Mann auf dem Felde, Der
Auf seiner schicksalhaften Reise zu den Brüdern erreicht Joseph nachts die Weidegründe vor Schekem und trifft dort anstelle der Brüder einen Fremden, »dessen Schritte er hinter sich nicht hatte kommen hören« (IV, 536). Der stellt sich ihm vor als ein Bote und Führer, lässt ihn wissen, dass die Brüder mit den Herden ins Tal von Dotan weitergezogen sind (IV, 537) und bietet ihm an, ihn dorthin zu führen. Er ist eine der Hermes-Figuren des Romans: »Ich bin ein Führer und führe dich, wenn du willst. Ich öffne dir die Pfade nach Dotan ganz ohne Entgelt, denn ich muß ohnedies dorthin auf meinem Botengang« (IV, 538). Beide machen sich, abwechselnd auf Josephs weißer Eselin Hulda reitend, auf den Weg nach Dotan.
Der Fremde ist ein Jüngling, »nur einige Jahre älter als Joseph«. Er ist hoch gewachsen, trägt ein ärmelloses Leinenkleid, dazu ein über die Schulter geworfenes »Mäntelchen«, Sandalen und einen Stock (IV, 536 f.). Sein Kopf sitzt »auf etwas geblähtem Halse« und sein Kinn springt »wie eine kugelige Frucht« hervor (IV, 536). Er hat eine ›gezierte Art‹, den Kopf über die Schulter zu neigen (IV, 537, 543, 702, 703), und blickt aus »mangelhaft geöffneten Augen mit matter Höflichkeit auf Joseph hinab, schläfrig verschwommenen Ausdrucks, wie er entsteht, wenn einer zu blinzeln verabsäumt« (IV, 537).
»Ich bin vorübergehend gewisser Erleichterungen in meinem Fortkommen beraubt«, bemerkt der Fremde beiläufig (IV, 540), eine doppelte Anspielung, die man auf die Flügelchen an Hut und Sandalen des Hermes, aber auch auf die Flügel der Engel beziehen kann, mit deren Ansichten und Gebaren dieser junge Mann auffallende Ähnlichkeit zeigt: Ganz nach Art der himmlischen Heerscharen in den »oberen Rängen« (vgl. IV, 47 u.ö.; V, 1279-1291) mokiert er sich über die Menschen und die »unbegreifliche Angelegentlichkeit«, die sein »Auftraggeber« diesem Geschlecht widme (IV, 541, 542 f.), und beklagt sich über die Aufträge, die er um dieser »Angelegentlichkeit« willen bekomme und durch die er sich sichtlich unterfordert fühlt. Es sei alles in allem »ein ekles Geschlecht, das Unrecht trinkt wie Wasser und längst schon wieder die Flut verdient hätte, doch ohne Rettungskasten« (IV, 542). Stattdessen aber habe »man« es immer noch »vor mit ihnen wunder wie weittragend, daß man dies und das und ich weiß nicht was in die Wege leite, ihr bißchen Zukunft betreffend, wie nun auch ich dich Beutel voll Wind in die Wege leiten muß, damit du zu deinem Ziele kommst – es ist recht langweilig!« (IV, 543). Joseph lächelt heimlich »über diese Gewohnheit der Leute, ihre eigene Art zu hecheln und sich selbst dabei auszunehmen« (IV, 543). Dass dieser Führer nicht von seiner ›eigenen Art‹ spricht, entgeht ihm.
Gegen Morgen wird er gewahr, dass der Fremde ihn, während er schlief, bestohlen hat, »ein Körbchen mit Preßobst und ein anderes mit gerösteten Zwiebeln fehlte«. Er sieht es ihm nach, weil er als Führer dem Nabu geweiht ist und nach seinem Vermuten als »ein Diener des Gottes der Diebe« gehandelt hat (IV, 545).
Später, beim Wiedersehen auf der Wüstenfahrt von Gaza zur Feste Zel, bei der der Fremde erneut als Führer fungiert (IV, 701-707), wird Joseph erfahren, dass er auch seine Eselin Hulda, die er mit einem verletzten Fuß bei ihm zurücklassen musste (IV, 546 f.), in Dotan verkauft und sich an dem übrigen Proviant, den sie trug, schadlos gehalten hat. Er habe sich damit, nachdem Joseph von seinem Gang zu den Brüdern nicht zurückgekehrt sei, für seine »Führer- und Wächterdienste« bezahlt gemacht (IV, 705), erklärt er, seinem ursprünglichen Angebot (IV, 538) nachträglich widersprechend.
Bei diesem Wiedersehen spricht er auch von seinen »Wächterdiensten« am leeren Brunnen (IV, 706 f.), die er schon bei der ersten Begegnung dunkel angekündigt hatte (IV, 540 f.) und über die der Leser unterdessen schon ausführlich unterrichtet worden ist. Auf diese Weise erfährt Joseph von Rubens Plänen, ihn heimlich aus dem Brunnen zu ziehen. Rubens Begegnung mit dem geheimnisvollen Fremden am Brunnen (IV, 616-623) wird als Präfiguration des Ostermorgens erzählt: Der steinerne Deckel, den die Brüder auf die Öffnung gewälzt hatten (IV, 566), ist beiseite geräumt, anstelle Josephs findet Ruben den fremden Jüngling auf den Steinen sitzend vor (vgl. Markus 16,4-5), der sich als Wächter des Brunnens bezeichnet (IV, 617) und Ruben wissen lässt, dass der Knabe nun einmal »nicht mehr da« sei. Bezugnehmend auf den Tammuz/Adonis-Mythos (und auf das Taurobolium des Kybele- bzw. Attiskults) spielt er auf die Auferstehung an (IV, 621), nicht ohne den Fassungslosen über die Vorläufigkeit des Geschehens wie seiner eigenen Rolle darin (»auch ich sitze hier sozusagen nur versuchsweise und vorläufig« – IV, 619) zu belehren: Die »Geschichte hier« sei »bloß ein Spiel und Fest«, sei »ein Ansatz nur und Versuch der Erfüllung« (IV, 622). Der verwirrte Ruben wendet sich schließlich zögernd und den »benommenen Kopf« schüttelnd zum Gehen (IV, 623).
Als Führer durch die Wüste bis nahe an die Feste Zel wird der Fremde von dem alten Midianiter am Torplatz in Gaza angeheuert (V, 700 f.). Joseph erkennt ihn sofort an seinem geblähten Hals, dem ›fruchtrunden Kinn‹, der unverkennbaren »Mattheit des Blicks« und gezierten Haltung (IV, 701). Erneut mokiert er sich über seinen Auftrag: »Ja, da muß ich dich Beutel voll Wind nun wieder in die Wege leiten, damit du an dein Ziel kommst [...]. Ob es einem so recht gemäß ist und zu Gesichte steht, danach fragt man sich wohl unter der Hand einmal nebenbei« (IV, 706).
Als die Karawane die Feste Zel erreicht, ist er unbemerkt und ohne Lohn verschwunden (IV, 711). Auch das Kamel, das er geritten hat, lässt er (anders als die Eselin Hulda) zurück und macht damit sein anfängliches Versprechen, Joseph »ganz ohne Entgelt« führen zu wollen (IV, 538), am Ende doch noch halbwegs wahr.
Band IV: 535-547, 616-623, 700-707, 711 f.
Als Führer und ›Öffner der Wege‹ agiert die Figur als Hermes Psychopompos, als Führer in die Unterwelt: Beide Male geleitet er Joseph in die »unterweltliche Welthälfte« (IV, 545), zuerst zum Brunnen bei Dotan, später ins »Verfluchte« (V, 701), in die Wüste und nach Ägypten, ›Scheol‹, das »Diensthaus des Todes« (IV, 696). – Seine diebische Natur referiert auf Hermes-Nabu als Gott der Diebe (vgl. Jeremias II, 376, Anm. 5).
Als ein ›höheren Orts‹ eingesetzter Wächter am Brunnen (IV, 540 f., 616-623) tritt er in die Rolle eines Engels ein, teilt auch mit den Heerscharen die unverhohlene, von Eifersucht beflügelte Verachtung für die Menschen (vgl. z.B. IV, 47 f. und IV, 541-544) und munkelt wie sie über die (Semael angelasteten) »ursprünglichen Anschläge« (IV, 541), die bei der Erschaffung des Menschen und der besonderen ›Angelegentlichkeit‹ im Spiel gewesen sein sollen, die Gott den Menschen und speziell dem Stamm Israel widmet (vgl. V, 1279-1290). Er bedient sich sogar ähnlicher Wendungen, wie man sie in den »oberen Zirkeln und Rängen« verwendet.
Der anscheinend fehlende Lidschlag (IV, 537) verbindet ihn mit dem ›eigentümlichen Mann‹, mit dem Jaakob am Jabbok eine Nacht lang ringt und dessen Augen ebenfalls »nicht nickten« (IV, 96). Sofern dieser (nach Gorion III, 15) als Erzengel (Michael) aufgefasst werden kann, ist mit dieser Parallele eine weitere Referenz auf Engelsgestalten gegeben. Nach jüdischer Sage ist der ›Mann auf dem Felde‹ der Erzengel Gabriel (vgl. Gorion III, 67).
Fischer (418) ist überzeugt, dass er »zugleich der Engel vom Kampf am Jabbok ist«, und hält dafür, dass auch seine Funktion als Führer mehr als auf Hermes-Nabu auf den Erzengel Raphael anspielt, der den Tobias auf seiner gefährlichen Reise begleitet (Buch Tobit). Die äußere Erscheinung von Josephs geheimnisvollem Begleiter, insbesondere seine halb geschlossenen Lider, sieht er durch einschlägige Gemälde inspiriert (etwa durch Francesco Botticinis ›Die drei Erzengel und Tobias‹), von denen freilich unklar bleibt, ob TM Abbildungen davon zur Hand gehabt hat.
Berger (254 f.) betont zu Recht die »mythologische Zweideutigkeit« der Figur, die aus dem Blick gerate, wenn man sie »nur vom griechischen Mythos her zu erklären« versuche: »der Unbekannte ist Hermes und Engel zugleich, eine Kombination aus beiden und damit eine Gestalt, die wie so viele andere des Romans aus dem Übereinanderschieben verschiedener religiöser Überlieferungen entstanden ist«.
Diese Sicht unterstützt ein Selbstkommentar des Autors in einem Brief an Hermann J. Weigand vom 18.11.1937: »Daß der ›Mann‹, dem Joseph auf dem Felde begegnet, ein Engel, und zwar der Engel Gabriel gewesen sei, habe ich alten jüdischen Kommentaren entnommen [vgl. Gorion III, 67] und diese Gestalt dem ›Reich der Strenge‹ entstammen lassen, von dem in der ›Höllenfahrt‹ die Rede ist. Er ist bei mir kein Erzengel, sondern nur irgendeiner aus der pikierten Umgebung, in dem sich die von mir angenommenen Charakterzüge dieser hohen Gesellschaft mischen mit ganz anderen mythologischen Zügen, die die Figur zum Teil ins Hermeshafte hinüber changieren lassen, etwa bei dem ›Diebstahl‹ an den Mundvorräten Josephs.« (Selbstkommentare 163 f.) – Vgl. auch TMs Kommentar zu dieser Figur in einem Brief an René Schickele vom 3.7.1934 (Selbstkommentare, 98 f.) und in dem Brief an Eberhard Hilscher vom 8.2.1953, in dem er auch die Rolle der Figur als »Totenführer-Gestalt« erwähnt und sich im Übrigen über den »Satansruf nach dem Ambiguosen und der Ironie« mokiert, der ihm »in einer neuesten deutschen Literaturgeschichte (Pongs)« unter Bezugnahme auf diese Figur nachgesagt wird: »O Esel! Esel!« (Selbstkommentare, 327 f.).
Abb.: ›Orpheus-Relief‹ (Archäologisches Nationalmuseum Neapel), in dessen Hermes (links) Wysling (210 f.) die Vorlage für die Gestaltung der äußeren Erscheinung der Figur erblickt.