On (Heliopolis)
Das »lehrhafte On« (d.i. Heliopolis) ist nach Per-Sopd und Per-Bastet die dritte und bis dahin größte ägyptische Stadt auf Josephs Reise nach Theben. On liegt an der »Spitze des Dreiecks der Mündungen« (IV, 729), d. h. dort, wo sich der Nil zum Delta verzweigt. Das bringt ihm die formelhaft wiederholte Bezeichnung »On an der Spitze des Dreiecks« ein (IV, 737; V, 941, 1041 u.ö.).
On liegt nicht nur an der Spitze des Dreiecks, sondern hat auch selbst die Form eines Dreiecks, dessen nördliche Spitze »gedachterweise, aber so ziemlich auch in Wirklichkeit« mit der Spitze des Nildeltas zusammenfällt. An dem Spitzenpunkt erhebt sich ein riesiger Obelisk aus feuerfarbenem, poliertem Granit, der den großen, weit nach Süden ins Stadtgebiet ausgreifenden Tempelbezirk im Norden abschließt (IV, 733).
Das ›goldene On‹ ist das »Sonnenhaus«, das Haus der großen Sonnengottheit Atum-Rê-Horachte (IV, 731). Ihr zu Ehren »gleißte und blitzte« die ganze Stadt von Gold: Die Dächer der Ringmauern sind aus Gold, überall ragen goldene Sonnenmale in Tiergestalt auf, und selbst die ärmsten Hütten tragen auf ihren Dächern vergoldete Sonnenzeichen (IV, 732). Aber alles wird »überfunkelt« von dem riesigen Granitobelisken an der »Spitze des Dreiecks«, dessen ebenfalls goldene Spitze »täglich den ersten Morgenstrahl aufglimmend empfing« (IV, 733).
On ist die »Stadt des Blinzelns« (V, 1506), denn von dem blitzenden Licht haben die Einwohner ständig tränende Augen, und Fremde ziehen sich gegen den »Glast« Kapuzen und Mäntel über den Kopf (IV, 732). Die Priester des Sonnentempels mit ihren Blankschädeln sind doppelt betroffen, ihnen tränen die Augen auch »vom vielen In-die-Sonne-Sehen« (IV, 734). Der Erzähler nennt sie (seines Urhebers norddeutsche Herkunft verratend) die »Plieräugigen« (IV, 736).
Eine »Stadt zum Blinzeln« ist das tausendjährige On aber auch »von Geistes wegen«: »Urweise Lehrhaftigkeit war hier zu Hause«, die vor allem auf der Geometrie fußte, speziell auf der Geometrie des Dreiecks. Der Erzähler vermutet, dass der »Sinn für das Raumlehrhafte« mit dem »Dienst des Tagesgestirns«, dem Sonnenkult, zusammenhängt (IV, 733).
Geometrie fundiert auch das »Gottesdenkertum und die Gabe der Glaubensgesetzgebung«, die in On zu Hause und in der Priesterschaft des Sonnentempels »erblich« sind: »Heiliger Scharfsinn war ihr Besitztum von alters« (IV, 734). Auf dem Tauschmarkt vor den Toren des Tempels lässt sich der alte Midianiter von den Sonnenpriestern ihre ›Theologie der Zusammenschau‹ erklären, und Joseph hört zu. Sie ist eine Form des Monotheismus, die das Kunststück fertigbringt, »niemanden dabei zu kränken und ungeachtet ihres identifizierenden Betreibens die tatsächliche Vielheit der Götter Ägyptens unangetastet zu lassen« (IV, 725).
Das gelingt durch die »Wissenschaft vom Dreieck«. Dessen »Spannseite« nämlich entspricht den zahlreichen Göttern Ägyptens; die »zusammenstrebenden Schenkelseiten« aber versinnbildlichen den Prozess der »Zusammenschau«, der die Vielheit in dem einen »Schluß- und Schnittpunkt« an der »Spitze des Dreiecks« zusammenführt, ohne sie zu vernichten: sie bleibt in dem von den drei Seiten umschlossenen Raum erhalten. Die »Spitze des Dreiecks« aber und die Einheit der Vielheit, so erklären die »Spiegelköpfe«, sei »der Herr ihres Tempels, sei Atum-Rê« (IV, 735).
Genau genommen umfasse die »Spannseite« des Dreiecks nicht nur die Vielheit der ägyptischen, sondern aller Götter, die mithin in der Einheit der Vielheit im Spitzenpunkt des Dreiecks, Atum-Rê-Horachte, zusammengefasst seien. Deshalb, so lassen die »Plieräugigen« wissen, könnten auch Fremde »getrost und ohne Verrat« dem »Horizontbewohner« Atum-Rê opfern, weil zugleich mit ihm »auch ihre heimischen Götter die Gaben empfingen« (IV, 737).
Die Einheitsbestrebungen des Amun in Theben dagegen hätten mit dieser Wissenschaft vom Dreieck, ihrer Toleranz und Weltläufigkeit nichts zu schaffen, seien vielmehr eine »engstirnige Anmaßung« von »gewalttätiger Plumpheit« (IV, 736).
Echnatôn besitzt in On einen komfortablen »Absteige-Palast«, östlich des Sonnentempels gelegen und mit ihm verbunden durch eine »Allee von Sphinxen und Sykomoren«, auf welcher »der Gott dahinzog, wenn er seinem Vater zu räuchern gedachte« (V, 1406). Bevor Echnatôn den Bau einer neuen, »ganz dem Atôn geweihten Stadt« (Achet-Atôn) beschließt, spielt er mit dem Gedanken, den Hof nach On zu verlegen, »wo er sich viel wohler fühlte« als in der Amun-Stadt Theben. Oft reist er nach On, um der »Amunsräucherei« zu entgehen und »sich mit den lehrhaften Spiegelköpfen vom Hause des Atum-Rê-Horachte über die Natur dieses herrlichen Gottes, seines Vaters, und über sein inneres Leben zu unterhalten« (V, 1382 f.).
In seinem Palast zu On träumt er auch seine beiden Träume von den fetten und mageren Kühen und von den vollen und verdorrten Ähren (V, 1386-1391). Hier findet auch seine erste Begegnung mit Joseph statt (V, 1404), ebenso das Zusammentreffen mit Jaakob (V, 1752-1757).
»Das Mädchen« Asnath, Josephs Frau, ist in On aufgewachsen, ihr Vater Potiphera ist Oberpriester des Sonnentempels (V, 1514). Ihr »Vorzugsaufenthalt war das Ufer des Heiligen Sees im Tempelbezirk ihres Vaters«, und »nichts liebte sie mehr, als mit ihren Gespielinnen, Priestertöchtern und Töchtern der Großen von On, auf dieser Aue am spiegelnden Wasser zu wandeln« (V, 1517).
Wie im Tempel des Ptach in Menfe gibt es auch im Sonnentempel zu On einen heiligen Stier, die ›lebende Wiederholung‹ des Atum-Rê, Merwer, dem die Sonnenpriester Rauchopfer darbringen (IV, 731 f.).
Der Sonnentempel zu On ist nach Überzeugung der Sonnenpriester auch der Ort, an dem sich der »Zeitvogel« Bennu (Phönix) alle 500 Jahre verbrennt und aus der Asche verjüngt hervorgeht (V, 1386 f.).
Vgl. Karte von Ägypten. – ›On‹ ist die koptische Form des altägyptischen Ortsnamens ›Iunu‹; die Griechen nannten die Stadt Heliopolis. – Die Darstellung von On stützt sich auf Erman/Ranke (31 u.ö.); vgl. auch Erman (26-28, 89-91). – Über TMs Darstellung der ›Theologie der Zusammenschau‹ der Priester von On urteilt Jan Assmann: »Man kann das Phänomen Heliopolis nicht schöner und zugleich treffender darstellen.« (Assmann II, 104)
Abb.: Vier Gottheiten von Heliopolis (Papyrus Harris).