Vitzewitz, Lewin von
Sohn von Berndt von Vitzewitz, Bruder von Renate von Vitzewitz, enger Freund seines ›Vetters‹ Tubal von Ladalinski, Student der Rechte in Berlin (vgl. III, 6/88), wo er bei Frau Hulen in der Klosterstraße zur Untermiete wohnt, ein »hochaufgeschossener, junger Mann von leichter, vornehmer Haltung« (I, 1/8) mit ovalem Kopf und »Augen, aus denen Phantasie, Klugheit und Treue sprachen« (I, 3/28).
Da er schon im vierten Jahr studiert, hört er nur noch einige Vorlesungen, darunter bei Savigny, Thaer und Fichte, und beschäftigt sich in der übrigen Zeit überwiegend mit seiner Liebhaberei, der schönen Literatur. Er ist Anhänger der »romantischen Schule«, seine Lieblingsbücher sind Shakespeare und Percy’s Balladensammlung. Gelegentlich schreibt er auch selbst, aber, wie er meint, »ohne wirklich dichterischen Beruf« (III, 6/89). Die literarische Vereinigung ›Kastalia‹, die sich in regelmäßigen Abständen trifft, ist seine Gründung (vgl. III, 7/95). Er schätzt den von Jürgaß in die ›Kastalia‹ eingeführten Hansen-Grell sehr und steht Dr. Faulstich, der seinen Freund Tubal zu beeindrucken weiß, eher reserviert gegenüber.
Dass Marie Kniehase, mit der er wie mit einer Schwester aufgewachsen ist, ihn liebt, bemerkt er lange Zeit nicht, und bezieht auch die Verse, die er bei seiner Heimfahrt zum Weihnachtsfest 1812 auf einer Grabplatte in der Bohlsdorfer Kirche liest und die ihn tief beeinrucken, nicht (wie der Erzähler) auf Marie, sondern auf Kathinka von Ladalinski (vgl. I, 1/14). Denn der »Familienplan« seiner Tante Amelie, die ihn mit Kathinka (und deren Bruder Tubal mit Renate) verheiratet sehen möchte (vgl. II, 4/191), entspricht ganz seinem Herzenswunsch, er liebt Kathinka, ahnt aber, dass ihre Wege sich trennen werden (vgl. II, 19/348 f., 359). Als er sie auf der Soirée ihres Vaters mit Graf Bninski die Mazurka tanzen sieht, fühlt er die »wirkliche Ueberlegenheit seines Nebenbuhlers«: »Alles was er sah, war Kraft, Grazie, Leidenschaft; was bedeutete daneben sein gutes Herz?« Er kommt sich »matt, nüchtern und langweilig« vor, und eine abschätzige Geste der Gräfin Reale scheint ihm dieses Urteil »untersiegeln zu wollen« (III, 5/79). Niedergeschlagen besucht er auf dem Heimweg mitten in der Nacht das Grab der Johanna Susemihl, von deren Schicksal Frau Hulen ihm erzählt hatte.
Am Tag darauf gibt Kathinka ihrem Vater unzweideutige Auskunft: Sie habe Lewin lieb, aber sie liebe ihn nicht: »Alles an ihm ist Phantasie; er träumt mehr als er handelt.« (III, 8/121) Dennoch gibt sie ihm in den darauffolgenden Tagen zu verstehen, dass sie feuriger umworben zu werden wünscht (vgl. III, 13/172), und bietet ihm auf der Rückfahrt von Lehnin dazu sehr eindeutige Gelegenheit. Aber Lewin bleibt zurückhaltend, Scheu ist »sein angeboren Erbtheil« (III, 15/208). Beim Aussteigen sagt sie ihm: »Du bist ein Kind.« (III, 15/209) Er missdeutet ihr Verhalten und glaubt wieder »an die Möglichkeit meines Glücks« (III, 17/219). Am Abend desselben Tages, an dem er dies an Renate schreibt, empfängt er die Nachricht von Kathinkas Flucht mit Bninski (vgl. III, 18/229). Er wandert zur Stadt hinaus und bricht kurz hinter Dalwitz zusammen. Ein Knecht aus der Gegend findet ihn und bringt ihn zum Bohlsdorfer Krug, wo er, umsorgt von der Krügersfrau, Renate und Tante Schorlemmer, tagelang schläft. Als er, genesen, sein Krankenzimmer verlässt, fühlt er, »daß ein Leben hinter ihm versank und ein anderes begann« (IV, 4/269).
Napoleongegner wie sein Vater, hat er doch für den von Berndt geplanten Überfall auf französische Soldaten wenig übrig. Die »spanische Kriegsführung« sei ihm verhasst, er sei für »offenen Kampf« (I, 4/39). In dieser Ansicht befestigt ihn der beklagenswerte Anblick von aus Russland heimkehrenden französischen Soldaten, der sich ihm Anfang Januar am Stadtrand von Berlin bietet (vgl. III, 12/164-166). Aus Mitleid folgt er dem zerrissenen Haufen in die Stadt und ist einigen Offizieren bei der Quartiersuche behilflich. Die nach Yorks Kapitulation bei Tauroggen und nach dem ›Aufruf‹ der preußischen Regierung Anfang Februar deutlich veränderte Stimmung im Land verändert auch seine Haltung zu den väterlichen Plänen. Er nimmt am Sturm auf Frankfurt teil und wird bei dem Versuch, Othegraven zu befreien, gefangengesetzt und nach Küstrin gebracht (vgl. IV, 20/428).
In der Nacht vor seiner Befreiung träumt er von seiner Hochzeit mit Marie, und als er nach Hohen-Vietz zurückkehrt, bedeutet »das in Jubel und Tränen ausbrechende Wiedersehen zwischen Lewin und Marie auch zugleich ihr Verlöbnis«, ein Verlöbnis, »wie Menschenaugen kein schöneres gesehen. Denn es war nur gekommen, was kommen sollte; das Natürliche, das von Uranfang an Bestimmte hatte sich vollzogen« (IV, 24/459 f.). Renate hält die beiden allerdings für ein merkwürdiges Brautpaar: »Ihr seid ja nicht einmal zärtlich.« Und Lewin erklärt: »Wir waren zu lange Geschwister. Aber es findet sich wohl noch. Was meinst du, Marie?« (IV, 27/492) Einige Tage später brechen Lewin und Hirschfeldt nach Breslau auf, um sich für den bevorstehenden Befreiungskrieg rekrutieren zu lassen (vgl. IV, 27/488).
Wie es mit ihm weitergeht, erfährt man am Ende des Romans »Aus Renatens Tagebuch«: Lewin kommt heil, nur mit einer Stirnnarbe von einem Säbelhieb aus dem Krieg zurück. Seine Hochzeit mit Marie findet auf seinen Wunsch in Bohlsdorf statt, »wo sich sein Leben entschieden habe«, und Pastor Seidentopfs Hochzeitspredigt dreht sich um die Zeile, die er am Weihnachtsabend 1812 auf dem Grabstein der Bohlsdorfer Kirche gelesen hatte: »Und kann auf Sternen gehen« (IV, 28/495 f.). Das Paar lebt auf Schloss Guse; bei Pastor Seidentopfs Tod haben sie schon mehr als drei Kinder (vgl. IV, 28/496). Nach Berndts Tod übernimmt Lewin Hohen-Vietz, und Renate geht in das adelige Damenstift Lindow (vgl. IV, 28/497 f.).