Lea

Älteste Tochter Labans und Adinas, Rahels Schwester und Jaakobs erste Frau, die Laban, »der Teufel« (IV, 325), ihm in der Hochzeitsnacht an Rahels Stelle unterschiebt. Neben der einzigen Tochter Dina schenkt Lea sechs Jaakobssöhnen das Leben: Ruben, Schimeon, Levi, Juda, Issakhar und Sebulun. Ihre Magd Silpa vermehrt den Kindersegen um zwei weitere Söhne: Gad und Ascher.

»Was Lea betraf, so erschien sie durchaus nicht weniger wohlgebaut, ja sogar größer und stattlicher als Rahel, gab aber ein Beispiel ab für die eigentümliche Entwertung, die ein tadelfreier Gliederwuchs durch ein häßliches Antlitz erfährt« (IV, 237). Lea ist »blödgesichtig« (IV, 255), das heißt: sie schielt, worüber Jaakob sich leise (IV, 237), Esau dagegen, als ihm die Schwägerin beim Wiedersehen der Brüder nach 25 Jahren vorgestellt wird, »laut verwunderte« (IV, 149). Zu allem Überfluss leidet sie auch noch unter einer dauerhaften Entzündung der Bindehäute, so dass ihre Augenlider stets ›grindig‹ und gerötet sind (IV, 237), ein Leiden, das sie ihren Söhnen vererbt und für das Esau ihr bei derselben Gelegenheit einen »edomitischen Kräuterbalsam« anbietet, »wofür sie wütenden Herzens dankte, indem sie ihm die Zehenspitzen küßte« (IV, 149).

Der Erzähler, der nicht müde wird, Leas Hässlichkeit immer wieder in Erinnerung zu bringen, möchte aber doch immerhin festgestellt wissen, dass sie nicht etwa hässlicher »als alle« ist, sondern nur im Vergleich zu Rahel und »nur unter dem Gesichtspunkt des Lieblichen« stark abfällt und dass sich durchaus ein Mann denken ließe, »der, diesem Gesichtspunkte weniger unterworfen als Jaakob, der Älteren trotz der entzündlichen Blödigkeit ihrer blauen Augen [...] sogar den Vorzug gegeben hätte wegen der Fülle und Blondheit ihres schwer geknoteten Haares und der Stattlichkeit ihres zur Mutterschaft tüchtigen Leibes« (IV, 286 f.).

Bei der Brautwerbung bekennt Jaakob gegenüber seinem künftigen Schwiegervater freimütig, dass es ihm allein um Rahel zu tun sei und Lea seine »männlichen Wünsche« gar nicht entfache, »sondern im Gegenteil« (IV, 264). Diese Kränkung der Vaterliebe (IV, 313) lässt Laban ihn bitter entgelten, indem er ihm die Verschmähte in der Brautnacht unterschiebt, so dass Jaakob, im Glauben, die geliebte Rahel zu umarmen, »der Unrechten meine Seele und all mein Bestes« gibt (IV, 313). Das presst ihm das Herz zusammen (IV, 315).

Lea ist »groß im Zeugen«, wie der unfreiwillige Bräutigam selbst in seiner Verstörung zugeben muss (IV, 313), und eine tüchtige Schwangere, die weder mit Übelkeit zu kämpfen hat noch über die ›Verunstaltung‹ ihres Leibes klagt, sondern »rüstig und wohlgemut« ihre Arbeit tut »bis zur Stunde, da sie mit etwas veränderter Miene befahl, die Ziegelsteine zu richten« (IV, 317 f.). Jaakobs Liebe aber vermag sie dennoch nicht zu gewinnen. Seine Liebesbekundungen tragen »offen das Gepräge mattester Höflichkeit«, was selbst der Erzähler missbilligt (IV, 327).

Lea nimmt ihr Schicksal der ungeliebten Frau meistens still hin. Selbst dass Jaakob nach Rahels Tod nicht sie, sondern Rahels Magd Bilha »zur Liebsten und Rechten« macht, was ihre Söhne ihm nie verzeihen (V, 1789) und Ruben zu seiner jähzornigen Tat hinreißt (IV, 84), scheint sie schweigend zu ertragen. Ihr ganzer Stolz ist die stattliche Reihe von Söhnen, die ihr vor der bevorzugten, aber lange unfruchtbaren Rahel einen uneinholbaren Vorsprung gibt.

Nur hin und wieder bricht die schon bei Jaakobs Ankunft auf Labans Gehöft (IV, 238) beginnende Eifersucht sich Bahn, so etwa bei dem Streit um die Dudaim. Als Rahel dann doch noch schwanger wird und Lea hört, wie Jaakob das Ungeborene »Dumuzi, echter Sohn« nennt, verliert sie sehr begreiflicherweise die Fassung, hat sie ihrem Mann doch »sechs echte Söhne und eine ebenfalls durchaus echte Tochter gebracht« (IV, 335). Sie ruft ihre vier ältesten Söhne herbei, »Söhne Jaakobs und Lea's, mit uns ist's aus«, und klagt ihnen ihr Leid: »Es ist wie ein Messer in meine Brust und wie ein Backenstreich in mein Antlitz« (IV, 335). Tief gekränkt wird sie Zeuge, wieviel Aufhebens um die schwangere Rahel gemacht wird, während nach ihren »rüstigen Schwangerschaften niemals ein Hahn gekräht hatte« (IV, 336).

Auch der Erzähler fragt schon bald nicht mehr viel nach ihr und hat nur noch Augen für Jaakobs »Dumuzi«: Wie Leas Leben weiterging, wann und wie sie starb, wird nicht erzählt. Nur am Ende des Romans kann man erfahren, dass sie im Erbbegräbnis Machpelach begraben liegt und dass Jaakob zuletzt nicht bei der am Wegesrand begrabenen Rahel, sondern bei Lea liegen will, denn »es schickt sich nicht, daß ich am Wege liege, sondern bei seinen Vätern will Jaakob liegen und bei Lea, seinem ersten Weibe, von der der Erbe kam« (V, 1778).

Leas »Blödgesichtigkeit« muss den in den »Brunnen der Vergangenheit« gefahrenen Erzähler so beeindruckt haben, dass er über ihre Augen- und Haarfarbe widersprechende Auskünfte gibt. Ob sie mit »grüngrauen« (IV, 237) oder »blauen Augen« (IV, 286) schielte und ob ihr zu einem schweren Knoten gebundenes Haar aschfarben (IV, 237) oder blond (IV, 286) war, wird uns daher auf immer verschlossen bleiben.

Auf die Frage Julius Babs, warum er Leas im weiteren Verlauf der Geschichte nicht mehr gedenke, antwortete Thomas Mann in einem Brief an Bab vom 25.3.1934: »Tatsächlich liegt dem Schreiben über Lea eine Art von künstlerischer Absicht zugrunde; sie soll ganz einfach in Vergessenheit geraten. [...] Ich hatte das Gefühl, daß die Erzählung sich über diese ›Unrechte‹, nachdem sie ihre Rolle ausgespielt hat, [...] in Schweigen hüllen und über ihr unbeträchtlich gewordenes weiteres Schicksal hinweggehen könne. Von ihrem Tode zu berichten, war rein erzählerisch keine Neigung vorhanden«; auch hätte ein »kalter Bericht über Leas Tod mit dem Bericht über Rahels Hinscheiden vielleicht liebloser kontrastiert [...], als das vollkommene Schweigen« (Selbstkommentare, 91 f.).

Letzte Änderung: 25.02.2015  |  Seitenanfang / Lexikon   |  pfeil Zurück