Brüshaver, Wilhelm
Pastor in Jerichow von 1932-1938 und von 1945-1955. Nachfolger von Methling an der Petrikirche. In zweiter Ehe verheiratet mit Agathe (Aggie) Brüshaver. Im Ersten Weltkrieg bei der Kriegsmarine. Wird seit 1936 bespitzelt (vgl. 805). Weil er Lisbeth Cresspahl im November 1938 mit christlichen Zeremonien bestattet, wie sie die Evangelische Landeskirche Mecklenburg Selbstmördern verweigert, und in seiner Predigt am Sonntag vor der Beerdigung von einem »Opfer« für ein von den Nazis erschossenes Kind spricht, wird er zu Zuchthaus und anschließender »Schutzhaft« in einem KZ verurteilt. Kehrt 1945 nach Jerichow zurück und nimmt seinen Dienst als Pastor wieder auf, nachdem sein Amt zwischenzeitlich von dem regimetreuen Kollegen Wallschläger versehen worden ist. Stirbt 1955.
244 »Wenn man Papenbrock fragte, war dieser Brüshaver lasch. Er bot der Stadt nicht die Unterhaltung, in der Pastor Methling zuverlässig gewesen war.« Sein Äußeres: »ein Vierziger mit schon krummem Gang, schmal in den Schultern, einen kleinen viereckigen Bart im Gesicht, der seinen Blick so träumen ließ, daß sein prompter Gegengruß dann doch verblüffend kam. Es war enttäuschend zu sehen, wie er in den Hausfluren den Talar aus der Tasche nahm und sich umzog wie für eine Reparatur oder eine Arbeit, nicht für einen unfaßlichen Akt. Allerdings hieß es, Sterben bei ihm sei angenehm.«
297-299 Cresspahls Wahrnehmung, als er im März 1933 seine Tochter Gesine zur Taufe anmeldet: »Brüshaver war ein breiter untersetzter Kerl, der nicht kräftig aussah. Er hatte ein Fleisch am Leibe, das war nicht fett, nicht speckig, sogar saß es ihm fest an, es war nur so sichtbar. Die Hände lagen so weich auf der Schreibplatte. Die Backen hingen ihm nicht im Gesicht, das Kinn war nicht mehr als rund, und doch war er prall von Fleisch. Es war so wenig bewegt, es hatte nicht gearbeitet. Trauriges Fleisch.«
424-425 Weltkriegsteilnehmer. Lernte seine zweite Frau Aggie im Rostocker Krankenhaus kennen, wo seine Schulterverletzung aus dem Ersten Weltkrieg nachoperiert wurde. »Die Leute hörten zu, wenn Brüshaver predigte in seiner ernsthaften, vernünftigen, langweiligen Art und fanden es ganz angebracht, daß der Mann nach dem Judenboykott auf die christliche Pflicht zur Nächstenliebe hinwies, denn das war ja der Beruf von dem Mann, dazu war er da und dafür bezog er sein Geld.«
426 Verliest im Januar 1934 die »Erklärung von Niemöllers Pfarrernotbund« im Gottesdienst: »man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen; das war ein Ton, der dieser Tochter von Louise Papenbrock [Lisbeth Cresspahl] unter die Haut ging«. Er wird verwarnt, weil er nicht aus dem Pfarrernotbund austritt.
471 In Jerichow wird gemutmaßt, dass Brüshaver »nichts dabei« findet, dass sein Sohn aus erster Ehe »als Pilot in der Luftwaffe jenes Österreichers diente, der die Kirche kassieren wollte. Brüshaver erkundigte sich ja wohl nach dem Stand der Arbeiten in Jerichow Nord, weil er seinen Sohn dahin versetzt haben wollte, womöglich als Kommandant.«
497 Sein Sohn aus erster Ehe ist im Spanischen Bürgerkrieg eingesetzt.
562 Er »hat den Sohn aus erster Ehe in einem verlöteten Kasten aus Spanien zurückbekommen«.
643-646 Brüshaver überhört indirekte Hinweise auf Lisbeth Cresspahls Selbstmordgedanken. – Seine Predigten arbeitet er jetzt schriftlich aus, denn in seiner Gemeinde »saß zumindest einer, der seine Sätze nicht für sich aufnahm, sondern für andere aufschrieb«. Er bekommt Besuch von der Gestapo und redet sich heraus. »Er wäre gern mutig gewesen, tapfer geblieben. Aber er hatte noch nicht verwunden, daß er den Sarg seines Sohnes nicht hatte öffnen dürfen. Die Überführung der Leiche auf den Friedhof von Lalendorf, wo die erste Frau begraben lag, war ihm verboten worden«. – Über sein Verhältnis zu Martin Niemöller. – Er sucht Bibelstellen für Lisbeth Cresspahl zusammen, die belegen sollen, dass Selbstmord ein »Abfall von Gott« ist. Aber er schläft darüber ein, und später ist die Sache vergessen. »Hätte Lisbeth erfahren, daß es diesen Zaun gab, sie hätte vielleicht nicht daran gedacht, ihn zu übersteigen.«
703 Lässt zu Friedrich Jansens Ärger bei der Einweihungsfeier für Jerichow Nord im Oktober 1938 nicht läuten.
753-755 Cresspahls Besuch am 10. November 1938 nach Lisbeth Cresspahls Selbstmord in der Nacht vorher: Brüshaver schlägt ihm den darauffolgenden Sonntag (13. November 1938) als Beerdigungstag vor, aber »Cresspahl sagte: Montag, um drei. Brüshaver hatte an eine Leichenfeier in der Kirche gedacht, und Cresspahl sagte: In die Kirche muss sie nicht.« Aber Cresspahl bringt ihm eine aus der Bibel ausgerissene Seite mit dem 39. Psalm mit, die er zur Grundlage seiner Totenrede machen soll.
755-756 Setzt sich noch an demselben Tag an die Predigt für den kommenden Sonntag: »Aggie wollte, daß Lisbeth in die Sonntagspredigt kam. Das war gegen alle Gewohnheit und Vorschrift. Wenn sie unter der Erde war, am Sonntag danach konnte sie im Gemeindegottesdienst genannt werden.« Dennoch folgt Brüshaver dem Wunsch seiner Frau und arbeitet für den Sonntag vor Lisbeths Beerdigung eine Straf- und Mahnpredigt aus.
756-757 Geht am selben Tag (Donnerstag, 10. November 1938) zu den Tannebaums, um ihnen für die in der vorhergehenden Nacht von der SA getötete Tochter Marie »ein Begräbnis (ein ›stilles‹) auf seinem Friedhof« anzubieten, aber die Tannebaums lehnen ab: »Sie is nu gestorben wie ne Jüdin; so soll sie denn ne jüdische Beerdigung kriegen.«
757-758 Fährt am Donnerstagabend nach Gneez, um noch einmal mit Cresspahl zu sprechen, der in Wilhelm Böttchers Werkstatt den Sarg für seine Frau tischlert.
759-761 In seiner Predigt am Sonntag nach Lisbeth Papenbrocks Selbstmord, am 13. November 1938, spricht er von dem »Opfer«, das Lisbeth angeboten habe »für ein anderes Leben, den Mord an sich selbst für den Mord an einem Kind« (an Marie Tannebaum) und erinnert an die anderen Opfer der Nazis (Voss, Methfessel, den eigenen Sohn).
761-768 Bei Lisbeth Cresspahls Beerdigung am Montag, 14. November 1938, liest er den – von Heinrich Cresspahl zusammengestrichenen – Psalm 39 und verrichtet liturgische Handlungen, die die Evangelische Landeskirche Mecklenburg Selbstmördern verweigert. »Nun hatte er es nicht nur mit der weltlichen Obrigkeit verdorben, sondern auch noch mit der Kirche«. – »Sie holten Brüshaver in der Nacht, vier Stunden vor Morgen«.
805 Bei den Verhören steht Brüshaver zu seinen Äußerungen und weist seinen Vernehmern die Bibelstellen dafür wie auch für frühere Äußerungen nach, »die ein aufmerksames Mitglied seiner Gemeinde seit 1936 mitgeschrieben hatte«. Er wird zu Zuchthaus und anschließender »Schutzhaft« im Konzentrationslager verurteilt. Die Kirchenleitung steht ihm nicht bei, weil er die Vorschriften für die Beerdigung von Selbstmördern verletzt hat: »Er war im Amt nicht nur suspendiert; die Behörde war sich für eine Exmission nicht zu gut gewesen«.
Seine Frau Aggie bemerkt bald, daß auch »die Jerichower es lästig fanden, auf die Dauer zu ihr und Brüshaver zu halten«. Sie kommt der von der Gestapo betriebenen Ausweisung aus dem Pastorat zuvor, zieht mit ihren Kindern nach Rostock um und arbeitet wieder als Krankenschwester im Rostocker Krankenhaus. Die gemeinsamen Kinder Martin, Mathias und Marlene kommen bei einem Luftangriff auf Rostock ums Leben (vgl. 880).
998-999 Brüshaver kommt 1945 »nach drei Tagen Fußmarsch« aus dem Konzentrationslager nach Jerichow zurück und nimmt schon bald darauf seinen Dienst als Pastor wieder auf.
1065 Stadtkommandant K. A. Pontij besucht seinen Gottesdienst, dirigiert die Gemeinde beim Singen, besucht ihn kurz darauf im Pastorat, und statt des von Brüshaver erwarteten Verbots der Gottesdienste lässt er sich von ihm die Liturgie erklären.
1280 Im Sommer 1946 werden Pastor Brüshaver, Leslie Danzmann, Peter Wulff, Dr. Kliefoth und Frau Uhren-Ahlreep für einige Stunden festgenommen und verhört. Der Zweck dieser Aktion bleibt undeutlich. Eine der Fragen, die ihnen gestellt werden, deutet darauf hin, dass die Sowjets Cresspahl in einen Zusammenhang mit Waffengeschäften des Geheimrats Hähn in den zwanziger Jahren bringen möchten.
1357 Stadtkommandant K.A.Pontij ist mit dem Pastor einigermaßen zufrieden, obwohl er »nicht allgemein Buße predigte für die deutschen Verbrechen im Krieg, auch in dem, was er ›das Soziale‹ nannte, Parteipolitik glaubte er unvereinbar mit geistlichem Amt, es genügte ja auch sein Aufruf zu ›ehrlichem Neubesinnen‹«.
1400 Sein Aussehen im Jahr 1946: »Er war nicht mager vom letztjährigen Hunger, die Lager der Nazis schienen ihn am ganzen Leibe umgebaut zu haben in eine Fassung von zierlicher Dürftigkeit, die Hosen und Jacken von 1937 schlotterten auch von seinen vorsichtigen, fast steifen Bewegungen«. Vom Herbst 1946 an grüßt Gesine Cresspahl ihn nicht mehr, weil sie ihn der Mitschuld an der Verhaftung ihres Vaters verdächtigt (vgl. 1597).
1526 Nach Cresspahls Rückkehr aus sowjetischer Haft im Mai 1948 grüßt Gesine den Pastor auf Geheiß ihres Vaters wieder. »Brüshaver blieb fast der Mund offen, als Cresspahls Tochter ihn als erste grüßte, und gehorsam.«
1596-1597 »Die Kommunisten in der Regierung« haben ihm, wie Aggie bei Cresspahls erzählt, den Posten »eines Staatssekretärs für Kirchenfragen in der Landeshauptstadt« angeboten, aber Brüshaver habe auf ihr Zureden hin abgelehnt eingedenk des Umstandes, dass die ›Genossen‹ ihn immer wieder abgewiesen haben, »wenn er wieder und abermals vorsprach in der Sache von Gemeindegliedern, die verschwunden waren und wegblieben nach dem Belieben der sowjetischen Freunde«. Bei dieser Gelegenheit bekommt Gesine Cresspahl rote Ohren vor Scham, weil sie Brüshaver zugetraut hatte, an der Verhaftung ihres Vaters mitschuldig zu sein. – Auch mit der Kirchenleitung verdirbt Brüshaver es sich erneut, indem er dem einstigen Nazi Herbert Vick eine »Beisetzung nach kirchlichem Ritus« verweigert.
1599 Die Durchführung des von der Verfassung der DDR zugestandenen Religionsunterrichts wird ihm erschwert: Er steht mit seinen ›Mündeln‹ »vor einer verschlossenen Tür in der Schulstraße«.
1600 »Brüshaver war nun drei Jahre lang aufgetreten ohne Zähne, die waren ihm ausgeschlagen zu Sachsenhausen; endlich redet ihm Aggie sein Mißtrauen gegen ›deutsche Ärzte‹ aus, er erschien mit gelblichen Kunststoffgebilden im Munde und kaute lange leer wie ein Mensch, dem schmeckt etwas schlecht«.
1601-1603 Er hält seinen Konfirmandenunterricht im Sommer im Freien, »auf einer Wiese im Gräfinnenwald«, versucht erfolglos, einen Raum für den Unterricht zu bekommen, bis Jakob ihm schließlich einen Werkstattwagen der Reichsbahn beschafft. Seine Behinderungen und Krankheiten nach sechs Jahren in Konzentrationslagern nimmt die Konfirmandin Gesine Cresspahl wahr, kann aber seinen christlichen Botschaften nicht glauben und bricht den Unterricht ein zweites Mal ab.
1604-1605 Im Frühjahr 1949 haben Brüshavers noch ein Kind: Alexander. Taufpaten sind Frau Abs und die Konfirmandin Anita Gantlik.
1612 Anita, für die eigentlich die Dompfarrei Gneez zuständig ist, geht in Jerichow zu Brüshavers Konfirmandenunterricht, weil der Dompfarrer gegen Bischof Dibelius hetzt. Brüshaver dagegen »wollte es noch einmal versuchen mit seinem Martin Niemöller, im Rat der E.K.i.D., Unterzeichner der Schulderklärung von Stuttgart und Verfasser der Meinung, sämtliche Besatzungsmächte sollten abziehen aus Restdeutschland und es durch die Vereinten Nationen am Frieden halten«.
1620 Im Herbst 1955: »Vadding Brüshaver is dot«.
Anhang XIV Auf die Frage, warum er Brüshaver nicht zu seinen Freunden zähle, antwortet Cresspahl (1949): Er »begreife wohl, daß der Mann sich nicht nur Lisbeth zuliebe ans Gericht geliefert habe, auch aus eigenen Gründen; dennoch könne er dessen Unbefangenheit nicht erwidern. Er sei so weit nicht.«
Vgl. auch 239. 262. 316-317. 319. 364. 427. 526. 559. 578-579. 712. 782. 806. 807. 808. 813. 1044-1045. 1117. 1119. 1172. 1186. 1235. 1243. 1357. 1370-1371. 1456. 1605. 1619. 1632. 1656.
Der Sonntag nach Lisbeth Cresspahls Tod, an dem Brüshaver seine Strafpredigt hält (760-761), ist der 13. November 1938. Dem entspricht auch die Aussage, dass es ein »Eintopfsonntag« war (759): Im November 1938 fiel der monatliche »Eintopfsonntag« des Winterhilfswerks auf den 13.11. (vgl. z.B. die Pommersche Zeitung vom 11. November 1938, S. 15). Am Tag darauf, am 14. November 1938, findet Lisbeths Beerdigung statt (vgl. 762).