Nabu
Nabu ist der babylonische Gott der Schreibkunst, in Tyrus und Sidon nennt man ihn Taut. Hier wie dort sieht man in ihm »den Erfinder der Zeichen und den Chronisten der Uranfänge« (IV, 27). Er entspricht dem ägyptischen Thot, dem »Briefschreiber der Götter und Schutzherrn der Wissenschaft« (ebd.), dem griechischen Hermes und dem römischen Merkur.
Joseph hegt »geradezu eine Vorliebe und Schwäche« für diesen »wahrhaften, mäßigen und sorgsamen Gott«, der »sehr zarte und feierliche Beziehungen zum Mondgestirn unterhielt«, was »wiederum ganz nach Josephs Sinn« ist (IV, 26 f.).
Nabu ist wie Hermes-Merkur »ein leichter, beweglicher Gott, als welcher zwischen den Dingen zum Guten redet und fördert den Austausch«. Dabei kommt ihm seine »Gewitztheit« zu Hilfe, denn, so Joseph zum Vater, »es hat der Witz die Natur des Sendboten hin und her und des Unterhändlers zwischen Sonne und Mond und zwischen Schamaschs Macht und Sins Macht über den Körper und das Gemüt des Menschen« (IV, 108).
Mit dieser Beschreibung steuert Joseph auf die Deutung seines eigenen (und seines Autors) Geburtshoroskops zu, die sich unmittelbar anschließt (IV, 108-112). Denn bei seiner Geburt stand die Sonne im Zeichen der Zwillinge, und die Zwillinge sind »ein Nabuzeichen«, ein »Zeichen Thots, des Tafelschreibers«, unterstehen also Hermes-Merkur, von dem die in ihrem Zeichen Geborenen den Witz und die Natur des »Sendboten hin und her« empfangen. In Josephs (und seines Autors) Fall erhalten die Gaben Nabus durch die Konstellation einerseits mit dem Mond, andererseits mit Nergal (Mars) ein besonderes Gepräge (vgl. IV, 108 f.). Josephs astrologischer Vortrag für den Vater mündet in eine Deutung des doppelten Segens, der auf ihm ruht (IV, 109 f.), und der Rolle, die der von Nabu empfangene Witz dabei spielt: Er »wird erzeugt, damit er den Geschäftsträger und Unterhändler mache zwischen Vatererbe und Muttererbe und ausgleiche zwischen Sonnengewalt und Mondesgewalt und den Tagessegen lustig versöhne mit dem Segen der Nacht« (IV, 110).
Wie Thot und Hermes (Psychopompos) ist Nabu der Unterwelt verbunden und ein Führer auf dem Weg ins Totenreich. Deshalb ist der Mann auf dem Felde, der Joseph von Schekem nach Dotan zu den Brüdern (und später mit den Midianitern durch die Wüste an die Grenze Ägyptens) führt, »dem Nabu geweiht, dem Herrn des Westpunktes im Kreislauf, der in die unterweltliche Welthälfte führt« (IV, 545).
Joseph nennt seinen Führer auch einen »Diener des Gottes der Diebe« (ebd.), denn auch diese Eigenschaft verbindet Nabu mit Hermes-Merkur. Als Jaakob seinen beiden Frauen Lea und Rahel seinen Plan eröffnet, von Charran nach Kanaan zu fliehen, antworten sie wie aus einem Mund: »Stiehlst du dich fort, so stiehl auch mich hinweg nebst allem, was Abrahams Gott dir zugewandt, und Nabu, der Führer, der Gott der Diebe, sei mit uns!« (IV, 362). Rahel nimmt die Berufung auf Nabu wörtlich und stiehlt die Teraphim ihres Vaters: »Da man sich fortstahl und die Welt im Zeichen Nabu's stand, so stahl auch sie« (IV, 362).
Band IV: 26, 108-110, 258, 362, 545.
Über das sumerisch-babylonische Pantheon orientierte TM sich vornehmlich bei Meissner (II, 4-51) und Jeremias II (348-391). Maßgeblich war hier wohl die Darstellung von Jeremias II (375 f.), der auch auf die Identifizierung mit Hermes (Psychopompos) hinweist: Sie beruhe auf Nabus Zuordnung zum abendlichen bzw. herbstlichen Sonnenstand, »der im Kreislauf des Tages und Jahres in die Unterwelt führt« (376). Auch die Verbindung zu Hermes-Merkur als »Gott der Geschäfte« und der Hinweis auf Nabu als Gott der Diebe findet sich hier (ebd., Anm. 5).
Abb.: Kalksteinfigur vom Nabu-Tempel in Nimrud (Kalah).