Midianiter, Der alte (Der Alte)
Das Haupt der Midianiter-Karawane, die Joseph nach Ägypten bringt, ist ein Mann »würdigen Alters«. Seine Karawane besteht aus seinen zwei Söhnen Kedar und Kedma, seinem Schwiegersohn Mibsam, seinem Neffen Epher und einigen »Zügelbuben und Packknechten« (IV, 586), die ihm alle aufs Wort gehorchen müssen, »denn nach des Alten Kopf ging es immer« (IV, 588). Er treibt Handel mit allen nur erdenklichen Waren und zieht damit zwischen Mesopotamien und Ägypten hin und her.
Der Alte entdeckt als erster Josephs Brunnengefängnis und lässt die jungen Männer den geborstenen Stein vom Brunnenrand wälzen in der Hoffnung, hier vielleicht besonders gutes Wasser zu finden (IV, 588 f.). Stattdessen finden sie den geschundenen Joseph, den der Alte sogleich heraufzuholen befiehlt, auch wenn es ihm ein wenig unheimlich ist (IV, 590 f.). Der Alte spürt sogleich, dass es mit diesem Jüngling etwas auf sich hat (IV, 593). Als alter Kaufmann hat er es, wie er später den Brüdern sagt, »zwischen Daumen und Zeiger«, was eine Ware taugt »und ob ein Gewebe grob ist oder fein«. Der namenlose »Heda« aus dem Brunnen ist nach seinem Urteil »fein nach Faser und Maser« (IV, 610). Nach stundenlangem Feilschen kauft er ihn seinen Brüdern für den Gegenwert von zwanzig Silberlingen ab (IV, 612).
An einem der ersten Reisetage examiniert er Joseph ausgiebig (IV, 671-679). Er stellt ihn wegen seiner gegenüber Kedma geäußerten Ansichten über das Ich und die »vielen Mitten« der Welt (vgl. IV, 665 f.) zur Rede, erkundigt sich nach seinem Glauben und probiert das von Joseph gebackene Fladenbrot, das er »ausgezeichnet« findet (IV, 671 f.). Dann unterzieht er Josephs Rechenkünste einer Prüfung, die dieser glänzend besteht, und versucht vergeblich, ihm Näheres über seine Herkunft zu entlocken.
Josephs Schweigsamkeit über sein ›Geheimnis‹ nimmt der Alte gelassen. Er sei nicht so neugierig, dass er »alles ergründen« müsse; er sei genug in der Welt herumgekommen, um zu wissen, dass die »redselige Welt« so manches Geheimnis berge, und sei ein Zweifler, »nicht weil ich nichts glaubte, sondern weil ich alles für möglich halte« (IV, 676).
Josephs Brunnengeschichte lässt ihn in »ausgefahrene Gedankengeleise« (d.h. mythisches Denken) geraten. Er erkennt in ihr das Muster des Sturzes aus »schöner Hoheit in Wüste und Elend«, zu dem »unverbrüchlich der Nachsatz vom Emporsteigen des Erniedrigten zum Retter der Menschen und Bringer der neuen Zeit« gehört (IV, 676 f.). Letzteren lässt er seinen ohnehin selbstbewussten Sklaven freilich nicht hören, sondern räuspert sich nur und wechselt das Thema (IV, 678 f.). Er beauftragt Joseph, eine Liste sämtlicher Waren anzulegen, »die Dinge schwarz, Gewicht und Menge aber in Rot, ohne Fehler und Kleckse« (IV, 679).
Joseph schmeichelt seinem neuen Herrn mit einem poetischen Gute-Nacht-Wunsch, der dem Alten wohltut. »Und er dachte nach über Joseph« (IV, 679). Ein Ergebnis dieses Nachdenkens ist ein Entschluss, den er ihm drei Tage später mitteilt: Er hat vor, ihn in ein vornehmes ägyptisches Haus in Theben (das Haus Potiphars) zu verkaufen: »Hast du Glück und bring' ich dich an in dem Hause, dann ist dein Los so gnädig gefallen, wie es in Anbetracht deiner Schuld und Sträflichkeit nur irgend fallen konnte« (IV, 680 f).
Josephs Bezeichnung Ägyptens als »Land des Schlammes« provoziert eine lange Preisrede des Alten auf »das feinste Land des Erdenrundes«, wo Joseph sich vorkommen werde »wie ein Ochs, vor dem man die Laute spielt« (IV, 684). Den sodomitischen Ritus mit dem heiligen Schafbock Bindidi in Djedet, den Joseph krittelnd ins Spiel bringt, verteidigt der Alte als »sehr ehrwürdig«, dem Grundsatz der Kaufleute folgend, der da heiße: »Nährst du meinen Bauch – ehr' ich deinen Brauch« (IV, 688). Josephs Widerrede nimmt er zum Anlass für Warnungen: Er möge in seiner künftigen Heimat seine lose Zunge hüten (IV, 689).
Joseph geht dem Alten um den Bart, nennt ihn Heket, die »Große Hebamme, da mich der Brunnen gebar, und hobst mich aus der Mutter« (IV, 690), und fragt ihn nach Osiris aus. Der Alte erzählt ihm von der Liebe des Volkes zu Osiris und davon, wie es die einfachen Leute Ägyptens durchgesetzt haben, dass sie alle im Tode zu Osiris werden »und heißen der Usir Chnemhotpe, der Usir Rechmerê nach ihrem Tode und leben ewig« (V, 691). Am Ende dieses Gesprächs sagt Joseph dem Alten seinen (neuen) Namen: »Usarsiph«, und entbietet ihm erneut einen klangvollen Gute-Nacht-Gruß (IV, 693). Den muss er von da an jeden Abend sprechen, und zwar »in ausgesuchten Abwandlungen, die immer neu sein mußten« (IV, 696).
Die Karawane zieht am Meer entlang über Asdod und Askalun nach Gaza, wo der Alte für die Reise durch die Wüste einen Führer mietet, in dem Joseph den Mann auf dem Felde wiedererkennt, seinen Reisebegleiter von Schekem nach Dotan (IV, 700 f.). Die zahlreichen ägyptischen Vorposten passiert die Karawane ohne Schwierigkeiten, denn der Alte »hatte eine heitere und kluge Art, mit dem Kriegsvolk zu reden« (IV, 709). Für die Überwindung der Feste Zel allerdings muss er sich selbst Mut machen. Der Brief seines »Handelsfreundes zu Gilead überm Jordan«, mit dem ihm die Passage schon einmal geglückt ist (IV, 710), beeindruckt Hor-waz, den Truppenobersten der Feste, nicht, er will dieses »Krickel-Krackel« nicht noch einmal akzeptieren, es sei veraltet (IV, 717 f.). Erst als der Alte sein Reiseziel, das Haus Peteprês, nennt und sich seiner Bekanntschaft mit dessen Hausverwalter Mont-kaw rühmt, lässt Hor-waz ihn passieren, obwohl er nichts »Geschriebenes« über diese Bekanntschaft vorlegen kann: sein »friedsames Gesicht« mache ihn glaubwürdig (IV, 718).
Unterwegs erzählt der Alte seinem Jungsklaven Geschichten und Mythen Ägyptens, lässt ihn an seinen Gesprächen mit Priestern in Per-Sopd (IV, 723-725) und On (IV, 734-737) teilhaben, führt ihn zu den Pyramiden, erzählt von König Chufu (d.i. Cheops) und liest die Tafel Tutmoses' IV. vor, die zwischen den Pranken der Sphinx angebracht ist (IV, 739-743). In Memphis besucht er mit den Seinen das Fest des Apis (IV, 752-760) und hilft Joseph als Übersetzer beim Gespräch mit dem Bäckermeister Bata (IV, 757-759). Als Joseph, der für Menfe sogleich Sympathien hegt, bedauert, dass er ihn nicht hier, sondern in Theben verkaufen will, weist er ihn zurecht: Er sei viel zu unreif, um zu erkennen, was ihm fromme. »Ich aber weiß es und wende dir's zu wie ein Vater; denn ein solcher bin ich dir wohl, wenn wir setzen, daß deine Mutter die Grube ist« (IV, 760).
Für den Weg von Memphis nach Theben schifft der Alte seine Karawane samt Kamelen auf dem Lastkahn des Thot-Nofer ein. Unterwegs ergeht er sich »über die Weisheit des Lebens [...], in welchem fast immer die Vorteile und Nachteile dergestalt einander ausglichen und aufhöben, daß die mittlere Vollkommenheit eines Nichtallzugut und Nichtallzuschlecht sich herstelle«, angesichts deren »weder Jubel noch Fluch am Platze sei, sondern Zufriedenheit« (IV, 762 f.). Die Seinen hören ihm zu, »wie gewöhnliche Leute es machen, denen man Höheres bietet, und hätten es lieber nicht anhören müssen« (IV, 763).
Als sich das Schiff Theben nähert, macht der Alte erneut den Reiseführer und erklärt Joseph die vom Wasser aus sichtbaren Gebäude und Tempel (IV, 766 f.). Auf Josephs ungeduldige Erwartung, recht bald das Haus zu sehen, in das er verkauft werden soll, reagiert der Alte ein wenig empfindlich. Es wäre ihm lieber, Joseph fiele der Abschied von ihm schwer (IV, 767).
Im Hof von Potiphars Anwesen schließlich weiß er die Aufmerksamkeit des an seinen Kramwaren nicht eben interessierten Mont-kaw geschickt auf Joseph zu lenken und den Verkauf nach zähen Verhandlungen perfekt zu machen (IV, 791-813). Joseph wird für ein »Kupfergewicht zwischen einhundertfünfzig und -sechzig Deben« in Tauschwerten verkauft (IV, 813).
»Es war getan. Die Ismaeliter von Midian hatten ihren Lebenszweck erfüllt, sie hatten abgeliefert, was nach Ägypten hinunterzuführen sie ausersehen gewesen«, so der Erzähler, der sich freilich sogleich beeilt einzuräumen, dass »des guten Alten Wunsch und väterlicher Antrieb, für den Findling zu sorgen und ihn unterzubringen im besten Haus, das er kannte, sein volles Eigengewicht an Würde in der moralischen Welt« hat, auch wenn er »nur ein Mittel und Werkzeug« höherer Ziele war (IV, 813).
Auch Joseph weiß »die Freiheitswürde zu achten, die das Notwendige menschlich beseelt«. Er bezeigt dem Alten »alle Erkenntlichkeit, die ihm zukam« und nennt ihn seinen Heiland (IV, 814). Der Alte seinerseits hält ihm eine bewegte Abschieds- und Mahnrede und segnet den vor ihm Knienden (IV, 814 f.). Der davonziehenden Karawane schaut Joseph »nicht ohne ein Weh und Zagen in der Herzgrube« nach, bis sie durch den »hallenden Torweg« verschwunden ist (IV, 815).
Zu den verschiedenen Bezeichnungen und zur Herkunft der Midianiter vgl. Muzri. – Ein Deben ist nach TMs Gewährsmann Erman/Ranke (590) ein 91 Gramm schweres Kupferstück. Auch die Veranschlagung des jungen Stiers, den der Alte u.a. für Joseph eintauscht, mit 120 Deben (IV, 813) folgt den Rechenbeispielen bei Erman/Ranke (591). – Als Handelsmann, der für den Austausch von Waren zwischen Mesopotamien, Kanaan und Ägypten sorgt, und als Führer Josephs in das (zumindest aus Jaakobs Sicht) unterweltliche Ägypten hat auch der alte Midianiter teil am mythischen Schema des Hermes.