Schekem (Sichem, Sekmem)
Die »Burgstadt und Verehrungsstätte im Tale«, die man »Sichem, Schekem, ›der Nacken‹, auch wohl Mabartha oder Pass« nennt (IV, 71), weil sie zwischen zwei Bergen, Garizim und Ebal, liegt, ist ein wichtiger Schauplatz in den ersten beiden Teilen des Romans, besonders in den »Geschichten Jaakobs«. Hier, vor den Toren der Stadt, schlägt Jaakob nach seiner Flucht aus Naharina, nach dem Gotteskampf am Jabbok bei Peni-el und dem glimpflich überstandenen Wiedersehen mit Esau für vier Jahre sein Lager auf (IV, 154). Er schließt mit Hemor, dem Stadtfürsten, einen Vertrag über Ansiedelungs- und Weiderechte (IV, 160-163) und kauft von ihm Saatland für 100 Schekel Silbers (IV, 162 f.). Joseph verbringt hier »mehrere Knabenjahre« (IV, 535) und macht – wie später auch in Beth-Lachem und im »Adonishain« bei Hebron (IV, 446-454) – Bekanntschaft mit dem Tammuz-Fest, denn in Sichem betet man »eine Form des syrischen Schäfers und schönen Herrn« an (IV, 71).
Dann freilich, nach vier Jahren friedlicher Siedelung (IV, 164-166), ereignet sich die »Geschichte Dina's« (IV, 152-184), die Liebes- und Entführungsgeschichte um Jaakobs Tochter Dina und Hemors Sohn Sichem, die die älteren Jaakobssöhne zum Anlass nehmen für ihre »Schekemer Schreckenstat« (IV, 380), bei der sie die Einwohner niedermetzeln und die Stadt ausplündern. Danach muss Jaakob mit seinem großen Tross weiterziehen, vier Tagereisen (IV, 470) gegen Süden nach Hebron zum Hain Mamre, wo er dann dauerhaft sein Familienlager errichtet.
Später, als seine Herden so zunehmen, dass die Weidegründe bei Hebron nicht mehr ausreichen (IV, 398), kann er mit den Schekemern wieder Frieden schließen und den vormals geschlossenen Vertrag über Weiderechte erneuern (IV, 72). Wie er das fertigbringt, wird nicht erzählt. Vielleicht hat es mit dem ›Ortsgeist‹ zu tun, der »wenig mannhaft, vielmehr händlerisch, bequem und friedlich« ist (IV, 155). So kommt es, »daß immer ein Teil von Jaakobs Vieh auf den Triften Schekems sich nährte und ein Teil seiner Söhne und Hirten um jener Herden willen seinem Angesicht fernblieb« (ebd.). Es sind meistens die Lea-Söhne, die vor Schekem das Vieh hüten (IV, 398). Einige Jahre später, auf seiner schicksalhaften Reise zu den Brüdern, trifft Joseph hier den Mann auf dem Felde, der ihn zu den Brüdern ins Tal von Dotan geleitet (IV, 537-547).
Die Gegend um Schekem ist ein Land »von mäßiger Gebirgigkeit und fruchtbar blumigen, von Quellen durchrauschten Tälern, wo Gerste wild wuchs«, und die Stadt selbst ist »eine behäbige Siedlung, beschattet vom Felsen Garizim, jahrhundertealt, mit einer dicken, aus unverbundenen Steinblöcken errichteten Ringmauer, die eine Untere Stadt im Südosten und eine Obere im Nordwesten umschloß« (IV, 154).
Jaakobs Ansiedelung in Schekem nach der Rückkehr aus Mesopotamien ist aber nicht nur dem praktischen Nutzen der fruchtbaren Landschaft, sondern auch einer seiner »weitausgreifende[n] Ideenverbindungen« (IV, 158 f.) geschuldet. Denn in seinem »feierlichen Sinnen« versteht er die zurückliegenden 25 Jahre seines Lebens als ein »Gleichnis des Kreislaufs«, als »eine höchst glückliche Ausfüllung des wachstumsmythischen Schemas«, dem folgend er seine Reise nach Mesopotamien als Höllenfahrt und seine Rückkehr nach Kanaan als Aufstieg aus der Unterwelt »mit seiner befreiten Ischtar, der süßäugigen Rahel« deutet. Die frühlingshaft geschmückte Flur bei Sichem gilt ihm darum »als Frühlingspunkt und Kreislaufstation neuen Lebens« (IV, 159).
Hinzu kommen von Abraham ererbte geistliche Sympathien mit den Leuten von Schekem. Denn die beten zwar eine Abart des Tammuz an, was in Jaakobs Augen eigentlich Baalsdienst ist, aber dieser Gott hatte bei ihnen schon früh, »zu Zeiten Abrahams bereits und des Priesterkönigs von Sichem, Malkisedek«, ein »besonderes Gedankengepräge angenommen«, das ihn dem Gott Abrahams ähnlich erscheinen ließ und ihm sogar denselben Namen einbrachte, den Abraham für seinen Gott verwendet hatte, den Namen des Höchsten, »El eljon« (IV, 71 f.). Deshalb ist Jaakob geneigt, »in den Sichemiten Bundesbrüder im Glauben zu erblicken«, und dies um so mehr, als Abraham mit ihrem einstigen Hohepriester Malkisedek Freundschaft gehalten hatte (IV, 159).
Abrahams Leben ist für Jaakob ohnehin ein mythisches Muster, das er in seinem eigenen Leben wiederholt und vergegenwärtigt sieht. Solcher Wiederholung zuliebe feilscht er beim Vertragsschluss mit Hemor nicht um den Kaufpreis für ein Stück Saatland, denn er »war Abraham, der von Osten kam und von Ephron den Acker, die doppelte Grabstätte kaufte. Hatte der Gründer mit Hebrons Haupt und mit den Kindern Heth um den Preis gehadert? Es gab die Jahrhunderte nicht. Was gewesen, war wieder« (IV, 163).
Das alles hindert ihn freilich nicht, den üblen Raubplänen seiner älteren Söhne, denen er anfangs energisch entgegentritt (IV, 158-160), schließlich doch, wenn auch mit Schaudern, ihren Lauf zu lassen (IV, 179 f.). Die Rädelsführer, Schimeon und Levi, die »störrigen Dioskuren«, wird er zwar wegen ihrer »Schekemer Schreckenstat« verfluchen, doch rührt seine Erbitterung gegen sie mehr aus seiner Angst um Rahel her, die zu dieser Zeit zum zweiten Mal schwanger ist, als aus seiner Verbundenheit mit den Leuten von Sichem (IV, 380).
Hemor, der Stadtfürst von Schekem, regiert nicht autonom, die Stadt ist Ägypten tributpflichtig und hat eine ägyptische Besatzungstruppe, von der die Sichemiten allerdings wenig Schutz gegen die rauflustigen Jaakobssöhne erwarten können (IV, 154 f.). Denn die Soldaten sind »ausgemachte Feiglinge« (IV, 156), und ihr Kommandant Weser-ke-bastet, auch einfach Beset genannt, hat »vom Krieger so gut wie gar nichts an sich«, frönt vielmehr »bis zur Narrheit« seiner Liebe zu Katzen und Blumen (IV, 155).
Der sterbende Jaakob vermacht Joseph ein Stück Land, »das er mit seinem ›Schwert und Bogen‹ den Amoritern genommen habe«, womit, so der Erzähler, »nur das Stück Saatland vor Schekem« gemeint sein könne, »das Jaakob einst von Chamor oder Hemor, dem Gichtigen, unterm Tore der Stadt für hundert Schekel Silbers erworben – und also keineswegs mit Schwert und Bogen erobert hatte« (V, 1787).
Josephs späterer Hausmeier Mai-Sachme, der in seinen jungen Jahren als Schreiber in Pharaos Heer nach Kanaan kam, nennt Schekem »Sekmem« (V, 1317).
Vgl. Karte von Kanaan. – Die Verhandlungen Jaakobs mit Hemor über den Kauf von Saatland (IV, 162 f.) sind den Verhandlungen Abrahams mit Ephron über den Kauf des Erbbegräbnisses (Genesis 23, 10-17) nachgebildet. – Über Sichem, seinen besonderen Tammuz-Kult und über Abrahams Beziehung zur Stadt und zu Malkisedek fand TM Material bei Jeremias I (236 f., 264, 272, 291 f., 303 f. u.ö.); ebenso die Bezeichnung »Mabartha« (236).
Bei der (mutmaßlichen) Identifizierung der Bezeichnung »Sekmem« (V, 1317) als ägyptischer Name Sichems konnte TM sich auf Benzinger stützen, dem zufolge das in ägyptischen Texten erwähnte Sekmem »höchst wahrscheinlich das biblische Sichem« ist (11, Anm. 2; ähnlich 50). Ein anderer Gewährsmann TMs, James H. Breasted, stellt allerdings fest, dass »die genauere Lage von Sekmem unbekannt« sei (Breasted, 130).