi ist Hor, der Eset Sohn!‹« (IV, 756).
Potiphars Eltern Huij und Tuij, die sich als Wiederholung des geschwisterlichen Ehepaars Usir und Eset verstehen (IV, 862, 865, 867), nennen ihren Sohn »unseren Hor« (IV, 867 u.ö.).
Der sterbende Mont-kaw bittet seinen ›Sohn‹ Osarsiph (Joseph), ihn, sobald er vergöttlicht und dem Osiris gleich sein werde, zu schützen wie Hor seinen toten Vater Osiris: »Sei mein Hor, der den Vater schützt und rechtfertigt, laß meine Grabschrift nicht unleserlich werden und unterhalte mein Leben!« (V, 998).
Für die dem Monotheismus zuneigenden Priester von On (Heliopolis) sind Horus, Rê und Atum ein und derselbe Gott: Atum-Rê-Horachte, der Sonnengott und Gott »der Lebenden« (IV, 735). Echnatôn verschafft der Lehre der Sonnenpriester von On nach seiner Thronbesteigung Geltung (V, 1364 f.). In diesem Sinne, als Teil oder Variante einer als Einheit gedachten Gottheit, taucht Horus auch im Roman in mehreren Namensverbindungen auf: Horachte, Rê-Horachte, Atum-Rê-Horachte, Rê-Horachte-Aton. Dazu mehr unter Atum-Rê-Horachte.
Die Aussagen über Horus stützen sich vor allem auf die Hinweise von Erman/Ranke (zu Hors Geburt: 307 f.; zu seinem Kampf mit Set: 25, 308 f.; zu seinem Namen als Teil des Königsnamens: 58, 60).
Horus ist eine vielgestaltige Gottheit. Einerseits stand er – als Sohn von Isis und Osiris – in enger Beziehung zu Fruchtbarkeits- und Unterweltsmythen und wirkte u.a. beim Totengericht mit (vgl. die Abbildung aus dem Totenbuch des Hunefer). Andererseits wurde er als Sonnengott verehrt und den Sonnengöttern (Atum, Re) beigeordnet, teils auch als Sohn des Re betrachtet oder – als Horachte (Harachte) – als Morgensonne identifiziert und als Rê-Horachte mit Re vereinigt. Die Augen des Horus repräsentieren Sonne (rechts) und Mond (links). Der Roman adaptiert diese Vieldeutigkeit der Figur. In seiner Begriffswelt ist Horus ein Grenzgänger zwischen den beiden gegensätzlichen Sphären von Geist (Sonne) und Leben (Mond), Vater- und Mutterwelt.
Abb.: Horus als Herrscher beider Länder mit der ägyptischen Doppelkrone. – Vgl. auch die Abbildung des Horus mit Isis und Osiris auf einem Relief aus der Zeit Sethos I.