Cresspahl, Gesine Lisbeth
Hauptfigur des Romans, geboren am 3. März 1933 in Jerichow, Mecklenburg. Tochter von Heinrich Cresspahl und Lisbeth, geb. Papenbrock, die schon im November 1938 stirbt. Mutter von Marie Cresspahl. Ihr gehört das vom Großvater Albert Papenbrock ererbte Haus am Ziegeleiweg in Jerichow, in dem sie aufwächst. Schule in Jerichow und Gneez. Freundschaften mit Pius Pagenkopf, Anita Gantlik und Dieter Lockenwitz. Abitur 1952 an der Fritz Reuter-Oberschule in Gneez. Beginnt 1952 ein Anglistikstudium in Halle. Bleibt nach dem 17. Juni 1953 in Westberlin. Ausbildung zur Diplomdolmetscherin in Westdeutschland. Danach lebt sie in Düsseldorf, arbeitet beim Amt für Manöverschäden der NATO in Mönchen-Gladbach. Heimlicher Besuch beim Vater in Jerichow während des Ungarn-Aufstands im Oktober 1956. Läßt sich im Bankwesen ausbilden, als sie ein Kind von Jakob Abs erwartet, der im November 1956 stirbt. Die Tochter Marie wird am 21. Juli 1957 in Düsseldorf geboren. Geht am 28. April 1961 mit Marie für ihre Bank in die USA zu weiterer Ausbildung. Wohnung: Apartment 204, 243 Riverside Drive, New York. Nachdem ihr die Bank im Dezember 1961 gekündigt hat, findet sie 1962 eine Anstellung in einem anderen Geldinstitut, ihr Chef ist Vizepräsident de Rosny. Seit 1962 Freundschaft mit D.E., der am 4. August 1968 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommt. Beginnt im August 1967, ihrer Tochter Marie die Geschichte ihrer Familie seit etwa 1920 zu erzählen bzw. Teile davon, für die Marie ihr noch zu klein erscheint, auf Tonband zu sprechen. Gleichzeitig geht sie einen Vertrag mit dem Autor des Romans, dem ›Genossen Schriftsteller‹, ein, der ihm erlaubt, alles, was sich zwischen dem 20. August 1967 und dem 20. August 1968 in ihrem Leben ereignet, aufzuschreiben. Für ihre New Yorker Bank macht sie sich mit Marie am 20. August 1968 auf den Weg nach Prag, wo sie während eines auf drei Monate geplanten Aufenthaltes ein Kreditgeschäft vermitteln soll. An diesem Tag endet der Vertrag mit dem ›Genossen Schriftsteller‹. Die Niederschlagung des ›Prager Frühlings‹ durch den Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts in der Nacht zum 21. August 1968 ist deshalb nicht mehr Gegenstand des Romans, sondern nur im Bewusstsein des Lesers gegenwärtig.
8 Am 20. August 1967 schreibt Gesine Cresspahl einen Brief an die Gemeindeverwaltung des Ostseebades Rande in Mecklenburg mit der Bitte um Auskunft, »wie viele Sommergäste jüdischen Glaubens vor dem Jahr 1933 in Rande gezählt wurden«. Die Antwort erfolgt am 24.11.1967 (vgl. 382-385).
9 Sie erinnert sich an die Ferien mit den Paepckes in Althagen auf dem Fischland im Sommer 1942.
12 »Sie ist jetzt vierunddreißig Jahre. Ihr Kind ist fast zehn Jahre alt. Sie lebt seit sechs Jahren in New York. In dieser Bank arbeitet sie seit 1964 [recte: 1962, vgl. 1879].« Sie hat fast schwarze, kurz geschnittene Haare. »Sie trägt die Sonnenbrille nie in die Haare geschoben.« Zur Arbeit fährt sie mit der U-Bahn.
13 Sie wohnt am Riverside Drive in drei Zimmern, »unterhalb der Baumspitzen. Das Innenlicht ist grün gestochen. Im Süden sieht sie neben dichten Blattwolken die Laternen auf der Brücke, dahinter die Lichter der Schnellstraße.«
13-14 An »allen Arbeitstagen um zehn Minuten nach acht« kauft sie an einem Zeitungsstand auf dem Broadway, an der Südwestecke der 96. Straße, ihre Zeitung und »bringt immer die passende Münze«. Sie »kauft keine Zeitung als die New York Times«. Sie ist »mit der New York Times zu Gange und zu Hause wie mit einer Person, und das Gefühl beim Studium des großen grauen Konvoluts ist die Anwesenheit von Jemand, ein Gespräch mit Jemand, dem sie zuhört und antwortet mit der Höflichkeit, dem verhohlenen Zweifel, der verborgenen Grimasse, dem verzeihenden Lächeln und solchen Gesten, die sie heutzutage einer Tante erweisen würde, einer allgemeinen, nicht verwandten, ausgedachten: ihrem Begriff von einer Tante.«
19-21 Die Ankunft in New York im Frühjahr 1961. Damals »sollte es für zwei Jahre sein«. Über Maries stummen Protest gegen den Umzug und die mühsame Wohnungssuche.
22-25 Inzwischen ist Marie längst integriert, New York ist ihre Stadt geworden, ihr Englisch ist dem ihrer Mutter überlegen, Deutsch eine fremde Sprache. Marie sagt: »Nach zwei Jahren wollte meine Mutter zurück nach Deutschland, und ich habe gesagt: Wir bleiben.«
26-28 Gesine »wäre kaum geblieben, hätte sie nicht [...] die schmale Anzeige gefunden, die drei Zimmer am Riverside Drive versprach, ›alle mit Blick auf den Hudson‹, zu haben auf ein Jahr für 124 Dollar im Monat«. Sie befindet sich in einem »Haus aus gelben Steinen, um dessen Fuß ein Band exotischer Stiermuster geschlungen« ist. – Beschreibung der Wohnung. Die Vormieterinnen sind zwei Stewardessen, die Dänin Ingrid Bøtersen und die Schweizerin Françoise Bertoux, die nach Europa versetzt werden.
34-36 Beschreibung der Bank, in der Gesine Cresspahl arbeitet.
37 Am Abend des 30. August 1967 findet Gesine in der Küche einen Zettel von Marie vor, auf dem das Kind sie unter anderem fragt, ob sie »diesen Griem in Jerichow« gekannt habe, – erster Hinweis darauf, dass die in fast täglichen Rückblenden entfaltete Erzählung der Familiengeschichte sich zu guten Teilen auf Erzählungen Gesines für Marie stützt oder auch unmittelbar als (intradiegetischer) Erzählakt der Hauptfigur vollzieht (wie etwa 72 f., 128-131 u.ö.).
40-44 Über Gesines Freund Dietrich Erichson, genannt D.E., der am Freitag, 1. September 1967, zu einem Wochenendbesuch nach New York kommt.
45 Über Gesine Cresspahls erste Begegnung mit Mrs. Ferwalter. – Gesine führt Gespräche mit ihren Toten.
52-54 Beschreibung des Riverside Drive.
54-56 Beschreibung der einzelnen Stockwerke der Bank. Gesine Cresspahls Arbeitsplatz liegt im zehnten Stock, den sie aber auch in Gedanken den elften nennt, »nach der amerikanischen Zählung«. Ihre Kollegen nennen sie »Dschi-sain«.
60-61 Ihr Arbeitsplatz in der Bank im September 1967: »Neben ihrer Zelle ist ein Schild aus braunem Kunststoff angebracht, auswechselbar in einer Schiene, mit dem Namen ›Miss Cresspahl‹ in weißer Einprägung. Die Zelle mißt dreieinhalb mal drei Meter, ist mit Teppichboden ausgelegt, versehen mit einem Stahlschrank, Schreibtisch, dem Maschinenbock, Tonbandgerät, Telefon, fahrbarem Sessel, Ablagedecks, Besucherstuhl«.
62-65 In einer »skandinavischen Sandwichbude an der Zweiten Avenue« (Gustafssons Imbiss), im Beisein von Mr. Shuldiner, erinnert Gesine sich an das Jahr 1937 und daran, wie sie in die Regentonne gefallen ist: »Wenn da eine Katze innen am Küchenfenster lag, bin ich auf einen umgestülpten Eimer gestiegen und von da auf die Regentonne. Wenn auf der Tonne der Deckel fehlte, war meine Mutter in der Nähe. Wenn Cresspahl mich herauszog, hat sie zugesehen. Was soll ich dagegen tun!«
72 Verbringt den Sonntag, 10. September 1967, mit Marie »auf Staten Island, in Tottenville, später auf der Uferpromenade der Midland Beach«.
78-82, 84-85 Wird am Dienstag, 12. September 1967, von Arthur, dem Fahrer von de Rosny, abgeholt und zum »Flughafen Kennedy« gefahren: »es wird dort ein Brief zu übersetzen sein«. Sie begleitet de Rosny in die Waldorf Astoria Towers, übersetzt ihm einen Brief aus Prag, »Überstunden mit Cocktails«.
82-84 Gesine stellt ihre Uhren »um fünf Minuten vor, um einer Verspätung im Büro vorzubeugen«. Sie mag dieses »Jonglieren mit der erfundenen Zeit« nicht aufgeben. »Sie kann sich auf sonst nichts verlassen. Sie läßt sich aufziehen von Mrs. Williams mit der teutonischen Tugend der Promptheit, sie läßt D.E. schwafeln von traumatischen Schulstrafen für Verspätung«; verdient »achttausend Dollar im Jahr«; Kündigungsfrist 14 Tage.
90-93 »Sonnabend ist der Tag der South Ferry. Der Tag der South Ferry gilt als wahrgenommen, wenn Marie mittags die Abfahrt zur Battery ankündigt.« Am Sonnabend, 16. September 1967, tut sie es.
111-115 Auch der darauffolgende Sonnabend ist ein Tag der South Ferry, und Gesine erzählt Marie unterwegs von der Hochzeit ihrer Eltern im Oktober 1931.
134-137 Am 2. Oktober 1967 lädt Dmitri Weiszand Gesine und Marie Cresspahl zu einem Essen in das tschechische Restaurant U Svatého Václava (Zum heiligen Wenzel) ein.
137-140 Am 3. Oktober 1967 bekommt Gesine die jährliche Rechnung für die Pflege der Gräber in Jerichow von Emmy Creutz.
143-145 In ihrer »Phonopost« an D.E. vom 5. Oktober 1967 spricht Gesine auch über ihre Erzählungen für Marie: »Marie besteht darauf, daß ich ihr weiter erzähle wie es gewesen sein mag, als Großmutter den Großvater nahm. Ihre Fragen machen meine Vorstellungen genauer, und ihr Zuhören sieht aufmerksam aus. [...] So verbringen wir einige Abende.« – Absenderadresse: »Apartment 204, 243 Riverside Drive, New York, N.Y., Telefon 212-749 28 57«.
150-157 Am 7. Oktober 1967 fahren Gesine und Marie Cresspahl für ein Wochenende zu Annie Fleury und ihrer Familie nach Vermont. Unterwegs äußert Marie den Wunsch, die Mutter möge ihr alles, was sie erst später wird verstehen können, auf ein Tonband sprechen. Gesine: »Für wenn ich tot bin?« Marie: »Ja. Für wenn du tot bist.«
160-162 Bekommt am 10. Oktober 1967 eine Gehaltserhöhung und lädt ihre Kollegen zu einem Bourbon ein.
173-176 Über »unsere Heimat an der Oberen Westseite von Manhattan«.
187-190 Gesine Cresspahl schreibt am 18. Oktober 1967 einen Brief an Anita Gantlik: Sie schickt ihr für eine Fluchthilfeaktion in Berlin den Pass von Henri R. Faure.
201-206 Erzählt Marie von dem Tag ihrer Geburt am »Freitag den dritten März 1933«.
206-210 Am 22. Oktober 1967 führt Gesine Cresspahl ein imaginäres Streitgespräch mit ihren Toten über die Frage, warum sie am Vortag nicht an einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg in Washington teilgenommen hat: »Und es genügt dir, daß du die Vorfälle bei den gestrigen Demonstrationen hier und in der Welt erfährst aus der Zeitung? Damit läßt sich leben, statt mit Anwesenheit, Mitmachen, Eingreifen, Aktion?« Gesine wehrt sich: »Es ist was mir übriggeblieben ist: Bescheid zu lernen. Wenigstens mit Kenntnis zu leben«.
211-213 Am darauffolgenden Tag mag sie nicht reden und versucht, den Tag schweigend zu verbringen.
218-221 Sie spricht mit Marie über die »Sorgen«, die Marie mit dem einzigen schwarzen Kind ihrer Klasse, Francine, hat. Während des Gesprächs läuft ein Tonband.
216-217 Wie Gesine Cresspahl zu ihrem Vornamen kam. Sie führt ein imaginäres Gespräch mit Heinrich Cresspahls Jugendliebe Gesine Redebrecht.
226-229 Sie liest am 27. Oktober 1967 in der New York Times über ein an der Universität Princeton durchgeführtes Experiment, das der Funktionsweise des Gedächtnisses galt und zu dem Ergebnis gekommen ist, dass Menschen dazu neigen, »Dinge zu vergessen, die mit unangenehmen Erfahrungen zu tun haben«. Gesine diskutiert darüber mit einem ungenannten Gegenüber (dem Genossen Schriftsteller?).
230-235 Am Tag darauf will sie das Princetoner Experiment an sich selbst wiederholen, dazu soll ihr der Genosse Schriftsteller zehn Wörter nennen. Die Wörter, die er ihr gibt, »Plisch, Plum, Schmulchen, Schievelbeiner, Roosevelt, Churchill, bolschewistisch, Weltjudentum, Untermenschen, Intelligenzbestie«, lösen in ihr Erinnerungen an die Judenverfolgungen, vor allem aber die Erinnerung an ein Foto von Bergen-Belsen aus, das sie kurz nach dem Krieg in einer Zeitung gesehen hatte und dessen schockierende Wirkung seither nicht aufgehört hat.
»Das Schockmittel war eine Fotografie, die die Briten im Konzentrationslager Bergen-Belsen gemacht hatten und abdruckten in der Zeitung, die sie nach dem Krieg in Lübeck laufen ließen. Die Wirkung hat bis heute nicht aufgehört. Betroffen war die eigene Person: ich bin das Kind eines Vaters, der von der planmäßigen Ermordung der Juden gewußt hat. Betroffen war die eigene Gruppe, die eine andere Gruppe abgeschlachtet hat in zu großer Zahl (einem Kind wäre schon ein einziges Opfer als Anblick zuviel gewesen). Der Schock kann nachgewiesen werden an der Verkrüppelung von Reaktionen: Die Studentin Cresspahl 1952 in Halle ertrug die Vorlesungen eines Professors Ertzenberger, solange sie aus ihrem Gedächtnis wegdachte, daß er einer der überlebenden Juden war. (Inzwischen erschienen die Juden in der deutschen Sprache zuverlässig in der Mehrzahl.) Sie schaltete das Vertrauen zur ostdeutschen Republik ab, nur weil die Anstalten machte, Stalins Ärzteprozesse vom Januar 1953 zu übernehmen, und so ein ungefähres antifaschistisches Versprechen brach. Die Touristin Cresspahl belästigte die Leute jeden Auslands mit miserablem Französisch, auch wenn die Deutschen da gar nicht des Menschenraubs oder Geiselmords überführt waren. Die Auswanderin Cresspahl trat vorsichtig und rasch weg und zurück aus einer Imbiß-Stube am Union Square in New York, als sie die Sprache der Wirtsleute erkannte als Jiddisch. Da ist ein Schock nachzuweisen.«
246 Über die Vorbereitungen der Taufe im März 1933: Cresspahl bestellt die Taufe seiner Tochter bei Aggie Brüshaver für Sonntag, den 12. März 1933. Später verlegt er sie auf den 19. März (vgl. S. 297).
250 Über das Geschenk, das Gesines Großvater Albert Papenbrock seiner Enkeltochter kurz nach ihrer Geburt macht: »Er übertrug ihr einen Bauernhof am Stadtrand, mit Land, Scheune und Nebengebäuden, bis zu ihrer Mündigkeit zu verwalten von ihrem Vater Heinrich Cresspahl, Kunsttischler, Richmond, Greater London.«
253-257 Gesine erinnert sich an den Auftritt des ›Genossen Schriftsteller‹ bei einer Vortragsveranstaltung des Jewish American Congress am 16. Januar 1967 in New York und gerät mit ihm in ein imaginäres Streitgespräch. »Wer erzählt hier eigentlich, Gesine. / Wir beide. Das hörst du doch, Johnson.«
263-266 Gesine und Marie Cresspahl halten auf dem Broadway, der 79. Straße und im Riverside Park vergebens Ausschau nach Marjorie. Über den Beginn der Bekanntschaft mit ihr.
268-272 Am 7. und 8. November besuchen Gesine und Marie Cresspahl D.E. und seine Mutter, Frau Erichson, in New Jersey.
273-275 Über Gesines Haus am »Friedhofsweg oder Ziegeleiweg« in Jerichow 1933: Cresspahl nimmt es nach seiner Rückkehr von der Beerdigung seiner Mutter im März 1933 erstmals in Augenschein.
282-286 Am 11. November 1967 treffen Gesine und Marie Cresspahl Karsch zu einem Essen im Restaurant der Vereinten Nationen in New York. – »Das gibt es nicht, daß man einem noch nach Jahren traut, ohne Frage, ohne Prüfung, in ganz verdachtloser Freude des Wiedersehens. Das gibt es.« – Nach dem Essen bekundet Marie, dass sie ihn hasse.
286-287 Am Tag darauf, Lisbeth Cresspahls Geburtstag, hält Gesine in einem inneren Monolog die »jährliche Rede« auf den Freitod ihrer Mutter. »Du wolltest nicht alle kränken. Ihn hast du gekränkt. Du hast mich gekränkt. Ein Kind. Wir verzeihen dir gar nicht.«
297-298 Gesine Cresspahls Taufspruch ist Psalm 71, Vers 6, den Marie auf Englisch hören will: »By thee have I been holden up from the womb: thou art he that took me out of my mother's bowels: my praise shall be continually of thee.«
296-300 Marie möchte, dass Gesine ihr die Geschichte ihrer Taufe im März 1933 und Cresspahls Entschluss, nach Deutschland zurückzukehren, anders erzählt.
301-302 Am 16. November 1967 sucht Gesine Cresspahl erstmals Prof. Kreslil auf, bei dem sie Tschechisch lernen möchte.
311-315 Gesine Cresspahl wird am 18. November 1967 zu Maries Lehrerin Sister Magdalena zitiert: Marie hatte »Bugs Bunny for President« an die Tafel geschrieben.
316-321 Über Gesines Taufe »nach dem Gottesdienst in der Petrikirche zu Jerichow am 19. März 1933«. Einer ihrer Taufpaten ist Dr. Semig.
321-330 Am 19. November 1967 wird Karsch in New York entführt. Gesine und Marie Cresspahl treiben mit D.E.'s Hilfe das Lösegeld auf, übergeben es in Newark und bringen den befreiten Karsch zum Busbahnhof in Manhattan. Am nächsten Tag meldet er sich telefonisch aus London. Der Leiter der italienischen UN-Delegation, Dr. Pompa, ersetzt Gesine die Lösegeldsumme.
331-335 Gesine und Marie Cresspahl erinnern sich an ihren Besuch in Richmond mit D.E. Anfang der sechziger Jahre.
335-342 Reflexionen über das Reisen und Leben mit D.E.
383-385 Gesine Cresspahl bekommt am 24. November 1967 Antwort vom Gemeindevorstand des Seebads Rande auf ihre Anfrage vom 20. August 1967, die »Anzahl der jüdischen Kurgäste in den Jahren vor 1933« betreffend. Der Gemeindevorstand identifiziert sie als die Besitzerin des Grundstücks Ziegeleiweg 3-4 in Jerichow und teilt ihr mit, dass sie »nach wie vor dort polizeilich gemeldet sei«.
385-388 Gesine spricht zum ersten Mal Erinnerungen für Marie auf Tonband »für wenn ich tot bin«, wie Marie es sich gewünscht hatte (vgl. 151).
389-392 Am 30. November 1967 führt Gesine eines ihrer Totengespräche mit ihrem Vater. Sie hadert mit ihm, weil er 1933 nach Deutschland zurückgekehrt ist. Er repliziert mit der Frage, warum sie denn im kriegführenden Amerika lebt. – An diesem Tag mag sie Marie nichts von früher erzählen.
393 Karsch schickt einen Blankoscheck »für was eine neue Telefonnummer kostet«. Gesine liest die Druckfahnen seines Artikels über seinen Aufenthalt in den USA und seine Erfahrungen mit der Mafia in New England.
406-409 In der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1967 träumt Gesine ihren Tod: »Gestern habe ich das Sterben versucht.«
419-423 Gesine erzählt Marie auf Tonband von ihrem Tag (8. Dezember 1967). »Aber in Deutschland möchte ich nicht noch ein Mal leben.«
439-443 Am 12. Dezember 1967 ist Francine erstmals zu Besuch bei Marie. Sie hat Angst vor Gesine.
449-453 Gesine Cresspahl schreibt an Anita Gantlik (14. Dezember 1967): Die Fluchthilfe für den jungen Juden aus der DDR mit Hilfe des Passes von Henri R. Faure ist geglückt (vgl. 188). Die alten Faures glauben, »wir hätten das für die Judenheit getan und grüßen schon von ferne«. – Gesine bedauert, dass Anita ihre alte Berliner Wohnung verloren hat. »Ich mochte an ihr, daß sie drei Ausgänge hatte, getreu der Vorschrift des Dichters« (vgl. Bertolt Brecht: »Herr K. in einer fremden Behausung«). – Das Weihnachtsfest steht Gesine bevor: »Weihnachten kann ich nicht aushalten.«
454-459 Marie will den Wahrheitsgehalt von Gesines Erzählungen prüfen: »Erzähl mal was über das Kind Gesine, als es zwei Jahre alt war!« Gesine erzählt: Das Kind Gesine begann spät zu sprechen. Von ihrer Tante Hilde Paepcke bekam sie 1939 »Pu, der Bär« geschenkt. Sie ging gern mit ihrem Vater spazieren. »Mit ihm ging sie Holz kaufen, Steuern bezahlen, zum Friseur, zu Wulff. Wulff seinen Krug hatte Cresspahl ihr erklärt als ein Apfelsaftgeschäft [...]. Das Kind ging gern in Apfelsaftgeschäfte, und kannte sie alle in Jerichow. Lisbeth merkte das eines Vormittags beim Einkaufen, als das Kind sie in den Lübecker Hof ziehen wollte. [...] Lisbeth mußte sie durch die ganze Stadt nach Hause tragen, und das Kind schrie bis hinter Cresspahls Tür, und so kamen Lisbeths Fähigkeiten als Mutter zum ersten Mal in Jerichow ins Gerede. Das Kind war mit seinem Vater zugange, [...] immer, überall«.
460-466 Am 16. Dezember 1967 sind Gesine und Marie Cresspahl in de Rosnys Haus am Long Island-Sund eingeladen. Es geht um das tschechoslowakische Projekt. Das Gespräch vor dem Essen ist »eine rasante, unbarmherzige Prüfung [...], ob ich das Finanzsystem der Č.S.S.R. richtig und vollständig verstanden habe«. Es ist nachgerade ein Verhör. »Das kann er machen, er ist der Arbeitgeber, er legt da Geld an mit einem Risiko [...]. Er will schlicht alles wissen, was ich der Personalabteilung nicht mitgeteilt habe, und es geht von den Berufsgenossenschaften bis zu meinen heutigen Gefühlen für die Grundzüge der marxistischen Dialektik.« Gesine hat offenbar »die passenden Kenntnisse und das passende Leben für den Fischzug, den unser verehrter Chef de Rosny auf dem osteuropäischen Kreditmarkt vorhat«. – »De Rosny wünscht seinen Fischzug diskret anzufangen. Daß ich Tschechisch lerne, soll mir einen Ferienaufenthalt in Prag erleichtern, und wenn ich noch einmal gefragt werde nach der Haltung der Bank zu Krediten an Länder Osteuropas, so lautet die geschicktere Auskunft: Die Politik des Unternehmens in dieser Richtung ist als nicht aggressiv zu bezeichnen, wiederhole: nicht aggressiv«. – Zum Abschied schenkt er Marie eine italienische Weihnachtsschnitzerei.
475-478 Am 19. Dezember 1967 ist in New York laues Wetter und alle sind besonders freundlich zu Mrs. Cresspahl.
494 Marie beschwert sich über Gesines moralische Forderungen: »Ich soll nicht lügen, weil du nicht Lügen magst! Du wärst längst ohne Arbeit, und ich aus der Schule, wenn wir nicht lögen wie drei amerikanische Präsidenten hintereinander! Du hast deinen Krieg nicht aufgehalten, nun soll ich es für dich tun!«
499-503 Am 23. Dezember 1967 schreibt Gesine einen Brief an Dr. Kliefoth und erzählt ihm von Marie und darüber, wie sie in New York Weihnachten feiern. Sie bittet ihn, auf dem Jerichower Friedhof nachzusehen, »ob Creutzens meine drei Gräber abgedeckt haben«.
513-519 Gesine Cresspahls Verhältnis zu ihrer Zeitung »New York Times«.
533-537 D.E. verbringt den Jahreswechsel 1967/1968 bei Marie und Gesine Cresspahl.
537-540 Am Neujahrstag 1968 schenkt Marie ihrer Mutter eine Miniatur des Jerichower Hauses am Ziegeleiweg.
559-563 Während eines Winterspaziergangs in Hoboken am 7. Januar 1968 sagt Marie Cresspahl ihre Meinung über die »Leute« aus Jerichow und Umgebung während der NS-Zeit, von denen Gesine ihr erzählt.
564-567 Am 8. Januar 1968 kommt Annie Fleury mit ihren drei Kindern nach New York und quartiert sich bei Gesine und Marie ein. Sie will ihren Mann verlassen »wegen Viet Nam«.
572-576 Gesine soll Mr. Shuldiner beraten bei der Wahl einer Wohnung für sich und seine künftige Frau.
580-592 Das Leben mit Annie Fleury und ihren Kindern in der Cresspahlschen Wohnung. – In einem Gespräch mit ihren Toten bekommt Gesine die Freundin als Vorbild vorgehalten, weil Annie wenigstens »nicht nichts getan« hat gegen den Vietnam-Krieg.
613-619 Am 19. Januar 1968 erzählt Gesine ihrer Tochter die Regentonnengeschichte: Die Geschichte von Lisbeth Cresspahls Versuch, ihr Kind umzubringen, um sie vor »Schuld und Schuldigwerden« zu bewahren. Marie: »Das nächste Mal, Gesine, wenn du mir eine Geschichte nicht erzählen willst, tu es nicht.«
619-622 Gesine führt ein Streitgespräch mit ihren Toten über das tschechoslowakische Projekt. »Das als Arbeit, du wärst nicht nur angestellt zu ihr, sondern auch selbst dabei.«
640-642 Am 25. Januar 1968 reist Annie Fleury mit ihren Kindern nach Finnland ab.
658-662 Bei einem Treffen am 30. Januar 1968 versucht Mr. Weiszand, Gesine über das tschechoslowakische Projekt auszufragen; Gesine gibt ihm die von de Rosny vorformulierte Antwort (vgl. 466).
670-673 Beim Schwimmen im Mediterranean Swimming Club im Hotel Marseille debattieren Gesine und Marie Cresspahl in den Schwimmpausen über die Verlässlichkeit von Gesines Erzählungen. Gesine beruft sich auf die »Katze Erinnerung«.
673-674 Marie möchte wissen, wie ihr Großvater Heinrich Cresspahl aussah.
679-683 Am 5. Februar 1968 hat Gesine ein weiteres Gespräch über das tschechoslowakische Projekt mit Vizepräsident de Rosny in dessen Büro. Dabei stellt sie fest, dass er von Mr. Weiszands Versuchen, sie über dieses Projekt auszufragen, Kenntnis hat. Sie verwahrt sich dagegen, überwacht zu werden. Hat am Abend ein Telefongespräch mit D.E. über den Vorfall.
687-690 Am 7. Februar 1968 schreibt Gesine für Marie auf, was sie ihr »noch acht Jahre verschweigen möchte«: Es geht um den Fall des in Prag tot aufgefundenen Charles H. Jordan, zu dem die New York Times an demselben Tag berichtet hat, dass der mit der Autopsie des Leichnams beauftragte schweizerische Gerichtsmediziner Ernst Hardmeier »am 10. Dezember 1967 mehrere hundert Meter von seinem verschlossenen Wagen entfernt in einem verschneiten Wald bei Zürich erfroren aufgefunden« worden sei, »und hatte die Untersuchung nicht abgeschlossen«. – Der Umstand, dass die »Regierung der Sozialistischen Č.S.R. der amerikanischen einen Bericht über die Umstände eines ihrer Staatsbürger übergeben hat« und intensiv um Aufklärung des Todesfalls bemüht ist, macht ihr Hoffnung, dass in der Tschechoslowakei ein Sozialismus »mit einer in Kraft gesetzten Verfassung« beginnen könnte: »Dorogaja Marija, es könnte dennoch ein Anfang sein. Für den würde ich arbeiten, aus freien Stücken.«
692-695 Im Herbst 1938 bemerkte Cresspahl, dass Lisbeth die fünfjährige Gesine hungern ließ. »Nicht nur das Essen, auch das Vergnügen wollte sie dem Kind verweigern. Wenn sie das Kind vorerst nicht opfern durfte, so wollte sie ihm doch mit Leiden Gutes tun«.
698 Mr. Shuldiner zu Gesine: »Das ist es, was ich das Europäische an Ihnen nenne, Mrs. Cresspahl. Daß Sie so auf das Wort achten«.
705-710 Am 11. Februar 1968 nehmen Cresspahls Francine bei sich auf, nachdem ihre Mutter bei einer Messerstecherei verletzt worden ist. »Francine wollte der Wachtmeister nicht gern loswerden an weiße Leute. – Wissen Sie auch, was Sie da tun, Lady? sagte er.«
713-717 Am 13. Februar 1968 wird Gesine aus dem 10. oder (je nach Zählweise) 11. Stock der Bank, »Foreign Sales«, befördert und bekommt ein Büro im 16. Stock.
719-725 Am 14. Februar 1968 erzählt Gesine Marie von der Pogromnacht im November 1938 in Jerichow. Marie ahnt, dass nun wieder eine ›Wassertonnengeschichte‹ folgen wird (Lisbeth Cresspahls Tod): »Erzähl sie mir nicht, Gesine.«
730-734 Marie spricht mit ihrer Mutter über die Schwierigkeiten des Zusammenlebens mit Francine.
738-768 Am 18. Februar 1968 beginnt die Erzählung von Lisbeth Cresspahls Selbstmord im November 1938. Schon in der Nacht vorher bekommt Gesine hohes Fieber (vgl. 751). Sie imaginiert ein Gespräch zwischen Heinrich Cresspahl und Kriminalkommissar Vick am Tag nach Lisbeth Cresspahls Tod (738-744). – Marie holt ihren Kinderarzt Dr. Rydz zu Hilfe, den Gesine im Fieberwahn für Dr. Semig hält. D.E. schickt seine Mutter nach New York, um Gesine und Marie zu versorgen. – Die folgenden Tage, an denen von den Tagen bis zu Lisbeths Beerdigung erzählt wird, verbringt Gesine mit Fieberphantasien im Bett.
769-774 Am 23. Februar 1968 wird Francine von der Fürsorge abgeholt und zur Mutter gebracht.
776-780 Gesines Verhältnis zur englischen Sprache. – »Wo in den anderen Büros die Familienfotos und die Blumentöpfe stehen, hat sie einen schmalen Papierstreifen angebracht [...]. Darauf steht: ›The custard apple is the fruit of the sweet-sop‹. Er heißt nicht mehr als ›Die Flaschenbaumfrucht ist die Frucht des Flaschenbaums‹, aber sie versteht ihn nicht. [...] Sie begreift nicht, was diese Worte voneinander wissen, und der leichte abkippende Schwindel beim Anblick dieses Satzes warnt sie vor der Einbildung, sie könnte jemals auf der englischen Seite der Sprache leben. Damit soll sie morgen arbeiten gehen.«
784-788 Marie diskutiert mit Gesine über die Frage, wo Heinrich Cresspahl während seiner mysteriösen Abwesenheit zwischen dem 19. November und Ende Dezember 1938 gewesen sein könnte.
794-804 Gesine muss ihren Bekannten Rede und Antwort stehen zu dem Offenen Brief, den Hans Magnus Enzensberger an den Präsidenten der Wesleyan University geschrieben und in der »New York Review of Books« veröffentlicht hat (New York Review of Books vom 29.2.1968). Gesine geniert sich für ihren Landsmann. »Naomi, deswegen mag ich in Westdeutschland nicht leben.« Naomi: »Weil solche Leute dort Wind machen?« Gesine: »Ja, solche guten Leute.«
809-814 Gesine erzählt Marie von Heinrich Cresspahls Arbeit für die britische Abwehr während der NS-Zeit. Marie gefällt es nicht, sie hat Gesine im Verdacht, dass sie ihren Vater reinwaschen möchte.
814-818 Am 3. März 1968, ihrem Geburtstag, bekommt Gesine einen Brief von D.E.: »Du sollst nicht mich heiraten; du sollst mit mir leben«.
819-822 Aufgaben und Schwierigkeiten ihrer neuen Position in der Bank.
827-841 Cresspahl bringt die fünfjährige Gesine nach dem Tod ihrer Mutter zu den Paepckes nach Podejuch. In der ersten Nacht findet Alexander Paepcke sie nicht im Bett, sondern auf dem »Dachboden, wo sie im Dunkeln zwischen Koffern und Körben hockte, um in Ruhe weinen zu können« (830). – Sie bleibt mehr als ein halbes Jahr bei Paepckes in Pommern. »Bei Paepckes hatte ein Kind keine Pflichten, keine Beschwernis.« (836 f.) – »Bei Paepckes lernten die Kinder fühlen, wer sie waren.« (840) – Nach den Ferien mit den Paepckes in Althagen im Sommer 1939 holt Cresspahl sein Kind wieder nach Hause.
841-848 Gesine und Marie suchen in den Slums von New York nach Francine, die unauffindbar bleibt.
849-852 Am 10. März 1968 sind Gesine und Marie Cresspahl bei den O'Driscolls zur Besichtigung ihrer neuen Wohnung in Greenwich Village eingeladen. Am Abend gehen die Erwachsenen gemeinsam in einen Filmclub in Brooklyn, gezeigt wird u. a. »Nacht und Nebel« [von Alain Resnais]. – Gesine verlässt den Saal, holt Marie aus der O'Driscollschen Wohnung und fährt nach Hause. – »Es sind gute Freunde von mehreren Jahren. Sie sehen mich, und sie denken an die Verbrechen der Deutschen. Ohne die Absicht der Kränkung. Es ist ihnen selbstverständlich, natürlich. So verhält es sich.«
859-862 Marie und Gesine debattieren erneut über die Frage, ob Heinrich Cresspahl wirklich für die Britische Abwehr gearbeitet hat.
863-866 Gesine beantwortet D.E.'s Geburtstagsbrief (14. März 1968).
872-873 Gesine führt eines ihrer Totengespräche, ein Streitgespräch mit ihrem Vater über die Luftangriffe auf Lübeck (März 1942), Coventry und Birmingham.
873-878 Am 16. März 1968 ist Gesine Cresspahl auf einer Gesellschaft bei Gräfin Seydlitz, trifft dort Anselm Kristlein und Dr. Weiszand, der sich erstaunt zeigt, »ihr in diesem Abbild einer verrottenden Gesellschaft zu begegnen«. Sie verlässt die Gesellschaft frühzeitig.
879-886 Über Gesines Ferien mit den Paepckes und Klaus Niebuhr in Althagen im Sommer 1942.
887-889 Am 18. März 1968 spricht Gesine für Marie auf Tonband (»für wenn ich tot bin«) über ihren Umgang mit Bettlern in New York.
894 Gesine bekommt Post aus Westberlin: »Da sind Leute in Deutschland, die kümmern sich um meinen Anstand. Für die soll ich den Krieg in Viet Nam zu Ende bringen.«
895-900 Über Gesines Leben als Schülerin der Hermann Göring-Schule in Jerichow, die sie bis 1943 besucht. Über ihre Lehrer Franz Gefeller, Prrr Hallier, Olsching Lafrantz und Ottje Stoffregen und ihren Mitschüler Gabriel Manfras. Nachdem sie dem Direktor Gefeller wegen einer Ungerechtigkeit ihre Verachtung gezeigt hat, wollen Gefeller und Stoffregen sie in eine Sonderschule umschulen. Mit Dr. Kliefoths Hilfe wechselt sie im Herbst 1943 an das Gustav Adolf-Lyzeum in Gneez.
905-908 Gesine und D.E. in der Bar von Wes in der Dritten Avenue (23. März 1968). D.E. stellt sie als seine Frau vor.
913, 915-916 Über das tschechoslowakische Projekt.
923-927 Ein Donnerstagnachmittag bei Gesines Tschechisch-Lehrer Prof. Kreslil (28. März 1968).
928-932 Im Sommer 1943 verbringt Gesine einige Ferientage mit den Berliner Niebuhrs (Peter und Martha, und deren Kindern, Klaus und Günter) an der Ostsee, in Rerik (»Alt-Gaarz«). Die Ferien enden jäh durch einen Bombenangriff, bei dem Martha und Peter Niebuhr ums Leben kommen.
933-937 Über Gesines Leben als Fahrschülerin des Gustaf-Adolf-Lyzeums in Gneez seit dem Herbst 1943. Heinrich Cresspahl macht ihr jeden Morgen Schulbrote und bringt sie zum Bahnhof. Sie isst in Alma Wittes Hotel Stadt Hamburg zu Mittag, wo Elise Bock ihr das Stammessen serviert. Marie ist der Meinung, sie habe »gelebt wie ein Hund«. Gesine: »Ich hab es gut gehabt.« – Wenn es nicht die Trennung vom Vater bedeutet hätte, wäre Gesine gern, wie Hilde Paepcke 1943 in einem Brief an Cresspahl vorschlägt, mit Alexandra Paepcke in Stettin zur Schule gegangen: »Alexandra war mein liebstes Kind unter allen.« – Sie verhält sich abweisend gegen die Leute in Jerichow, »damit sie mir nicht über den Kopf strichen und mich arm nannten. Ich war kein armes Kind. Ich hatte ein Geheimnis ganz für mich allein, das war mein Vater«.
937-941 Gesine und Marie hören im Radio die Rede Präsident Lyndon B. Johnsons zum Vietnam-Krieg am 31. März 1968, in der er seinen Verzicht auf eine erneute Kandidatur für das Präsidentenamt ankündigt.
941-945 Am 1. April 1968 bekommt Gesine einen Brief von Leslie Danzmann aus Jerichow: »Ich hab sehr an dir gehangen, noch als du gar kein Kind mehr warst. Du warst doch das Kind von Lisbeth. Ich hätt dich wohl großziehen mögen; Cresspahl gab dich nicht ab.«
951-956 Über die letzten Ferien mit den Paepckes in Althagen im Sommer 1944. Die Kinder vermissen Alexander Paepcke, der nur eine Nacht bleiben kann, er hat einen Gestellungsbefehl nach Südfrankreich. »Es erwies sich, daß Ferien zu erfinden waren, hatte man sie einmal von Alexander gelernt.«
957-960 Am 5. April 1968 erfahren Gesine und Marie Cresspahl von der Ermordung Martin Luther Kings am 4. April 1968. Gesine versucht vergeblich, dem Hauswart Bill Shaks ihre Erschütterung glaubhaft zu machen. »Nichts wissen Sie. Sie sind nicht schwarz.«
961-962 Marie hat Kings Witwe Coretta King am Abend zuvor ein Beileidstelegramm in einem »impulsiven und unbeherrschten Ton« geschickt. Gesine möchte sich dafür mit einem Brief entschuldigen und der Witwe ihrerseits ihre Anteilnahme ausdrücken, findet aber keine Worte. Sie spricht darüber mit ihren Toten. Die sagen ihr: »In was für einem Land lebst du, aus freien Stücken? In einem Land, in dem Neger umgebracht werden. Was willst gerade du da schreiben.« Gesine: »Ja. Nichts. Nichts.«
970-973 Über den Tag der Beerdigung Martin Luther Kings (9. April 1968).
983-987 Über das Kriegsende im Mai 1945 in Jerichow. Die zwölfjährige Gesine übt mit den beiden französischen Kriegsgefangenen Albert und Maurice »das verbotene Lied« ein: »Es geht alles vorüber, / Es geht alles vorbei: / Im März geht der Hitler, / Im Mai / Die Partei –.« Die Briten machen Heinrich Cresspahl zum Bürgermeister. Marie fragt: »War Jakob schon da?« Gesine: »Ja.« Aber Marie möchte die Geschichte ihres Vaters noch nicht hören: »Nicht jetzt, Gesine.«
988-992 Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke (11.4.1968) und den darauffolgenden Demonstrationen in Berlin ruft Gesine Anita in Berlin an (14. April 1968). Die Freundinnen sprechen über die Studentenbewegung und »unsere Kinderwünsche. – Sozialismus etcetera«.
994-997 Im Sommer 1945 erkranken Gesine und die im Juli 1945 bei Cresspahls gestrandete Hanna Ohlerich aus Wendisch Burg an Typhus. Frau Abs, die im letzten Kriegswinter mit ihrem sechzehnjährigen Sohn Jakob aus Hinterpommern geflohen und Anfang 1945 ebenfalls bei Cresspahls untergekommen ist, pflegt beide Mädchen gesund.
997-998 Gesine über ihre erste Begegnung mit Jakob Abs 1945. »Er war fünf Jahre älter als ich. Er gehörte zu den Erwachsenen. Er hatte ein erwachsenes Gesicht, verschlossen, streng, eigensinnig.«
998-1003 Über die Übernahme der Besatzungsmacht in Mecklenburg durch die Sowjets im Juli 1945. Marie kann nicht verstehen, dass Cresspahl nicht in den Westen gegangen ist: »Gesine, er ließ dich bei den Sowjets!« Gesine: »Das war eine gute Schule, die möchte ich nicht entbehren. Und nach acht Jahren konnte ich gehen.«
1003-1007 Am 18. April 1968 lädt de Rosny Gesine und Marie Cresspahl zu einem Baseball-Spiel ins Shea Stadion ein.
1017-1028 Das Wochenende vom 20./21. April 1968 verbringen Gesine und Marie in einem Ferienhaus von Bekannten am Patton Lake. Beim Schwimmen im See möchte Marie wissen, in wievielen Seen ihre Mutter schon geschwommen ist. Gesine zählt sie auf. – Reflexionen über ihre Erziehung Maries.
1029-1034 Marie will wissen, welche Gründe die Jerichower bei der Übernahme der Besatzungsmacht durch die Rote Armee im Juli 1945 zum Gehen oder Bleiben hatten und ob es stimmt, dass die Russen als Sieger »nicht fair« gewesen seien. Die Toten setzen Gesine zu: »Sag es ihr, Gesine.«
1035-1040 Gesine Cresspahl fragt sich, wer sie ist (und war). Über ihre unsichere Identität und das Bild, das andere von ihr haben.
1048 Als Tochter des unter russischer Oberhoheit agierenden Bürgermeisters Cresspahl wird die zwölfjährige Gesine von den Jerichowern geschnitten.
1049-1058 Über die Geschichte der Bank, in der Gesine Cresspahl arbeitet, über de Rosnys Wirken in der Bank und eine Unterredung mit ihm über das tschechoslowakische Projekt am 25. April 1968.
1069-1075 Am 27. April 1968, dem Tag der Loyalty Day Parade, gehen Marie und Gesine Cresspahl zu einer Gegendemonstration am Central Park, einem Friedensmarsch, können sich aber nicht entschließen mitzumarschieren.
1080-1085 Über die kindliche Verliebtheit der zwölfjährigen Gesine in Jakob. Sie beobachtet ihn und seinen Schwarzhandel mit Leutnant Vassarion (›Wassergahn‹) von ihren Verstecken in den Ästen des Walnussbaums. Sie ist eifersüchtig auf Hanna Ohlerich, weil sie glaubt, Jakob würde Hanna vorziehen. »Neben einer solchen Hanna mußte man nachts liegen, und so breit das Bett war, der Abstand war nie groß genug.«
1085-1091 Gesine und Marie treffen D.E. zwischen zwei Flügen im Restaurant des Kennedy Airport (30. April 1968).
1092-1096 Marie und Gesine debattieren über die Studentenrevolte an der Columbia-University.
1097 Im Sommer 1945 verliert Gesine durch die Typhuserkrankung ihre Haare und trägt hartnäckig die Baskenmütze, die Maurice ihr vererbt hat. Um ihr über die Scham hinwegzuhelfen, lässt Jakob sich kahlscheren. »Er brauchte nichts zu sagen, sie begriff die Wette, das Kind das ich war, und nahm die Mütze ab.«
1106-1110 Marie stellt ihr Modell von Gesines Haus am Ziegeleiweg, das sie der Mutter am Neujahrstag geschenkt hat (vgl. 537-540), am 4. Mai 1968 beim Schulbasar aus und will es versteigern lassen. Gesine ist ihr nachgegangen: »Auf so ein Haus bieten wir nicht, das lassen wir stehen. Das Kind, allerdings, das nehmen wir mit [...] und fahren unverzüglich zum Hafen, wo die Fähre wartet.«
1110-1111 Die New York Times zitiert am 5.5.1968 einen Bericht aus Le Monde, wonach der sowjetische General Jepischew gesagt haben soll, die Rote Armee sei jederzeit für eine Intervention in der Tschechoslowakei bereit. Gesine Cresspahl hat darüber ein Streitgespräch mit ihren Toten, die ihr raten, aus dem tschechoslowakischen Projekt ihrer Bank auszusteigen.
1135-1138 Um ihre Tschechisch-Kenntnisse zu testen, besucht Gesine am 9. Mai 1968 in einem Kino an der 59. Straße die Nachmittagsvorstellung des tschechischen Films »The Fifth Horseman Is Fear« (ČSSR 1965, Regie: Zbyněk Brynych). Der Film, der von einem jüdischen Schicksal in dem von den Deutschen besetzten Prag erzählt, verstört sie. Sie versteht den (auf die vier apokalyptischen Reiter in Offenbarung 6, 1-8 anspielenden) Filmtitel nicht und sucht zu Hause vergeblich nach dessen Bedeutung (vgl. auch 1178-1179).
1156-1159 Am 13. Mai 1968 muß sie für de Rosny bei einer Aktionärsversammlung im 28. Stock der Bank Protokoll führen.
1178-1179 In einem Gespräch mit ihren Toten (und dem noch lebenden Kliefoth) bekommt Gesine Aufklärung über die Herkunft des Filmtitels »The Fifth Horseman Is Fear« (vgl. 1135-1138): Lisbeth Cresspahl, Aggie Brüshaver und Julius Kliefoth lesen ihr die acht Verse aus Offenbarung 6 vor und resümieren: Für die Tschechen »haben die Deutschen eigens einen fünften Reiter mitgebracht, die Angst«. Gesine fragt: »Darum soll ich nicht nach Prag?« Antwort: »Du kannst da nicht reden, nicht arbeiten, nicht leben. Gib es auf.«
1188-1191 Beschreibung des Riverside Park, auf den die Fenster der Cresspahlschen Wohnung gehen. »Hier leben wir.«
1192 Gesine über Frau Abs: »Sie hat mir das Essen gekocht und hat mir gezeigt wie man es machen muß mit dem Haar, sie hat mir geholfen in der Fremde. Ich weiß den Abend, an dem ich die Hände auf dem Rücken behielt, – Gesine: sagte sie, berührte leicht und höflich meine Schulter mit ihrer rauhen harten Hand; ich weiß ihr halblautes schleuniges Reden. Ich weiß ihr Gesicht; das ist lang und knochig und in den schmalen trockenen Augen schon sehr entlegen zum Alter hin, ich habe eine Mutter gehabt alle Zeit. Alle Zeit.«
1200-1203 Weil der Tabakhändler Don Mauro einen fünfzigjährigen Stadtstreicher und Bettler aus dem Laden wirft, möchte Gesine Cresspahl künftig darauf verzichten, bei ihm Zigaretten zu kaufen.
1207 Vom 1. Oktober 1945 an haben die Kinder in Mecklenburg wieder Schulunterricht. Gesine geht wieder ins Gustav Adolf-Lyzeum nach Gneez, kommt erst abends nach Hause. Weil ihr Vater nun Bürgermeister ist, hält der Eisenwarenhändler Heinz Wollenberg seine Tochter Lise dazu an, höflich zu Gesine zu sein.
1208 Am Abend des 22. Oktober 1945 wird Heinrich Cresspahl von den Sowjets verhaftet. Von diesem Tag an (bis zum Mai 1948) ist die zwölfjährige Gesine allein und ganz auf Frau Abs und Jakob angewiesen.
1210-1214 Am 23. Mai 1968 besucht Gesine einen Vortrag im Church Center: Dr. Laszlo Pinter, Mitglied der Ungarischen Delegation bei den Vereinten Nationen in New York, spricht als Gast der »Amerikanischen Gesellschaft für das Studium der Deutschen Demokratischen Republik« über »Die Abrüstung in Europa und die beiden deutschen Staaten«. Auf den Sammelteller am Ausgang legt Gesine einen Cent, »wünschend, er wäre rot«.
1214-1222 Gesine erzählt Marie über die Umstände von Cresspahls Verhaftung im Oktober 1945. Marie: »Mach Cresspahl unschuldig, Gesine. Wenn du ein wenig lügen könntest.«
1223-1226 Am Sonntag, 26. Mai 1968, zeigt Marie ihrer Mutter Staten Island: »Hier hast du Leben auf dem Lande, Mecklenburg, California; bleib hier, Gesine. Hier, sobald ich kann, kauf ich dir ein Haus.«
1244-1246, 1250-1251, 1255-1261 Ferienwochenende vom 30. Mai bis zum 2. Juni 1968 in einem Ferienhaus am Sund von Long Island mit Marie, Amanda Williams, Naomi und Clarissa Prince. Gesine fühlt sich hier heimisch: »Als ob wir nach Hause gekommen wären.« – Sie soll ihre »Kochkünste in schräges Licht setzen« und auf einem Herd von 1937 eine Ente für fünf Personen zubereiten: Die »beiden Damen lassen ihren Appetit am Strand von der Abendsonne bestrahlen« (1251). – Am Morgen des letzten Tages träumen die drei Frauen am Frühstückstisch davon, in diesem Haus als »Großfamilie« zu leben. Meinungsverschiedenheiten über die Organisation einer solchen Wohngemeinschaft und Gesines bevorstehende Pragreise stören das Gedankenspiel, und zuletzt sitzen die Drei stumm am Tisch, »von Freundlichkeit gerührt bis zu Feuchtigkeit in den Augenwinkeln, von Enttäuschung gereizt bis zur Wut«. Sie reisen früher als nötig nach New York zurück.
1246-1250 Erinnerungen an einen Ausflug mit Marie in die Holsteinische Schweiz im Jahr 1964.
1251-1254 Über den Schulunterricht im Gneezer Lyzeum 1946 und die Lehrerinnen Fifi und Charlotte Pagels. Bei Frau Dr. phil. Beese muss die Klasse »Versuche in der Namensforschung« betreiben, »die schlimmste Gelegenheit für den Spitznamen«. Frau Beese führt den Namen Cresspahl auf griechisch »grastis, ›Grünfutter‹, Althochdeutsch kresso, dazu falen, Ostfalen« zurück. »Hatte ich meinen Spitznamen. Grünfutter«.
1254-1255 Gesine über ihre Osterwasser-Geschichte (vgl. die Erzählung »Osterwasser« in »Karsch, und andere Prosa«, 7-17).
1262-1263 In der New York Times liest Gesine von der Sprengung der Universitätskirche in Leipzig am 30. Mai 1968 und von der Verabschiedung der Notstandsgesetze in Bonn an demselben Tag.
1265-1277 Über Gesines (von Eifersucht getrübtes) Verhältnis zu Hanna Ohlerich, beider Verliebtheit in Jakob und gemeinsame Eifersucht auf Jakobs Freundin Anne-Dörte. Die Mädchen verbringen ihre Sommerferien 1946 auf Johnny Schlegels Hof und helfen dort bei der Ernte. Gesine teilt mit Hanna Ohlerich ein (nicht mehr vollständiges) Care-Paket von dem Ingenieur in Berlin-Grunewald, an den Heinrich Cresspahl Dr. Semigs Schäferhund Rex verkauft hatte. Kurz nach den Ferien flieht Hanna mit Verwandten über die Ostsee in den Westen. Gesine ist es recht, sie kann noch Tage danach »in den Armen das Gefühl wiederkommen lassen, mit dem sie Hanna auf das andere Boot hinübergestoßen hatte«.
1298-1302 Am 5. Juni 1968 erreicht die Cresspahls die Nachricht vom Attentat auf Robert F. Kennedy, die Marie tief erschüttert. Sie leiht von ihrem Taschengeld ein Fernsehgerät. Die folgenden Tage sind beherrscht von Maries Trauer um ›ihren‹ Senator.
1317-1327 Am Wochenende vom 8./9. Juni 1968 kommt D.E. nach New York und verbringt mit Marie eine lange Nacht vor dem Fernseher mit der Übertragung der Trauerfeierlichkeiten für Robert F. Kennedy. Nachdem Marie schließlich erschöpft auf dem Sofa eingeschlafen ist, machen Gesine und D.E. einen Spaziergang im Riverside Park: »Richtig findet Mrs. Cresspahl vor dem Durchgang zur Promenade am Hudson eine gut zugewachsene Treppe, auf der sie sich Herrn Prof. Dr. Erichson an die Brust legen kann und ohne Unterbrechung weinen, Schicklichkeit hin, Anstand her. Manche streicheln einen dabei, regelmäßig über ein Schulterblatt abwärts, wie ein untröstliches Pferd; dieser hält einfach fest, sucht nicht mehr Berührung als gewünscht, spricht nicht.«
1327-1334 Gesine spricht mit D.E. über ihre Erzählungen für Marie. Sie macht sich Sorgen, dass Marie, die »ratlose Antikommunistin«, die Geschichte von Cresspahls Verhaftung und das Leben in der Sowjetischen Besatzungszone »in den falschen Hals« bekommt.
1341-1350 Einige Tage später möchte Marie von Gesine mehr über ›ihre‹ Sowjets und das Leben in »Sowjetmeeklenburg« wissen. Gesine erzählt ihr bei laufendem Tonband die Geschichte von Slata und Alma Wittes Verstörung nach Slatas Verhaftung im Hotel Stadt Hamburg in Gneez im Herbst 1945. Marie mutmaßt, dass Gesine viele »solche Geschichten« kennt und überzeugt ist, »daß ich etwas Falsches mit ihnen anfangen werde«. Gesine räumt ein, dass sie es befürchtet.
1350-1358 Gesine erzählt Marie von den vom Jerichower Stadtkommandanten Pontij beförderten Gründungen bürgerlicher Parteien im Herbst 1945, um ihr vorzuführen, »daß du dich gelegentlich irrst mit deiner gnadenlosen Unterdrückung durch die Sowjets«.
1374-1382 Marie möchte, dass Gesine ihr von einem erzählt, dem der Aufbau des Sozialismus in der Sowjetischen Besatzungszone »Spaß« gemacht hat: »Der das freiwillig tut. So einen. Der Bescheid weiß. Der glücklich ist damit. Einen mußt du doch wissen.« Gesine erzählt ihr an diesem Tag (18.6.1968) und den folgenden Tagen die Geschichte von Gerd Schumann.
1400-1405 Über das Leben in Cresspahls Haus, nachdem alle Flüchtlinge ausgezogen sind, weil die Wohnung eines als »Sowjetfeind« geltenden, ohne Prozess im Lager gehaltenen Mannes als unsicher gilt. – Seit Herbst 1946 grüßt Gesine Pastor Brüshaver nicht mehr, weil sie ihn für Cresspahls Inhaftierung mitverantwortlich glaubt. – Über ihre Beziehung zu Jakob, für den sie »unerfindlich« ist. Mit dem Weizen, den sie mit ihren Erntearbeiten auf Johnny Schlegels Hof im Sommer 1946 verdient hat, betreibt das »unbegreifliche Cresspahlkind« Schwarzmarkt-Geschäfte, die Jakob beunruhigen.
1422-1428 Am 26.6.1968 streitet Gesine Cresspahl mit dem ›Genossen Schriftsteller‹ darüber, wie sehr sie über Ginny Carpenter gelacht hat (vgl. auch Uwe Johnson und Gesine Cresspahl).
1428-1437 Vom 1. September 1946 an besucht Gesine Cresspahl die Brückenschule in Gneez. Wenn der Zug nach Jerichow nicht fährt, übernachtet sie bei Alma Witte im Hotel Stadt Hamburg.
1437-1447 Am 28. Juni 1968 erscheint das Manifest der »Zweitausend Worte«. Gesine Cresspahl besorgt sich den Text mit Hilfe von Signora Sabatino, der Sekretärin der italienischen Delegation der Vereinten Nationen in New York. »Dann hat sie die Bank um einen ganzen Arbeitstag betrogen; da hätte selbst unser Vizepräsident de Rosny vergebens gefragt, was solch tschechische Schrift denn zu tun hat mit einer Reise nach Prag. [...] Wenn ihr wissen wollt, was an Sozialismus möglich ist zu unseren Zeiten, lernt Tschechisch, Leute!«
1447-1449 Im Herbst 1946 bekommt Gesine bei Rawehn, »ff. Damen- und Herrenmoden« in Gneez, einen Wintermantel geschneidert, den sie mit ihrem bei Johnny Schlegel verdienten Weizen bezahlt. »Das Kind war unglücklich mit dem Mantel«, weil Helene Rawehn ihre Wünsche hinsichtlich Schnitt, Länge, Knopfleiste und Kragen ignoriert. – Über Gesines Leben ohne den Vater. Über ihre Einstellung zur Schule und die Lehrer. In einer Englischstunde lässt Frau Dr. Weidling sie in Gegenwart eines Hospitanten ein englisches Gedicht mit einer »schädlichen, [...] systemreformistischen Botschaft« (»Recuerdo« von Edna St. Vincent Millay) rezitieren in dem Englisch, das sie von Heinrich Cresspahl seit 1943 gelernt hat. Als Gesine bemerkt, dass der Hospitant ein Russe ist, fürchtet sie, ihrem von den Sowjets internierten Vater geschadet zu haben.
1456-1463 Im Frühjahr 1947 schickt Frau Abs Gesine in den Konfirmandenunterricht und in die Tanzstunde. Den Konfirmandenunterricht bricht sie schon nach zwei Stunden ab, die Tanzstunde im Hotel Sonne in Gneez besucht sie »aus Gehorsamkeit gegen Frau Abs«. Sie und Lise Wollenberg werden von den Jungen »die Helle und die Dunkle aus Jerichow« genannt. – Beschreibung des Unterrichts von Herrn Knaak (mit Anleihen bei Thomas Manns »Tonio Kröger«).
1463 Seit der Verhaftung ihres Vaters im Oktober 1945 verhält Gesine sich gegen Leslie Danzmann, Jugendfreundin ihrer Mutter und Sekretärin ihres Vaters während dessen Zeit als Bürgermeister, abweisend. »Die war freigelassen worden, ihr Vater nicht. Die hatte ihr keine Nachricht gebracht von ihm. Die konnte ihn auch verraten haben.«
1463-1473 Arbeitsessen im Restaurant der Direktion »hoch oben im Östlichen Turm der Bank« mit de Rosny und leitenden Angestellten der Bank (Wendell, Gelliston, Kennicott, Milo) am 1. Juli 1968. Der Erzähler beschreibt Gesines äußere Erscheinung: »die versteckt Angst, nicht ungeschickt. Die ist auf der Hut, die wird sich wehren; erscheinen aber möchte sie als höflich, liebenswürdig, damenhaft.« – Gesine »wünscht sich weg«. – Sie fürchtet sich vor dem Abschied von New York.
1474-1481 Am 2. Juli 1968 blättert Gesine in dem Tagebuch, das sie als Vierzehnjährige im Frühjahr 1947 zu schreiben begonnen hat. Darin ist von einigen ihrer Lehrer (Bettina Riepschläger, Dr. Kramritz, Fräulein Pohl), von ihren Schwierigkeiten mit dem Wort »Antifaschismus«, von Alexandra Paepcke und von ihrem als NS-Kriegsverbrecher gesuchten Onkel Robert Papenbrock die Rede, der im Frühjahr 1947 unverhofft am Ziegeleiweg auftaucht und den Gesine mit Jakobs Hilfe aus dem Haus wirft.
1488-1496 Im Sommer 1947 reißt Gesine von zu Hause aus und fährt allein nach Althagen. Das Haus der Paepckes ist von Fremden bewohnt. Sie geht ein paar Katen weiter zu Ille, beide »erschraken vor einander fürchterlich«. Ille nimmt sie auf und lässt sie bei sich arbeiten »für Tisch und Bett«. Für Gesine ist es der letzte Aufenthalt auf dem Fischland. Die Erinnerung an die Paepckes und die Ferientage mit ihnen stellt sich ihr nicht mehr her. Dennoch steht für sie fest: »Das Fischland ist das schönste Land auf der Welt. Das sage ich, die ich aufgewachsen bin an einer nördlichen Küste der Ostsee, wo anders. Wer ganz oben auf dem Fischland gestanden hat, kennt die Farbe des Boddens und die Farbe des Meeres, beide jeden Tag sich nicht gleich und untereinander nicht. Der Wind springt das Hohe Ufer an und streift beständig über das Land. Der Wind bringt den Geruch des Meeres überallhin. Da habe ich die Sonne vor mir untergehen sehen, oft, und erinnere mich an drei Male, zwar unbeholfen an das letzte. Jetzt sackt das schmutzige Gold gleich ab in den Hudson.«
1510-1516 Im Mai 1948 wird Heinrich Cresspahl aus Fünfeichen entlassen und landet zuerst auf Johnny Schlegels Hof, wo er fast den ganzen Tag lang in einem Wassertrog badet, während Axel Ohr seine verlauste Häftlingskleidung verbrennt. Mittags holt Axel Ohr Gesine vom Schulzug ab und bringt sie zu ihrem Vater, abends fährt er beide nach Hause nach Jerichow.
1516-1522 Am 9. Juli 1968 mutet de Rosny seiner Angestellten Cresspahl – in Vorbereitung ihrer Reise nach Prag – eine Befragung durch den »Lügendetektor« zu. – Der Mann hinter dem Gerät teilt ihr mit de Rosnys Erlaubnis vertraulich mit: »Sie sind zu 90 Prozent wahrheitsgetreu.«
1522-1528 Marie ist froh, dass Gesine ihren Vater nun erzählend von den Russen »zurückgeholt« hat. Gesine spricht von der schwierigen ersten Zeit mit dem körperlich und seelisch von der Haft gezeichneten Vater.
1528-1537 Die Lehrerinnen der Gneezer Brückenschule wundern sich über den »Umschlag aus einem verdüsterten in ein offenes, ja zutrauliches Wesen«, den sie an Gesine seit der Heimkehr ihres Vaters beobachten. Gesine »fühlte sich bloß aufgewacht. Unverhofft war das Drucksen vor Entschlüssen weg, das Getane richtig von Anfang an.« – Über die Auswirkungen der Währungsreform im Juni 1948. – Gesine wird die Versetzung zur Oberschule erteilt.
1537-1541 Das ČSSR-Projekt wird konkret: Gesine soll am 20. August 1968 nach Prag fliegen, wo sie am 21. August einen Termin in der Obchodný Banka hat. – Statt sich mit Kursen und Wirtschaftsdaten zu befassen, schreibt sie am 12. Juli 1968 einen Brief an einen Professor in Deutschland (Alexander Mitscherlich) und fragt ihn, »ob sie sich für psychisch gestört halten soll«, weil sie Stimmen höre und sich mit ihren Toten unterhalten könne. »Ich will es nicht. Dennoch gelange ich (manchmal fast vollständig) zurück in vergangene Situationen und spreche mit den Personen von damals wie damals. Das ereignet sich in meinem Kopf, ohne daß ich steuere. Auch verstorbene Personen sprechen mit mir wie in meiner Gegenwart. [...] Die Toten verfolgen mich nicht, meistens kann ich mich mit ihnen einigen in solchen eingebildeten Gesprächen. Nur, ist das eingebildet? Ich spreche auch mit Verstorbenen, die ich nur vom Sehen kenne [...]. Ist dies eine Krankheit?« Die Antwort kommt am 17. August 1968 (vgl. 1856 f.). – Ihre Schrift: »große ungebrochen runde scharf unten ausfahrende Züge, was einer mal eine Tulpenschrift genannt hat. [...] wenn man Tulpen denken kann, es sind solche an kurzem Stil, aufrecht stehend.«
1541-1549 Am 13. Juli 1968 schreibt Gesine einen Brief an Anita Gantlik über ihre Beziehung zu D.E. und das zeitweilige Zusammenleben mit ihm. »Hier haben wir jemand, der sieht davon ab, uns zu verändern.«
1551-1555 Im Juli 1948 arbeitet Gesine noch einmal als Erntehelferin auf Johnny Schlegels Hof. Auf Johnnys Radio in der Küche steht die Verlobungsanzeige von Jakobs ehemaliger Freundin Anne-Dörte, die nach Holstein gegangen ist. Gesine glaubt nun zu wissen, »wie es ist mit der Liebe« und warum Jakob in diesem Sommer kein einziges Mal auf dem Schlegelhof zu Besuch kommt: »Mit der Liebe war es demnach ein Unglück.« – Heinrich Cresspahl spielt mit dem Gedanken, Gesine in ein Internat nach England zu schicken. Er nimmt ihre Abwehr mit einem bloßen Nicken hin, das sie erschreckt. »Nun hätte ich gern noch einen Tag Bedenkzeit gehabt.«
1556-1560 Im Herbst 1948 wechselt Gesine zur Fritz Reuter-Oberschule in Gneez. Über ihr gespanntes Verhältnis zu ihrer Mitschülerin Lise Wollenberg, mit der sie an einem Tisch sitzt. »Ihr war wohl bewußt, wie hübsch das aussah, wenn sie ihre langen blonden Locken schwenkte neben einer, die ihre dunklen Zöpfe ruhig halten will«. Nach den Weihnachtsferien setzt Gesine sich von ihr weg und teilt einen Tisch mit Pius Pagenkopf (vgl. 1573 ff.).
1561-1566 Bei einer Ehrung von Angestellten der Bank wird auch Gesine ausgezeichnet, erhält einen Scheck über achthundert Dollar und die silberne Medaille des Präsidenten. Sie ärgert sich über die verlogene Zeremonie, will die Medaille einer Bettlerin geben, aber Marie überredet sie, daraus einen Ring für D.E. machen zu lassen.
1573-1578 Im Januar 1949 beginnt die »Arbeitsgemeinschaft« Cresspahl-Pagenkopf in der Klasse Neun A Zwei an der Fritz Reuter-Oberschule: Gesine und Pius Pagenkopf wechseln mitten im Schuljahr ihren Platz im Klassenzimmer und setzen sich zusammen an einen Tisch »in der hintersten Ecke des Raums, schwer einzusehen vom Platz des Lehrers aus«. Dr. Kliefoth, zu dieser Zeit Direktor der Schule, duldet den eigentlich nicht erlaubten Platzwechsel mitten im Schuljahr. In der Klasse gelten Gesine und Pius schon bald als Liebespaar. – Cresspahl möchte seiner Tochter das Rauchen untersagen, »die versteckt ihre brennende Rauchware in der hohlen Hand«.
1584-1585 Das Wochenende vom 20./21. Juli 1968 verbringen die Cresspahls mit D.E., der die jüngsten Nachrichten über Waffenfunde in der Tschechoslowakei als möglichen Legitimationsgrund für eine Intervention des Warschauer Pakts in der ČSSR deutet. »Es saß aber eine am Tisch, die soll in vier Wochen reisen in jene Gegend, die will sie etwas weniger dunkel gemalen haben.«
1585-1590 Zarah Leanders Schlager »Kann denn Liebe Sünde sein?« wird in der Neun A Zwei von Januar 1949 an »getrommelt und gepfiffen auf die Tochter Cresspahls und Pius Pagenkopf. Wir waren Das Paar.« Die gekränkte Lise Wollenberg bemerkt gehässig, »bei so einem Vater sei die Cresspahl ja klug beraten, sich an die neue Herrschaft zu hängen.« – Über Pius' und Gesines Gemeinschaft: Er tritt ihrem Schwimmverein S.V. Forelle bei, sie seiner FDJ und der »Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft«. Er wird zu Beginn der 10. Klasse (1949/50) Vorsitzender der FDJ-Klassengruppe, Gesine seine Stellvertreterin. – Gemeinsames Schwimmen im Gneezer Stadtsee: Sie sind »die, die trockneten sich an einem Handtuch ab, das Paar«. – Beide melden sich im Frühjahr 1950 auf Betreiben von Herrn Pagenkopf zu Aufräumarbeiten auf dem Bahnhof Gneez. – »Er hatte mir vom Typhustod seiner älteren Schwester erzählt, ich ihm von Alexandra Paepcke«. Wir haben gewiß sagen dürfen: Wir wissen etwas von einander.« – Gemeinsame Ausflüge und Ferien. Aber »Das Paar« vermeidet Berührungen: In einem Zwiegespräch zwischen Gesine und dem toten Pius sagt er: »Aus Spaß, Gesine, das wäre mir zu wenig.« Sie: »Wo keine Liebe wächst, gedeiht die Sünde schlecht.« Pius: »Sag ihren Namen nicht, Gesine.« Sie: »Frag mich nicht nach Jakob.«
1591-1595 Am 21. Juli 1968, ihrem 11. Geburtstag, schreibt Marie an Anita Gantlik: »Gesine will D.E. heiraten. Im Herbst, wenn wir Prag hinter uns haben«. Sie beschreibt Anita ihre Geburtstagsgeschenke und erzählt ihr von einer Wohnung am Riverside Drive, fünf Zimmer im vierzehnten Stock, die D.E. offenbar für das künftige Zusammenleben zu kaufen oder zu mieten beabsichtigt und die sie an diesem Tag gemeinsam besichtigt haben (vgl. 1885-1886).
1601-1605 Im Herbst 1948 macht Gesine einen zweiten Versuch, Brüshavers Konfirmandenunterricht zu besuchen (vgl. 1456 f.), gerät aber erneut in Konflikte: »das mit der Ubiquität, sie könne es auswendig, sie werde es auf Verlangen vortragen, aber daran zu glauben, es mißlinge ihr«. Sie läuft davon und versteckt sich am Jerichower Marktplatz in einer »zerschlagenen, lichtlosen Telefonzelle, geschüttelt von keuchendem Weinen«. Cresspahl holt sie dort um die Abendbrotszeit ab, »führte sie ab wie ein Kind, einen Arm um ihre Schulter«, geht mit ihr ins Bruch, »wo nur Hasen und Füchse unbesorgt hören durften, daß ihr die leibliche Gegenwart Christi im Abendmahl kannibalisch vorkomme. Es war das letzte Mal, daß er sie hielt und führte wie ein Vater; von seinen Tröstungen hat sie die behalten, die sie freisprach: You gave him a chance. Versucht hast du's, Gesine.«
1605-1618 Über Anita Gantlik, die am 1. September 1948 in Gesines Klasse Neun A Zwei an der Fritz Reuter-Oberschule eintritt.
1619-1625 Gesines Erinnerungen an ihre Freundschaft mit Anita in den fünfziger und sechziger Jahren, darunter an einen Besuch bei der Freundin in West-Berlin, wohin Anita gleich nach dem Abitur 1952 gegangen war. »Zunächst gestanden wir einander, daß die eine der anderen gut bekommen war, seit vier Jahren schon.« Gesine erzählt ihr eine Nacht lang von Alexander Paepcke, »zum Trösten gut noch im Verstorbensein«. – Nach Jakobs Tod im Herbst 1956 »betrug Anita sich harsch zu mir [...]. Sie meinte, eine Anwesenheit auf dem Friedhof wäre mir nützlich gewesen.« – Anita konnte es Gesine nur mühsam verzeihen, dass sie aus der Kirche austrat, »kaum daß sie eine Lohnarbeit gefunden hatte«. – Vor ihrer Übersiedelung in die USA verbringt sie mit Marie ihren Urlaub bei Anita in Westberlin; sie soll Anitas Freund, den »Alten«, in Augenschein nehmen und Trauzeugin bei ihrer Hochzeit sein. – Als Gesine ihre Arbeit für die deutsche Bank in New York verliert (Dezember 1961), unternimmt sie für Anitas Fluchthilfeorganisation Reisen, um »Pässe auszuprobieren auf dem Weg von Prag nach Warnemünde, von Trelleborg nach Wien. Da hieß ich oft wie die Leute, denen ein Stück solchen Transits noch bevorstand, und schützte fremde Lebensalter vor, ganz wie Anita das erbat.«
1625-1635 Über Dr. Kliefoths Entlassung aus dem Amt des Direktors der Fritz Reuter-Oberschule im April 1950. Die sechzehnjährige Schülerin Cresspahl hat ein schlechtes Gewissen, weil die Schüler nicht gegen diese Entlassung protestiert haben. Sie vermeidet Begegnungen mit Kliefoth, der in Jerichow wohnt.
1635-1644 Am 16. Juli 1968 schreibt Gesine einen Brief an Jonas Blach, in dem sie ihm die Freundschaft kündigt, weil er sich mit dem von ihr erbetenen (vgl. 1393), dann aber doch nicht veröffentlichten Beitrag zu einer Festschrift »Erinnerungen erschwindelt« hat, die er nun vor Freunden in der DDR vorliest: »du gehst da umher in deinem Lande mit unseren Erinnerungen an dich, dem Nachruf, den du dir erschwindelt hast, damit du schon zu Lebzeiten erfährst, was wir aufbewahrt haben und wert gehalten an dir. Wir hören: du liest das vor, in jeweils vertrautem Kreise, als Bitte um Mitleid für deine schlimme Lage.« Gesines Konsequenz: »Wir leugnen, dich zu kennen. Nie haben wir dich gekannt. […] Dir sagen wir Schluß und Niemals und Aus.«
1647-1657 Am 27. Juli 1968 erzählt Gesine ihrer Tochter die Geschichte von dem ›Badeanzug-Streit‹ mit Bettina Selbich an der Fritz Reuter-Oberschule in Gneez im Mai 1950: Als Bettina Selbich, seit Kliefoths Entlassung kommissarische Schulleiterin, entdeckt, dass Gesine Cresspahl ihren Badeanzug am offenen Klassenfenster zum Trocknen aufgehängt hat, beleidigt sie sie mit anzüglichen Unterstellungen. Es entstehen Gerüchte, die den Vorfall aufbauschen, und da die Schüler nichts unternehmen, um die Dinge richtigzustellen, schlägt die Geschichte sehr zu Bettina Selbichs Nachteil aus: Ihre Zugehfrau Oma Rehse sagt ihr ihre Dienste auf, ihr Vermieter versucht ihr zu kündigen, Mülleimer werden im Treppenhaus so hingestellt, »daß Bettina ein bißchen hinfiel«, und die von Jakob informierten Eisenbahner kontrollieren die Reisende Selbich »mit offen gezeigtem Verdacht«. – Danach hängt der Badeanzug zum Trocknen beim Hausmeister: »Sichtbarlich am Rande des Schulhofs. Die Cresspahl-Gedenkstätte«.
1657-1662 Vor dem Pfingsttreffen der FDJ in Berlin im Sommer 1950 leihen Gesine und Pius Pagenkopf bei Horst Stellmann in Jerichow eine Kamera, mit der Pius dann Bettina Selbich bei einem heimlichen Besuch in Westberlin vor einem Schuhgeschäft fotografiert. Mit dem Foto haben Gesine und Pius sie in der Hand (machen aber keinen Gebrauch davon).
1663-1668 Am 29. Juli 1968 wird in die Cresspahlsche Wohnung am Riverside Drive 243 eingebrochen. Dabei werden unter anderem auch das Tonbandgerät und die Tonbandkassetten mit Gesines Erzählungen gestohlen, »die eben erst übermorgen angestanden hätten zum Versand an den Tresor eines Bankhauses in Düsseldorf«.
1669-1680 Am ersten Schultag nach dem Pfingsttreffen der FDJ 1950 ist die Fritz Reuter-Oberschule in Gneez bepflastert mit Flugblättern gegen die FDJ, »darauf kann man deutsche freie junge Menschen marschieren sehen hinter und unter Stacheldraht«. Die Schüler müssen in ihren Klassen bleiben und werden einzeln von Kommissaren der Staatssicherheit verhört. Anita Gantlik spielt Gesine einen Zettel zu mit der Information, dass die Stasi sie verdächtigt, an der Flugblattaktion beteiligt zu sein. »Das war geschickt, Anita. Sollst bedankt sein abermalen.«
1681-1685 Über die personellen Veränderungen an der Fritz Reuter-Oberschule zu Beginn des Schuljahres 1950/51: Bettina Selbich wird durch Direktor Kramritz abgelöst, Mathias Weserich beginnt sein Schulpraktikum an der Schule, Frau Dr. Gollnow wird zum Bedauern der Schüler Gantlik, Cresspahl und Pagenkopf pensioniert und durch ›das böse Auge‹ Eberhard Martens ersetzt, die Abiturienten Sieboldt und Gollantz geben ihre Ämter in der Zentralen Schulgruppenleitung der FDJ ab, Sekretär der ZSGL wird Dieter Lockenvitz und Gabriel Manfras Erster Vorsitzender.
1687 Im November 1950 wird Gesines Großvater Albert Papenbrock bei den Waldheim-Prozessen zum Tode verurteilt und hingerichtet.
1689-1690 Im Dezember 1950 wird Gesines Vater mit Aggie Brüshavers und Dr. Schürenbergs Hilfe arbeitsunfähig »in die Rente« geschrieben. – Jahreswechsel 1950/51: »Im Jahre 1950 wurde zum ersten Mal seit 1937 in Cresspahls Haus das Silvester begangen. Es gab keine Karpfen, aber Jakob brachte Krebse. [...] Zum ersten Mal waren wir, in ungenauer Art, eine Familie in Cresspahls Haus.« Bei den Vorbereitungen des Essens ist Gesine abgelenkt, denn »am Fenster führte Jakob ihr eine halbe Stunde lang vor, wie ein junger Mann von zweiundzwanzig Jahren sich rasiert zur Feier eines Abends«.
1694-1707 In Gesines Klasse Elf A Zwei liest Mathias Weserich mit den Schülern Fontanes »Schach von Wuthenow«. Die intensive Arbeit an der Erzählung nimmt ein jähes Ende, als Dieter Lockenvitz nach den Osterferien 1951 eine Zeitschrift (»Sinn und Form«) mitbringt, in der »der amtierende Fachmann für sozialistische Theorie in der Literatur« (d.i. Georg Lukács) einen Aufsatz über »Schach von Wuthenow« veröffentlicht hat, der Weserichs akribische Arbeit zunichte macht mit der Behauptung, die Erzählung sei ein bloßes »Geschenk des Zufalls«. Weserich bleibt der Schule für eine Woche fern. »Der zurückkam, dem waren wir widerlich.« Er setzt die »Schach«-Lektüre ab, für den Rest des Schuljahres »raste er mit dieser Klasse durch den Roman ›Frau Jenny Treibel‹« und lässt sich nicht mehr auf Gespräche ein. »Der Ofen war aus.« Gesine resümiert: »wir hatten bei ihm das Deutsche lesen gelernt.«
1709 Gesine und Marie verbringen den Vormittag des 3. August 1968 mit den Blumenroths an der Jones Beach. Mr. Blumenroth beobachtet Gesine mit »Seitenblicken, die uns erinnern sollten an unsere Sitzungen vor der Bar des Hotels Marseille; Mrs. Blumenroth hatte ihre liebe Not, die Darbietungen ihres Mannes zu übersehen. Und damit es ihm zu sagen verwehrt sei, sprach sie selber aus: Auf den Busen können Sie sich was einbilden, Mrs. Cresspahl.« Gesine denkt: »Die würde ein deutsches Kind annehmen als Tochter zum Pflegen.« – Am Nachmittag beobachtet sie Anselm Kristlein mit seiner Tochter im Riverside Park.
1713-1721 Im Oktober 1950 werden Sieboldt und Gollantz, inzwischen schon Studenten in Rostock, angeklagt, für die Flugblattaktion an der Fritz Reuter-Oberschule nach Pfingsten (vgl. 1669-1680) verantwortlich zu sein. Am 30. Oktober wird die Gerichtsverhandlung in der Aula der Fritz Reuter-Oberschule abgehalten, zu der die Schüler, darunter auch Gesine Cresspahl, als Zuschauer antreten müssen. – Im Juni hatte Pius Pagenkopf Gesine ein Exemplar des Flugblatts gezeigt, was streng verboten war: »Nachdem ich zu Ende gelesen hatte, hing zwischen uns ein Blick, solchen kriegst du im Leben, wenn es hoch kommt und gut gegangen ist, vielleicht drei Mal.« Marie ereifert sich: »An einem Handtuch trocknet ihr euch ab! Wand an Wand schlaft ihr! Aber vertrauen tut ihr einander erst, wenn du ihn ins Zuchthaus bringen könntest.« Gesine: »Seit dem Augenblick hatt ich noch einen Bruder.«
1721-1733 Gesine erzählt Marie die Geschichte ihres Mitschülers Dieter Lockenvitz, den sie und Pius Pagenkopf im Frühjahr 1950 in ihre »Arbeitsgemeinschaft« einluden.
1734-1735 Am 6. August 1968 bucht Gesine ihre Reise um: Sie will auf Anita Gantliks Vorschlag über Kopenhagen (statt Frankfurt) nach Prag reisen.
1739-1740 Gesine hat den Anwalt Josephberg beauftragt, ihr Testament zu ändern: Sie hatte Mrs. Blumenroth zur Erziehungsberechtigten ihrer Tochter Marie bestimmt. Nachdem Anita Gantlik ihr aber erklärt hat, dass sie bereit ist, »für Marie zu verzichten auf Reisen«, geht sie am 6. August 1968 zu Mr. Josephberg, um das entsprechend geänderte Testament zu unterschreiben.
1740-1741 Mr. Josephberg teilt ihr mit, das D.E. tödlich verunglückt ist. »Laut letztwilliger Verfügung von Herrn Dr. Dietrich Erichson ist Ihnen als erster Person Mitteilung zu machen für den Fall, daß er sterben sollte.« D.E. starb bei einem Flugzeugabsturz in der Nähe von Vantaa in Finnland am Samstag, 4. August 1968, um acht Uhr morgens in einer von ihm selbst geflogenen Cessna. Gesine ist seine Alleinerbin, seine Mutter hat in seinem Haus »Wohnrecht bis zu ihrem Ableben«. Gesine lässt sich von Mr. Josephbergs Sekretärin Frau Gottlieb zu ihrem Büro bringen.
1741-1745 Gesine Cresspahl allein in ihrem Büro mit Gedanken an D.E. – Telefonat mit Anita Gantlik, die aus Berlin anruft und fragt, ob sie nach Finnland fliegen solle: »Anita, der reiste mit einem Zettel, auf dem stand in den vier Weltsprachen: zu verbrennen am Ort des Todes ohne Gesang Ansprache Predigt Musik whatsoever. Weißt du, damit er mir keine unnötige Mühe macht mit seinem Tod«. – Gesine geht in D.E.'s Bar, die Bar von Wes, der ihr ein Taxi ordert. – Gesine in ihrer Wohnung. »Wenn man sich schminkt bis zur Ankunft von Marie und dann mit Blick aus dem Fenster sitzen bleibt; vielleicht läßt es sich überstehen.«
1745-1749 Gesine hat Marie nichts von D.E.'s Tod gesagt. Vizepräsident de Rosny gibt ihr unter einem Vorwand bezahlten Urlaub bis 19. August 1968. Mit der Post kommt ein letzter Brief von D.E., Gesine geht erneut in die Bar von Wes, um ihn zu lesen. Gesine zu Anita: »Was tut eine doppelte Witwe, die von ihren Beerdigungen beide verpaßt? Ich höre Musik«.
1751-1755 Gesine glaubt sich zu erinnern, dass sie und ihr Vater im Sommer 1950 eine Segeltour nach Dänemark gemacht haben: Weil Cresspahl an Emil Knoop »ein dänisches Geschäft gescho – vermittelt hatte, wird auch Gesine zum Begießen eingeladen auf ein Boot, eine Yacht im Hafen von Wismar«. – Im Sommer 1951 schickt Cresspahl sie zu den Niebuhrs nach Wendisch Burg, damit sie nicht mitbekommt, dass Jakob um ihretwillen »achtzehn Tage im Keller unterm Landgericht Gneez, wegen Körperverletzung« sitzt: Um ihren guten Namen gegen üble Nachrede zu verteidigen, hat er sich für sie auf der Stalinstraße in Jerichow geschlagen. – Sie erzählt Marie von zwei Liebschaften, die sie Anfang der fünziger Jahre in Westdeutschland hatte. Marie: »Und dann kam der auf den du die ganze Zeit gewartet hast.« Gesine: »Dann kam Jakob.«
1755 Spät in der Nacht vom 7. auf den 8. August 1968 Telefongespräch mit Anita: »Im Augenblick ist gerade das Schlimmste, daß D.E. von Jakob doch wußte. Daß ich einzig mit dem hab leben wollen, und ihn noch bei mir habe.«
1756-1758 Am 8. August 1968 fährt Gesine nach New Jersey, um D.E.'s Mutter die Todesnachricht zu überbringen.
1758-1766 Über Gesines Freund Pius Pagenkopf: Sein vorzeitiger Schulabgang 1951, die letzten gemeinsamen Wochen in der Schule, seine Karriere als Pilot und sein Tod 1964.
1766 Von dem Besuch bei Frau Erichson zurückgekehrt, findet Gesine eine traurige Marie vor: Ein Telegramm ist eingetroffen mit der Nachricht, dass D.E. einen Unfall gehabt hat. Urheberin des Telegramms ist Anita Gantlik: Um Marie behutsam auf die Nachricht von D.E.'s Tod vorzubereiten, schickt sie weitere Telegramme in D.E.'s Namen bis zur Abreise nach Prag (vgl. 1785, 1806, 1856).
1766-1770 Am 9. August 1968 kommt Annie Fleury mit ihren drei Kindern aus Finnland zurück, um wieder zu ihrem Mann in Vermont zu ziehen. Sie macht Station in New York, wohnt aber nicht bei Gesine, sondern in einem teuren Hotel, in das sie Gesine und Marie einlädt. Beide begleiten sie nach Vermont.
1777-1785 Von der elften Klasse an (Schuljahr 1950/51) ist die Schule für Gesine Cresspahl, Pius Pagenkopf, Dieter Lockenvitz und Anita Gantlik »eine einzige Angstpartie«, weil Gabriel Manfras seine Mitschüler bespitzelt.
1789-1805 Im Oktober 1951 verschickt Dieter Lockenvitz anonyme Briefe mit seiner Liste von Opfern der Mecklenburgischen Justiz nach 1945 »an ausgesuchte Haushalte in Gneez, Mecklenburg, zwei auch in Jerichow«. Im Dezember 1951 wird er verhaftet. Am 2. Januar 1952 werden auch seine Mitschülerinnen Gesine Cresspahl, Anita Gantlik und Annette Dühr verhaftet. Gesine verbringt zehn Tage in »jener Villa im Komponistenviertel, in deren Kellern die örtliche Staatssicherheit die kurzfristigen Anlieferungen sortierte, bis sie reif waren zu einer Überstellung in die Straße der Geschwister Scholl zu Schwerin«. – Gesine erlebt den Prozess gegen Dieter Lockenvitz im Mai 1952 mit. Er bekommt 15 Jahre Zuchthaus. Gesine fühlt sich schuldig: »Den ließen wir allein.«
1806-1812 Am 12. August 1968 machen Gesine und Marie einen Ausflug nach Chicago, am 13. August fahren sie mit der U-Bahn auf die Halbinsel Rockaway im Süden von Queens. Unterwegs erzählt Gesine der Tochter von Jakobs Aufenthalt bei Tonja und Feliks in Olmütz im Herbst 1955.
1813-1826 Gesines drei Zeugnisse der Reife. Das erste war der letzte Besuch bei Lockenvitz am Tag seines Prozesses, 15. Mai 1952 (1824). Das zweite, vom 25. Juni 1952, »von den Lehrern, wie die es denn wollten«: Latein: 1, Englisch: 1, Russisch: 2, Musik: 2, Biologie/Chemie: 1, Mathematik/Physik: 1, Deutsch/Gegenwartskunde: 1. Das dritte Abitur: Die erneuerte Freundschaft mit Kliefoth in Jerichow, der ihr im Sommer 1952 Privatunterricht in Englisch gibt. »Das dritte Abitur, das soll gelten.«
1820-1822 Erinnerungen an einen Ausflug der Zwölf A Zwei zum Barlach-Haus am Inselsee von Güstrow im September 1951. Dort begründen Gesine und Anita Gantlik ihr Bündnis »auf dem Kamm des Heidberges, wo ein Abhang sich öffnet, güstrower Kindern wohlbekannt als Schlittenbahn, auch dem Auge freien Weg öffnend über die Insel im See und das hinter dem Wasser sanft ansteigende Land, besetzt mit sparsamen Kulissen aus Bäumen und Dächern, leuchtend, da die Sonne gerade düstere Regenwolken hat verdrängen können: welch Anblick mir möge gegenwärtig sein in der Stunde meines – Es ist uns schnuppe, ob dir das zu deftig beladen ist, Genosse Schriftsteller! Du schreibst das hin! wir können auch heute noch aufhören mit deinem Buch. Dir sollte erfindlich sein, wie wir uns etwas vorgenommen haben für den Tod. – Sterbens.«
1827-1845 Am 15. August 1968 fliegt Gesine mit Marie für einen Tag nach San Francisco zur Einstimmung auf den Europa-Flug und um Marie die Nachricht von D.E.'s Tod noch verschweigen zu können. Unterwegs erzählt sie von ihrem Weggang nach Halle zum Studium im Spätsommer 1952 und von dem Leben in Halle. – Um »gesellschaftliche Betätigung« nachweisen zu können, belegt sie einen Kursus im Rettungsschwimmen und lernt das Schießen mit einem Kleinkalibergewehr. – Ein Spitzel wird auf sie angesetzt. Jakob Abs besucht sie in Halle und vertreibt den Spitzel. – Über das Ende von Johnny Schlegels ›Kommune‹ und den Tod von Jakobs Fuchs im Mai 1953. – Im Frühjahr 1953 werden Gesine Cresspahls Gedanken an eine Flucht in den Westen konkret. Nach einer langen nächtlichen Diskussion mit ihrem Vater und Frau Abs besorgt Jakob ihr eine Fahrkarte nach Halle, die über Berlin führt. »›Ferien bei Anita‹ sollten es sein.«
1847-1849 »Am 9. Juni 1953 machte der Sachwalter der ostdeutschen Republik seiner Bürgerin Gesine Cresspahl einige Vorschläge, ihre Rückkehr unter seine Fuchtel betreffend.« Es geht um die an diesem Tag vom ZK der SED veröffentlichte Ankündigung einer Politik des ›Neuen Kurses‹ (vgl. dazu Jahrestage-Kommentar zu 1847, 21 f.).
1849-1855 Im Juni 1953 reist Gesine Cresspahl nach West-Berlin, wo sie zunächst in einer Villa im Grunewald bei dem Ingenieur Unterkunft findet, an den Cresspahl einst Dr. Semigs Schäferhund Rex verkauft hatte. Sie trifft sich mit Anita zum Schwimmen im Strandbad Wannsee. Sie ist sich durchaus noch nicht sicher, ob sie im Westen bleiben will. Auch noch nach dem Aufstand am 17. Juni 1953 in Ost-Berlin wäre sie »zurückgegangen, hätte nun jedermann von Gneez bis Halle sagen dürfen: wir haben gesehen, wer in diesem Lande regiert; die Sowjets«. Da das nicht der Fall ist, meldet sie sich im Juli 1953 in einem Flüchtlingslager (nach ihrer Erinnerung in Berlin-Marienfelde), wo sie D.E. zum ersten Mal begegnet. – Sie bricht das reguläre Aufnahmeverfahren als Flüchtling ab und erlangt mit Anitas Hilfe einen Westberliner Personalausweis. In der vorletzten Juliwoche 1953 fliegt sie nach Frankfurt am Main.
1856-1857 Am 17. August 1968 bekommt Gesine Antwort von dem deutschen Professor (Alexander Mitscherlich), dem sie am 12. Juli geschrieben hatte (vgl. 1538-1541).
1857-1864 In Westdeutschland angekommen, nimmt Gesine 1953 ein Studium an einer Dolmetscherschule »am linken Ufer des Rheins in einem Talgraben« (d.i. Germersheim) auf, das sie durch verschiedene Gelegenheitsarbeiten finanziert. »Rauchen fiel aus bis 1955.« – Am Tag ihrer Mündigkeit wird ihr das Vermächtnis Kollmorgens ausgehändigt, »ein Paar goldener Ringe«. Marie: »Trauringe. Aus dem Grab.« – Eine politische Heimat findet Gesine in der westdeutschen Parteienlandschaft nicht.
1864-1866 Nach dem Studium lebt sie als Angestellte der NATO (Amt für Manöverschäden bei Mönchengladbach) in Düsseldorf, zuerst in einem »möblierten Zimmer am Postamt Flingern-Nord«, dann in einer »abschließbaren Wohnung« in Düsseldorf-Bilk. Die Wohnung ist »ein ausgebauter Dachboden, ein weitläufiges Zimmer mit Kammer und Küche«. Hier besucht Jakob sie: »Was der Wohnung noch fehlte, als Jakob nach Düsseldorf kam, hat er verputzt, angeschraubt, verklebt, lackiert.«
1866-1868 Über Jakobs Besuch in Düsseldorf im Herbst 1956. Über seinen Tod im November 1956. Im Juli 1957 wird Marie geboren.
1869-1874 Über Cresspahls Besuche in Düsseldorf nach Maries Geburt. Er setzt Marie als Erbin seines Guthabens auf dem Konto der Bank von Richmond ein, richtet für Gesine, die zwischenzeitlich wieder zur Untermiete wohnt, eine »Gartenwohnung ein am Lohauser Deich« und bezahlt die Miete für ein Jahr im voraus, »da die Mutter noch einmal eine Lehre begann, in einer Bank; dem Kind zuliebe«. – Die Bank bietet ihr »zwei Jahre zur gehobenen Ausbildung [...] bei einer ›uns befreundeten‹ Bank in Brooklyn« an. Gesine akzeptiert, weil sie das politische Klima in der Bundesrepublik nicht erträgt. Vor allem zwei Dinge treiben sie aus dem Land: Das Fortbestehen antisemitischer Ressentiments, von denen sie sogar anzunehmen scheint, dass sie Dr. Semig das mühsam über die NS-Zeit gerettete Leben gekostet haben (vgl. 1872), und die Karriere von Franz Josef Strauß (vgl. 1872-1874).
1874-1875 Im April 1961 geht Gesine mit der vierjährigen Marie für ihre Düsseldorfer Bank nach New York. Marie: »Endlich sind wir angekommen, wo meine Erinnerung Bescheid weiß. Welcome home!«
1875-1876 Im Herbst 1962 stirbt Heinrich Cresspahl in Jerichow. »Amerika ist mir zu weit zum Denken. Fœundsœbentich is nauch.« [Vierundsiebzig ist genug.]
1876-1879 Schon im Dezember 1961 wird Gesine entlassen, weil sie eine Kundin vor einem schlechten Geschäft warnt. »Sie werden von uns bezahlt fürs Verkaufen!« – Während der Zeit der Arbeitslosigkeit unternimmt sie Reisen für Anita Gantliks Fluchthilfeorganisation (vgl. 1623). – 1962 stellt de Rosny sie an seiner Bank »trotz der Vorstrafe« ein, »weil sie sie zugab. Oder wegen der Natur des Vergehens.« – »1962 fand uns ein Prof. Dr. Dr. D. Erichson und trug eine Ehe an, nachdem er Marie zu kennen gelernt hatte«.
1880-1887 Gesine resümiert im weiteren Ereignisse der Jahre 1963 bis in die Gegenwart des 19. August 1968, an dem Mr. Robinson sie fragt, ob sie ihre Wohnung aufgeben will: »Auf was für Einfälle Sie kommen, Mr. Robinson [...]. Am Klingeln des Telefons können Sie hören, daß wir ein Lebensrecht behalten möchten am Riverside Drive.«
1888-1891 Auf dem Weg nach Prag machen Gesine und Marie Cresspahl am 20. August 1968 auf Anita Gantliks Wunsch einen Zwischenstopp in Dänemark (vgl. 1735). In einem Badehotel an der dänischen Küste treffen sie Julius Kliefoth. An diesem Tag liest Gesine Cresspahl keine Zeitung.
Gesines zweiter Vorname wird S. 298 (»Gesine Lisbeth«) und S. 1519 (»Gesine L.«) erwähnt. – Gesine Cresspahl ist neben Jakob Abs, Jonas Blach und Hauptmann Rohlfs eine der Hauptfiguren in »Mutmaßungen über Jakob« (1959). – In »Karsch und andere Prosa« (1964) agiert sie neben Jakob Abs in der Geschichte »Osterwasser« (K 7-17), ist in »Beihilfe zum Umzug« Grete Selenbinder bei der Ausreise in den Westen behilflich (K 18-22) und erscheint in »Geschenksendung, keine Handelsware« als unermüdliche Versenderin von Päckchen mit westlichen Waren an alte Jerichower Bekannte (K 23-38). – In »Begleitumstände« (1980) befasst Johnson sich ausgiebig mit seiner Figur (vgl. B 124, 299-302, 405-425 u.ö.)